Gehört der Islam zu Deutschland?

Warum Religionsfreiheit keine geografischen Grenzen kennt

Gehört der Islam zu Deutschland? Was wie eine nüchterne Informationsfrage klingt, ist derzeit eine hoch politische Frage. Ein Ja oder Nein auf diese Frage ist zum „Schibboleth“ geworden, an dem Freund oder Feind unterschieden wird - je nachdem, aus welchem politischen Lager heraus sie gestellt oder beantwortet wird. Es ist klar, dass es hier allenfalls äußerlich um historische Analysen geht. Dabei ist die Frage höchst heimtückisch formuliert. Ihre Gemeinheit wird am deutlichsten, wenn man sie testweise in einen anderen kulturellen Kontext transferiert.

In China

Gehört das Christentum zu China? So könnte man dieselbe Frage in abgewandelter Form stellen. Derzeit gibt es in China offiziell 19 Mio., inoffiziell zwischen 30 und 80 Mio. Christen, die - zum Teil im Untergrund - dort ihren Glauben leben. Dies entspricht einem Anteil von 1,4 bis 5,9 % der Bevölkerung.
Was soll nun solch eine Frage eigentlich aussagen? Ist sie eine historische Frage? Dann wäre sie klar mit „Nein“ zu beantworten, denn das Christentum ist nicht in China entstanden. So, wie der Islam auch nicht in Deutschland entstanden ist. Aber das weiß eigentlich jeder. Das wäre weder ein Grund für eine Frage noch für eine politische Auseinandersetzung. Es geht also eigentlich nicht wirklich um historische Fragen. Im Kern zielen sie auf Aussagen der Akzeptanz bzw. Nicht-Akzeptanz, um damit jeweils eine bestimmte Klientel zufrieden zu stellen. Es geht also nicht (nur) um abstrakte Religionen, sondern es geht um konkrete Menschen. Die historische Frage ist lediglich eine Krücke, um eine negative Antwort auf eine ganz andere Frage zu suggerieren, nämlich um die Frage: „Dürfen Christen in China leben?“ bzw. „Dürfen Muslime in Deutschland leben?“ Ein direktes Nein darauf erfordert weitaus mehr Mut, als der Rekurs auf die historische Offensichtlichkeit, aber aus Feigheit wird die Geschichte vorgeschoben. Dabei ist das eine absolut unsachliche Verknüpfung.

Arteigene Religion?

Historisch ist das Christentum ebensowenig in Deutschland entstanden wie der Islam. Jesus wurde nicht in Berlin gekreuzigt, sondern in Jerusalem. Seine Anhänger waren Semiten mit geringer griechischer Bildung. Das Christentum ist durch Einwanderung und Mission nach Deutschland gekommen. Es gibt durchaus Neuheiden und rechtsextreme Gruppen, die das Christentum mit genau dieser Argumentation ablehnen. Sie meinen, jedes Volk habe seine der eigenen Art entsprechende Religion, die gleichsam mit dem Blut verknüpft ist. Darum müssten die Deutschen den germanischen Göttern huldigen und nicht den judäo-christlichen Schwächegottheiten.

Ethnopluralismus

Derartige Konzepte werden mit dem Begriff des „Ethnopluralismus“ schöngeredet. Der klingt wie eine Bejahung des ethnischen Pluralismus, meint nun aber gerade nicht das Eintreten für eine Vielfalt des Zusammenlebens unterschiedlicher Völker an einem Ort. Er steht für das Gegenteil: die Bewahrung der Eigenheiten der Völker (und ihrer Religionen) durch gegenseitige Trennung in unterschiedliche Siedlungsgebiete und möglichst große innere Homogenität.

Hinter der Frage, ob eine Religion „zu“ einem bestimmten Land „gehöre“, steckt im Hintergrund letztlich immer ein solches „ethnopluralistisches“ Denken, das unterschiedlichen völkisch/kulturell/religiös abgegrenzten Menschengruppen bestimmte geografische Räume zuweisen will – mit der Konsequenz, dass diese in andern Räumen eben nichts zu suchen hätten, weil sie dort eben nicht hin „gehören“.

Religionsfreiheit

Ein solches auch die Religion umfassendes Konzept des Ethnopluralismus kollidiert grundsätzlich mit dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit. Religionsfreiheit bedeutet, dass jeder Mensch das Recht hat, gemäß seinen eigenen inneren religiösen Überzeugungen zu leben. Zu diesem Grundrecht gehört es sowohl, zu keiner fremden Religionsausübung gezwungen werden zu dürfen (passive bzw. negative Religionsfreiheit). Ebenso gehört dazu, seinem Glauben allein und mit anderen auch öffentlich sichtbar Ausdruck zu verleihen (Kultusfreiheit), mit anderen darüber zu sprechen (Bekenntnisfreiheit) und ihn auch weiter zu verbreiten zu können (aktive bzw. positive Religionsfreiheit).
Dieses Recht ist ein Menschenrecht. Das bedeutet, es soll dem Grundsatz nach in China ebenso wie in Deutschland gelten.

Keine abgegrenzten Territorien

Daraus folgt als direkte Konsequenz, dass es grundsätzlich keine abgesteckten Territorien auf dieser Erde gibt und geben kann, die bestimmten Religionen vorbehalten sind. Jeder Mensch hat das Recht, sich an jedem Ort dieser Erde zu seinen Überzeugungen zu bekennen. Deshalb haben auch die Christen in China das gleiche Recht, dort ihren Glauben zu leben, wie die Buddhisten oder die Konfuzianer. Daher gehört das Christentum auch zu China. Wo dies nicht akzeptiert wird, ist es ein Unrecht und ein Verstoß gegen das Prinzip der Religionsfreiheit.

Das Christentum hat in seiner Geschichte niemals geografische Beschränkungen akzeptiert. Es kann dies auch seinem Wesen nach nicht. Der Glaube, dass Christus zur Erlösung für alle Menschen gestorben und auferstanden ist, verlangt nach der Verkündigung dieser Botschaft an alle Menschen. Deshalb gibt es auch Christen in China.

In ähnlicher Weise wissen sich auch der Islam und der Buddhismus oder z.B. die Bahai-Religion im Prinzip an alle Menschen gerichtet. Auch sie können geografische Beschränkungen ihrer Missionstätigkeit allenfalls pragmatisch hinnehmen - aber nicht ohne sie als ungerechtfertigte Einschränkung der Religionsfreiheit zu empfinden und zu beklagen.

Wenn nun das Christentum zu China gehört, dann gehört in der Konsequenz logischerweise auch der Islam zu Deutschland, weil und sobald hier Muslime leben. Ebenso gehört das Christentum zur Türkei und der Buddhismus zu Saudi-Arabien. Dies ist keine Frage der Wahrheit der Religionen, sondern eine Frage der Menschenrechte.

Religionskritik

Die grundsätzliche Akzeptanz der Religionsfreiheit beinhaltet nun freilich nicht, auch alle problematischen Auswüchse aller Religionen klaglos hinnehmen zu müssen. Im Gegenteil: Zu den Freiheitsrechten gehört ebenso das Recht, auch Religionen zu kritisieren. Insbesondere dort, wo im Namen der Religion andere elementare Freiheitsrechte eingeschränkt werden sollen, ist Widerstand nicht nur erlaubt, sondern geboten. Konstruktive Kritik ist allerdings immer daran zu erkennen, dass sie verbessern will und nicht vernichten. Wo das Lebensrecht einer ganzen Weltreligion verneint werden soll, ist die Schwelle von der legitimen Kritik zur Feindschaft überschritten.

Harald Lamprecht

 

 

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2016 ab Seite 16