Religion als Projektion

Warum Feuerbachs Religionskritik meist überschätzt wird

Im sozialistischen Schulsystem hörte man von ihm als einem bedeutenden Philosophen vor Karl Marx, dem das Verdienst zukomme, die Religionen als menschliche Projektionen entlarvt zu haben. Die Rede ist von Ludwig Feuerbach (1804-1872), einem deutschen Philosophen mit in der Tat beträchtlichem Einfluss auf die moderne Geistesgeschichte.

Vergöttertes Wesen des Menschen

Feuerbachs berühmte Religionskritik unterscheidet sich von seinen Vorläufern (und seiner eigenen frühen Phase) insofern, dass er die Religion ernst nimmt und ihr durchaus einen positiven Sinn abgewinnen kann. Sie gilt ihm nicht einfach als Betrug der Pfaffen oder Ignoranz der Vernunft, sondern erklärt sie humanwissenschaftlich: Religion sei die bildhafte Äußerung von Wesen und Kräften aus dem Inneren des Menschen. Gott gilt ihm als der Spiegel des Menschen. Das, wonach sich Menschen in ihrem innersten Sehnen, das, was sie teils unbewusst wünschen, schreiben sie Gott zu. Bei Feuerbach klingt das so: „Die Theologie ist Anthropologie, d.h. in dem Gegenstande der Religion, den wir griechisch Theos, deutsch Gott nennen, spricht nichts andres aus als das Wesen des Menschen, oder: der Gott des Menschen ist nichts andres als das vergötterte Wesen des Menschen …“[1]

Feuerbach liefert eine psychologische Erklärung der Religion. Er begründet mit großer Sorgfalt aus den Lebensvollzügen der Menschen heraus, warum Menschen religiös sind. Sein Verzicht auf Polemik und die einfühlsame Beschreibung religiösen Empfindens verschaffen seiner Argumentation durchaus Überzeugungskraft. Jetzt, wo die inneren Mechanismen der Religion erklärt sind, brauchen wir Gott nicht mehr – so lautet der daraus häufig gezogene Kurzschluss.

Atheismus vorausgesetzt statt bewiesen

Der grundlegende Fehler in dieser Argumentation besteht aber darin, dass jede psychologische Erklärung keinerlei Aussagekraft über die Existenz der dahinterliegenden Dinge hat. Die richtige Tatsache, dass ich mir ein Stück Erdbeertorte wünschen kann, beweist keineswegs, dass es keine Erdbeertorte gibt. Über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes sagt Feuerbachs Analyse folglich überhaupt nichts aus. Feuerbach erklärt, warum Menschen dennoch religiös sein können, wenn man annimmt, dass es Gott nicht gebe. Diese Voraussetzung ist aber gar nicht Gegenstand seiner Argumentation, sie ist quasi das atheistische Postulat. Darum liefert Feuerbachs interessante These in Wahrheit keinerlei Begründung für den Atheismus selbst, sondern dient lediglich zur Erklärung einiger Probleme (nämlich der Religiosität der Menschen aller Kulturen), die bei einer atheistischen Hypothese entstehen.

Argumentation umgekehrt

Dass man dieses Spiel auch umgekehrt spielen kann, hat Manfred Lütz anschaulich beschrieben. Er nennt fünf Argumente und psychologische Erklärungen, warum jemand nicht an Gott glaubt – unter der Voraussetzung, dass Gott in Wahrheit existiert.[2]

„Sturmfreie Bude“: Der Wunsch, ohne überirdische Kontrollinstanz, ohne einen Gott, der das eigene Handeln auch im Verborgenen sieht und dafür Rechenschaft fordert, ist psychologisch sehr verständlich. Erst recht gilt dies im Bereich des Wirtschaftslebens. Skrupel und moralische Rücksichten können wirtschaftlichen Erfolg hemmen. Auch wenn Gott existiert, gäbe es gute wirtschaftliche Gründe, ihn zu leugnen.

„Einmal Lagerfeld sein“: Die moderne Gesellschaft pflegt einen narzisstischen Kult des Ego. Die grandiose Selbstinszenierung des eigenen Lebens würde durch Gott nur gestört. Wo der Egozentrismus selbstverständliche Lebensform geworden ist, erklärt sich Gotteshass psychologisch ohne weiteres.

„Fernsehgötter“: Das Fernsehen ist eine virtuelle Welt ohne Gott. Das können auch die religiösen Nischen der Fernsehgottesdienste oder das „Wort zum Sonntag“ nicht beseitigen, denn sie führen eine Ghettoexistenz. In den täglichen Talkshows wird Narzissmus präsentiert, der nicht nach Gott fragt. Die künstliche Abwesenheit Gottes in modernen Lebenswelten kann erklären, warum viele Menschen an einen Gott nicht glauben können, der in ihrer Welt nicht vorkommt.

„Trendsurfing“: Unsere Gesellschaft ist demoskopiebesessen. Man möchte das tun, was „man“ tut, was „in“ ist. In der heutigen Zeit ist ausdrücklicher Glaube begründungsbedürftig geworden, während ein praktischer Atheismus des dahinplätschernden Lebens „normal“ erscheint.

Missglückte Kontakte: Mitunter bewirken Konflikte mit Pfarrern oder anderen Kirchenvertretern einen tiefen Bruch. Hier treffen ein außerordentlich hohes Idealbild, wie es von keiner anderen Berufsgruppe erwartet wird, auf allzu oft überforderte, erschöpfte und frustrierte Kirchenrepräsentanten. Dieses explosive Gemisch kann zu einer Entfremdung von Kirche und zu einer Entwöhnung vom Glauben führen.

Fazit

Alle diese Argumente besagen nichts über die Existenz Gottes, aber sie können (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) erklären, warum Menschen nicht an Gott glauben, auch wenn er existiert. Der Atheismus ist demnach ebenfalls gut psychologisch als Projektion zu erklären: Die aufgestauten Enttäuschungen des Lebens können in einen Hass auf Gott münden, der dann in einem Freud‘schen Vatermord beseitigt wird.

Ludwig Feuerbachs Interpretation der Religion als Ausfluss menschlicher Wünsche und Sehnsüchte beweist folglich ebensowenig die Nichtexistenz Gottes, wie die eben genannten Argumente einen Gottesbeweis darstellen. Die Psychologie kann hier nicht weiterhelfen. Dies zu erkennen kann viele Umwege ersparen.

 

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 4/2008 ab Seite 14