Video und Umfrage zum Gemeinschaftsentzug

Der Gemeinschaftsentzug ist in der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas ein oft gebrauchtes Mittel, um die innere Disziplin aufrecht zu erhalten und die Vorgaben der Gemeinschaftsleitung im Blick auf das Verhalten der Mitglieder durchzusetzen. Insbesondere gehört dazu, mit sogenannten „Abtrünnigen“ keinen Kontakt mehr zu pflegen. Dazu gehören insbesondere Personen, welche die Gemeinschaft verlassen haben oder ausgeschlossen wurden.

Im Wachtturm vom 15. April 2015 wurden diese Anweisungen noch einmal erneuert. So heißt es dort: „Alle in der Versammlung können grundsatztreue Liebe zum Ausdruck bringen, indem sie sich weder mit dem Ausgeschlossenen unterhalten noch mit ihm Umgang haben (1. Kor. 5:11; 2. Joh. 10, 11). Dadurch unterstützen sie die Zuchtmaßnahme, die eigentlich von Jehova kommt.“ Das gilt ausdrücklich auch für Familienmitglieder, die angeblich „ihre Liebe zur Versammlung und zum Missetäter zeigen, wenn sie den Gemeinschaftsentzug respektieren.“1 Solange der Ausschluss besteht, dürfen also nach den Regeln der Gemeinschaft auch Eltern keinen Kontakt zu ihren Kindern pflegen. Dass sich nicht alle Eltern an diese Vorgaben halten, ist für die Gemeinschaft offenbar Anlass, den Druck in diese Richtung zu erhöhen. In einem Video von einem Kreiskongress der Zeugen Jehovas berichtet ein Ehepaar, wie es jeden Kontakt zu einem seiner Kinder abgebrochen hat, weil dieses vom rechten Glauben abgefallen war.2 Die Mutter erklärt in dem Interview, sie wäre bereit, für ihre Kinder zu sterben, aber wenn sie die Zeugen Jehovas verließen, wäre sie nicht mehr für sie da. Das Video hat sich in den sozialen Medien viral verbreitet.

Eine Liste der Gründe, die Strafmaßnahmen hervorrufen und letztlich mit Gemeinschaftsentzug geahndet werden können, wurde kürzlich im Internet veröffentlicht.3 Dazu gehören - neben Totschlag und Diebstahl u.a. auch extreme körperliche Unsauberkeit, die als „Apostasie“ bezeichnete Teilnahme an „falschen“ religiösen Feiertagen oder die Teilnahme an interreligiösen Aktivitäten. Sexueller Missbrauch von Kindern steht in dieser Liste auf dem gleichen Level wie der fortgesetzte Kontakt mit nichtverwandten Ausgeschlossenen.

Eine amerikanische Umfrage unter ehemaligen Zeugen Jehovas hat die Intensität und Folgen der Praxis des Gemeinschaftsentzuges untersucht. Für die Umfrage wurden 1055 Erwachsene in den USA, Australien, Kanada, Großbritannien und Deutschland befragt. 76% der ehemaligen Zeugen Jehovas waren von Gemeinschaftsentzug betroffen. Auf die Frage nach der Intensität des Kontaktabbruches gaben 59% an, dass die Vorgaben strikt befolgt wurden: keinerlei Kontakt. Hin und wieder fanden bei 22% Kontakte statt, regelmäßig aber selten bei 5%, und nur wenn nötig bei 17%.

65% der Befragten äußerten, dass der Gemeinschaftsentzug ihre Familie zerstört oder ernsthaft zerrissen habe. Gerechtfertigt wurde die Maßnahme damit, dass die „Abtrünnigen“ Jehovas Zeugen verlassen hätten (90%) und die Erwartung bestand, sie mit dem Druckmittel des Gemeinschaftsentzuges zur Besinnung und zurück zur Gemeinschaft von Jehovas Zeugen zu bringen (59%). 4

Ganz auf dieser Linie liegt auch das scheinbare Happy-End des Video-Interviews vom Kreiskongress: Der Sohn kehrte zurück. Aber nicht Einsicht oder Umkehr, nicht neue religiöse Erkenntnisse oder die wiederentdeckte Liebe zu Jehovas Organisation brachten ihn zurück, sondern - das gibt die Mutter ganz unumwunden zu - das Leiden am fehlenden Kontakt. Das ist - so analysiert es auch die Informationsstelle InfoSekta in einem Kommentar5, nichts anderes als emotionale Erpressung. In dieser harten Form stellt sie eine kollektive Missachtung der Religionsfreiheit dar, weil die religiöse Entscheidung der Ausgetretenen nicht akzeptiert, sondern mit solch extremen sozialen Druckmitteln verfolgt wird.

HL

 

Artikel-URL: https://www.confessio.de/news/826

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2015 ab Seite 03