Entleerte Hülse

Jugendweihe als ostdeutsche Familientradition

Die Jugendweihe ist im Osten Deutschlands nach wie vor sehr populär. Auch mehr als 20 Jahre nach dem Ende der DDR werden für tausende Jungen und Mädchen in der 8. Klasse Jugendweihefeiern organisiert. Dabei sind verschiedene Anbieter unterwegs, um auf dieses gesellschaftliche Bedürfnis zu reagieren. Mit Vertretern des Vereins „Jugendweihe Berlin-Brandenburg“ fand im Rahmen einer Tagung zur Glaubenskommunikation mit Konfessionslosen in Berlin-Spandau im Dezember 2012 eine aufschlussreiche Gesprächsgruppe statt.

Kein Atheismus

Die erste Überraschung bestand darin, dass einer der beiden Mitglieder des Vereins „Jugendweihe Berlin-Brandenburg“, die sich dem Gespräch und den Fragen der christlichen Teilnehmer stellten, keineswegs zu der vermuteten Gruppe der Konfessionslosen zählte. Statt dessen gehörte er zur katholischen Kirche und hatte sogar selbst in seiner Jugend aufgrund seiner aktiven Kirchenzugehörigkeit die Jugendweihe verweigert. Dass solch ein Mensch inzwischen als Mitorganisator von Jugendweihen auftritt, ist erstaunlich und erklärungsbedürftig. Es wird nur dann wenigstens ansatzweise nachvollziehbar, wenn man den speziellen Charakter des Jugendweihe Berlin-Brandenburg e.V. betrachtet. Dieser versteht sich entschieden nicht als programmatisch auf ein atheistisches Bekenntnis festgelegt, sondern möchte auf einer möglichst breiten und offenen Basis Jugendarbeit betreiben.

Als vor einigen Jahren der Dachverband „Jugendweihe Deutschland“ eine inhaltlich-strategische Kooperation mit dem Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) einging, war das für den Mitgliedsverband in Berlin-Brandenburg eine Stunde der Entscheidung. Die dezidiert atheistisch ausgerichtete ideologische Komponente des HVD, die dieser in die Jugendweihen des viel breiter aufgestellten Trägers „Jugendweihe Deutschland“ einbrachte, wollte man bei Jugendweihe Berlin-Brandenburg mehrheitlich nicht mittragen. Die Konsequenz war der Austritt aus dem Dachverband „Jugendweihe Deutschland“. Seitdem ist das besondere Profil der Jugendweihen dieses Anbieters, dass sie kein besonderes Profil haben – kein christliches, aber eben auch kein atheistisches. Sie sind Anbieter für ein Ritual, das als reines Ritual und Feieranlass gewünscht wird, und zwar ohne weitergehende Einbindung oder höhere Bedeutung.

Warum Jugendweihe?

Die Gründe, warum so viele Menschen immer noch eine Jugendweihe wollen, obwohl sie nichts Äußeres dazu treibt, werden auf verschiedenen Ebenen gesehen:
•Der erste Grund erscheint ebenso banal wie wirksam – damals wie heute: Wenn vor zwei Jahren der große Bruder Jugendweihe hatte und dabei 150 Mark bekommen hat, dann will der kleine Bruder das natürlich auch haben. Für die Jugendlichen ist eine solche pecuniäre Motivation durchaus zugkräftig, zumal sich die potenziell zu erwirtschaftenden Beträge seitdem nicht nur der Inflation angepasst haben. Dazu kommt allgemein der Aspekt der Wertschätzung: Einmal selbst im Mittelpunkt eines großen Festes zu stehen, das familiär hoch priorisiert ist, bedeutet eine Aufwertung, die man sich nicht ohne Not entgehen lässt. Daneben verblasst sogar die Anreise auch ungeliebter Verwandtschaft zur zu vernachlässigenden Nebensache.
•Das gilt übrigens auch sehr stark generationenübergreifend: Weil sie selbst eine Jugendweihe erlebt haben, die – staatliche Ideologie hin oder her – doch insgesamt als schönes Fest in Erinnerung geblieben ist, wollen viele Eltern das auch für ihre Kinder in dem jeweiligen Alter. Folglich haben die Eltern die Jugendweihe ihrer Sprösslinge in der Regel schon längst organisiert, bevor sie überhaupt in den gedanklichen Fokus der Kinder gerät.
•Ein dritter Aspekt ist in seiner Wirkung auch nicht zu unterschätzen: Man möchte kein Außenseiter sein. Nach wie vor ist es so, dass in sehr vielen Fällen geschlossene Klassenverbände zur Jugendweihe antreten. Es ist nach wie vor allgemein üblich, dass die dafür nötige Koordination in den Schulen im Zusammenhang der Elternabende stattfindet. Nur wird dies eben jetzt (meist) nicht mehr von den Lehrern, sondern mehr oder weniger im Anschluss an die Elternabende von den Eltern selbst organisiert. Wenn dort alle aus der Klasse dabei sind, will man sich nicht ausklinken.

Was geschieht?

Der Ablauf einer Jugendweihe, wie er von „Jugendweihe Berlin-Brandenburg“ organisiert wird, besteht ausschließlich aus einer „Feierstunde“ von ca. 90 Minuten Dauer, bei der das Programm einer klaren Dramaturgie folgt. In einer Aufwärmphase gibt es mehrere musikalische und künstlerische Beiträge (Musiker, Schriftsteller, Bands, Breakdance, Streetdance), wobei ein professioneller Moderator die ganze Zeit durch das Programm führt. Nach ca. 40 Minuten folgt dann die Festrede von etwa 10 Minuten Dauer, wobei der Redner (gern werden auch Lokalpolitiker gebeten, sofern sie sich des Wahlkampfes enthalten) in seiner Themenwahl inhaltlich frei ist. Dem schließt sich die eigentliche „Weihe“ an, die faktisch darin besteht, dass die Jugendlichen namentlich aufgerufen werden und vom Festredner mit Händedruck eine Urkunde überreicht bekommen. Darin steht „N.N. hat am X. X. die Jugendweihe erhalten.“ Dazu bekommen die Jugendlichen ein Buchgeschenk (nicht mehr „Weltall-Erde-Mensch“, sondern ein Buch zur Umweltthematik). Es gibt keine weiteren Statements der Jugendlichen, keine Verpflichtungen, keine Zusprache jenseits allgemeiner Aussagen zum Erwachsenwerden und zur kommenden Verantwortung, welche die Redner üblicherweise thematisieren. Allenfalls die Anredeform des Moderators wechselt, indem er vorher von den „Kindern“ sprach und nun die „Jugendlichen“ als „junge Erwachsene“ anspricht. Dieses Event sei vor allem für die Eltern von Bedeutung, die vielfach große emotionale Rührung bekämen, berichten die Veranstalter. Wenn die Jugendlichen mit ihren Urkunden wieder Platz genommen haben, fällt die Anspannung ab. Daran schließt sich nun ein lockerer Programmteil von ca. 40 Minuten an, der als Stimmungsanheizer zur privaten Party in den Familien verstanden werden kann, die in der Regel auf den gemeinsamen Festakt folgt.

Die Teilnehmer

Die Jugendweihe ist ein Initiationsritual für alle, die sonst keins bekommen. Zunehmend ist der Anteil von Vietnamesen und Muslimen sowie von russlanddeutschen Spätaussiedlern. Bei diesen Bevölkerungsgruppen läuft die Motivation dazu vermutlich primär über den Klassenverband: Integrationsbereitschaft zeigt sich eben auch darin, die Rituale mitzumachen, die zum Leben in dieser Gesellschaft offenbar dazu gehören. So richtet sich die Teilnehmerzusammensetzung in erster Linie nach dem Schulzuschnitt. Markant ist auch die geografische Verteilung: Die von Jugendweihe Berlin-Brandenburg organisierten Feiern finden allesamt im ehemaligen Ostteil statt. Den Veranstaltern ist dabei größtmögliche Offenheit wichtig. „Bei uns kann jeder mitmachen, egal ob Buddhist oder Pastafari.“ erklären sie in der Gesprächsgruppe.

Vereinstätigkeit

Neben den Jugendweihen bietet der Verein einen Katalog mit Veranstaltungen der Jugendarbeit an, wobei die Teilnahme daran aber völlig freigestellt und nicht mit den Jugendweihefeiern verknüpft ist. Es gibt also keine Vorbereitungskurse wie bei anderen Jugendweiheanbietern oder wie beim Konfirmandenunterricht. In der offenen Jugendarbeit werden Themen wie die Freiheitlich-demokratische Grundordnung, Rechte und Pflichten beim Übergang in die Mündigkeit, Berufsorientierung behandelt und z.B. Diskussionsrunden zum Umgang mit Rechtsradikalismus organisiert. Zum Verein selbst gehören ca. 80 Mitglieder. Dessen Nachwuchs rekrutiert sich in der Regel nicht aus den Jugendweiheteilnehmern, weil dies nur ein einmaliges Event ist, aus dem keine weitere Verbindung erwächst, sondern eher aus den Teilnehmern an den Angeboten der Jugendarbeit. Für die Jugendweihen gibt es keinen festen Kundenstamm im eigentlichen Sinn, weil es jedes Jahr neue Kunden sind, die für ihre Kinder diese Veranstaltung wünschen. Für die Feier bezahlen sie 110 €, die zu 80% in die Organisation (Raummiete, Künstlergagen etc.) fließen und von dem Überschuss werden zwei Bürokräfte in der Verwaltung des Vereins bezahlt. Bislang liegen für 2013 bereits 3500 Anmeldungen für Jugendweihefeiern vor. Als gemeinnütziger Verein ist Jugendweihe Berlin-Brandenburg nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet.

Mit Bekenntnis

In gewisser Weise ist „Jugendweihe Berlin-Brandenburg“ eine Ausnahme in der Jugendweihelandschaft. Der HVD vertritt ein anderes Konzept. Dessen Jugendweihen enthalten ein atheistisches Bekenntnis. Weil der HVD aber deutlich weniger Teilnehmer an seiner Form der Jugendweihe hat, wird sie in Berlin nur als ein zentrales Event im Friedrichstadtpalast durchgeführt. Etliche andere kleinere Mitgliedsverbände von Jugendweihe Deutschland sind durch die Kooperation mit dem HVD zugrunde gegangen, wird uns berichtet.

Das ideologisch gefasste Bekenntnis zum Atheismus ist offenbar doch von einer Mehrheit der Eltern nicht gewünscht. Zugleich halten sie an einem Ritual fest, das durch die Geschichte hochgradig belastet ist. Von der DDR-Führung wurde die Jugendweihe als Kampfinstrument gegen die Kirchen und gegen die Konfirmation bzw. Firmung etabliert und mit massivem Druck und starken Repressionen durchgesetzt. Davon will man sich heute nicht mehr die Feierlaune verderben lassen. Umso mehr bleibt es als Phänomen erstaunlich, dass ein solchermaßen sinnentleertes Ritual dennoch so großen Zuspruch genießt. Konfirmation und Firmung haben ihren tieferen Sinn darin, dass sie das eigene bewusste Ja zur Taufe und zum christlichen Glauben ausdrücken sollen. Selbst die als sozialistische Gegenveranstaltung zur Konfirmation konzipierte Jugendweihe hatte in analoger Weise ihren Bekenntnisinhalt im Gelöbnis zur Treue zum sozialistischen Staat. Auch die Jugendweihe des HVD hat ihr Bekenntnis, wenn auch nicht das des Glaubens an Gott, sondern an den Glauben, dass es keinen Gott gebe. Das lässt sie zur weltanschaulichen Konkurrenz werden, weshalb die Leitlinien des kirchlichen Lebens der VELKD auch eine Unvereinbarkeit von Jugendweihe und Konfirmation feststellen.1 Eine innere Stimmigkeit im Rahmen des jeweiligen weltanschaulichen Konzeptes kann man all diesen Formen unabhängig von deren religiöser Beurteilung aber nicht völlig absprechen.

Inhaltsleer

Eine solche innere Logik fehlt den populären Formen der Jugendweihefeierkultur. Sie sind entleerte Hülsen der Tradition, über deren Selbsterhaltungskräfte in einer sich ansonsten wandelnden Gesellschaft man nur staunen kann. Dass der Verein „Jugendweihe Berlin-Brandenburg“ bei seinen Angeboten der offenen Jugendarbeit durchaus inhaltliche Akzente setzen und z.B. zur Identifikation mit der demokratischen Gesellschaft anleiten will, ist lobenswert. Mit den Jugendweihefeiern hat das aber erklärtermaßen nichts zu tun. Hier „erhalten“ die Jugendlichen per Urkunde und Händedruck eine „Weihe“, die quasi im luftleeren Bereich hängt und letztlich auch nichts bedeutet. Zu ihrer Verteidigung führen unsere Gesprächspartner an, dass sie doch nur auf ein gesellschaftliches Bedürfnis reagieren. Die Menschen wollen die Jugendweihe, und sie wollen sie mehrheitlich genau so: unverbindlich, ohne Einbindung, ohne Begleitprogramm, ohne Mitgliedschaft, ohne Bekenntnis.

Fazit

Was lässt sich daraus für die kirchliche Arbeit rings um die Konfirmation ableiten? Zunächst zeigt der anhaltende Erfolg der Jugendweihe, dass es ein ungebrochen starkes Bedürfnis nach Ritualbegleitung an bestimmten Punkten der biografischen Entwicklung gibt.

Weiterhin kann man daran eindrücklich den stablilisierenden Faktor einer gesellschaftlichen Normalität studieren, den kirchliche Angebote (im Osten Deutschlands) weithin verloren haben.

Die weithin als selbstverständlich hingenommene Organisation der Jugendweihefeiern im Zusammenhang schulischer Elternabende regt dazu an, hier Fairniss und Gleichberechtigung walten zu lassen und an dieser Stelle die Konfirmation stärker als bisher zur Sprache zu bringen. Eine analog zur Jugendweiheorganisation durch Eltern vorgetragene offene Einladung zum Konfirmandenunterricht sollte mehr zur Normalität werden.

Eine solche unverbindliche leere Hülse kann und will die Konfirmation allerdings nicht sein. Der Anpassung an die Bedürfnisse einer postmodernen Feierkultur sind inhaltliche Grenzen gesetzt. Dies kann sich aber als ein Vorteil erweisen, denn die innere Stimmigkeit eines Rituals ist auf lange Sicht nicht jedem egal.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://www.confessio.de/index.php/artikel/293

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 4/2012 ab Seite 14