Inquisition oder Massenwahn?

Die wahre Geschichte der Hexenverfolgungen

Kreuzzüge und Hexenverfolgungen - diese beiden Komplexe aus der Geschichte werden gern und oft stereotyp als Schlagworte verwendet, wenn es darum geht, die Schuld „der“ Kirche in der Vergangenheit zu beschreiben. Von der „Blutspur der Kirche“ kann da gesprochen werden, wenn 2000 Jahre Christentumsgeschichte unter einseitig abwertendem Blickwinkel betrachtet werden sollen. Dass beide Vorgänge komplexe Geschehen waren, in denen eine Vielzahl verschiedener politischer, religiöser und wirtschaftlicher Einflüsse und Motivationen zu unterscheiden sind, wissen zwar die Historiker, aber nicht die Polemiker. Wohl kaum ein Gebiet der historischen Forschung hat in den letzten zehn Jahren solche bahnbrechenden neuen Ergebnisse hervorgebracht, die geeignet sind, bisher tradierte Geschichtsbilder in Frage zu stellen, wie die neuere Hexenforschung. Es gehört zu den Rätselhaftigkeiten der Zeit, dass es auch in der modernen Mediengesellschaft nur sehr schwer gelingt, diese Ergebnisse breiteren Bevölkerungsschichten zu vermitteln. Statt dessen werden in der Regel historisch längst überholte Klischees verbreitet.

Um diesen mit fundierten Argumenten begegnen zu können, sollen im Folgenden wesentliche Ergebnisse der neueren historischen Forschung zu den Hexenverfolgungen zusammengefasst werden, wie sie Dr. Thomas Becker auf der Tagung der Nordelbischen Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen im November 2005 (vgl. Confessio 6/2005, 12) vorgestellt hat.

Zauberei und Ketzerei

Die Besonderheit der europäischen Hexenprozesse besteht in der Verbindung zweier ursprünglich getrennter Strafsachen: der Zauberei und der Ketzerei.

Zauberei meint im Prinzip immer Schadenszauber und wurde weltgeschichtlich in allen Kulturen als besonders strafwürdiges Verbrechen angesehen. Der Zaubereiprozess ist seinem Wesen nach ein weltliches Verfahren, denn es geht um die konkrete Schädigung einer Person oder Sache, die bestraft werden soll. Der Kläger muss dabei den konkreten Schaden und die Schuld nachweisen. Gelang ihm das nicht, traf die Strafe den Kläger, was einen effektiven Schutz vor ausufernden und unbegründeten Anklagen bot.

Im Ketzereiprozess geht es hingegen um Glaubensfragen. Auch galten für ihn völlig andere Verfahrensregeln. Zeugenbefragung, Begutachtung von Indizien und die Folter galten als Mittel zur Wahrheitsfindung. Die Furcht vor Ketzerei war durch die reale Bedrohung der Kirche durch die Katharer noch verstärkt worden. Die Katharer hatten im 13. Jahrhundert in weiten Teilen Frankreichs eine regelrechte Gegenkirche mit eigenem Klerus und eigenen Gemeinden organisiert. Auch nach der Zerschlagung der Organisation in den Albigenserkreuzzügen blieb die Angst vor einem neuen Aufflammen dieser Ketzerei bestehen. Neben dem wohl einzig zutreffenden Fakt geheimer Treffen wurde ihnen Teufelsverehrung, Orgien und Schadenszauber vorgeworfen. Aus den ebenfalls im 14. Jahrhundert aufkommenden spontanen Judenverfolgungen mischten sich Brunnenvergiftung, Kindermord und Verschwörung am Sabbat in die Reihe der Vorwürfe und verbanden sich zur Vorstellung vom „Hexensabbat“. Auf diese Weise bildete sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts allmählich ein „gelehrter Hexenbegriff“ heraus, bei dem zunächst in theologischen Diskussionen die Verbindung von Ketzerei und Magie hergestellt wurde.

Hexenbegriff und Hexenhammer

Kernelemente dieses neu entwickelten Delikts der „Hexerei“ waren:

1. Teufelsbuhlschaft und

2. Teufelspakt, die das eigentliche Delikt des Abfalles von Gott beinhalten. Die Ideen von

3. Hexenflug und

4. Hexensabbat wirkten sich besonders verheerend aus, denn nach dieser Theorie gab es keine Einzeltäter mehr. Die daraus folgende Frage nach den Mitverschwörern ermöglichte erst das spätere epidemische Ausweiten der Verfolgungen.

5. Der Schadenszauber war nur noch ein Element unter anderen, wobei er immer im Zusammenhang mit dem schlimmeren Teufelspakt gesehen wurde.

Diese neue Theorie der Hexerei war zunächst keineswegs auf Frauen eingegrenzt, denn der Teufel zeigt sich nach der damaligen Vorstellung in der jeweils passenden verlockenden Gestalt. Von besonderer Bedeutung für die Verbreitung der neuen Hexenidee waren die Dominikaner Jakob Spranger und Heinrich Kramer (Institoris), die 1480 zu Generalinquisitoren für Deutschland ernannt wurden. Reale Macht war mit diesem Titel kaum verbunden. So warf der Bischof von Brixen Kramer aus dem Bistum, weil er diesen mit seiner Ketzerphobie für verrückt hielt. Erst diese Niederlage führte dazu, dass Kramer seine Lehre in dem 1487 erschienenen und in seiner Wirkungsgeschichte ausgesprochen verhängnisvollen Buch „Der Hexenhammer“ darstellte. Dieses Buch brachte eine Zusammenstellung vieler bisheriger Theorien und Argumente in einer besonderen Zuspitzung auf Frauen, was sowohl Kramers mönchischen Berührungsängsten gegenüber Frauen als auch damals verbreiteten gesellschaftlichen Stimmungen entsprochen haben mag. Der in dieser Zeit sich entwickelnde Buchdruck bescherte dem Hexenhammer eine massenweise Verbreitung. Auf diese Weise fand die neue Hexenlehre Eingang in Erzählgut und vor allem die bildende Kunst. Großformatige Darstellungen aller Arten von nackten Hexen, Wetterhexen usw. waren offenbar die einzige damals sozial geduldete Form der Pornografie. Die Kombination von Sex & Crime ist noch heute ein Erfolgsrezept der Medienbranche. Die neue Hexenlehre wurde damit auch unter das Volk gebracht, das nicht lesen konnte.

Fugger, Inkas und die Eiszeit

Trotz dieser Verbreitung der Ideen dauerte es noch ca. 150 Jahre bis zum Beginn der ersten Massenverfolgungen, deren Schwerpunkt zwischen den Jahren 1567 und 1680 lag. Die massenhaften Hexenverfolgungen sind darum - entgegen weitverbreiteten Klischees - kein Thema des sog. „finsteren“ Mittelalters, sondern der Neuzeit. Die Hexerei gehört nicht ins Mittelalter, sondern zur Überwindung des Mittelalters. Neuere sozialgeschichtliche Forschungen haben zeigen können, dass tiefgreifende Verunsicherungen durch das Wegbrechen der gewohnten Ordnung und eine massive Verschlechterung der Lebensbedingungen das Aufflammen der Prozesse maßgeblich beeinflusst haben. Besonders zwei Faktoren sind zu nennen:

  • Getreidepreise: Nachdem die Spanier aus dem Inkareich große Mengen Gold importierten und die Fugger im Erzgebirge und in Tirol Silber im großen Stil förderten, entwickelte sich eine galoppierende Inflation. Die Menschen in den Dörfern durchschauten diese Zusammenhänge nicht und standen rätselnd vor dem Problem, dass alles teurer wurde.
  • Kleine Eiszeit: In periodischer Wiederholung gab es extrem harte Winter mit sehr schlechtem Sommer. Das Zufrieren von Rhein und Donau bewirkte verheerende Überschwemmungen und massive Versorgungskrisen.

Die Bevölkerung suchte nach Erklärungen - und Schuldigen - für diese Schicksalsschläge in ihrer lokalen Umgebung und unter Rückgriff auf die inzwischen zum Volks(aber)glauben mutierte Hexentheorie.

Verfolger...

Sichtbar sind diese Zusammenhänge in den aus den historischen Akten zu ermittelnden Trägern der Verfolgung. Dies waren nämlich in erster Linie weder die Großorganisation Kirche noch der Staat als Institution, sondern vor allem lokale Gruppen, die sich z. T. eigens zu diesem Zweck als Organisation bildeten (sog. Hexenausschüsse). Diese wirkten quasi als private Hilfspolizei, um die Hexenprozesse vorzubereiten und dann der lokalen weltlichen Gerichtsbarkeit zu übergeben. Funktionieren konnten die Verfolgungen auch nur in Zusammenarbeit mit einer verfolgungswilligen Obrigkeit vor Ort, wobei der Amtmann mehr Bedeutung hatte als der Fürst. Zudem gilt es zu sehen, dass die Kirche alles andere als einheitlich war. Zwischen völlig unabhängigen Bistümern und ebenso unabhängigen Fürstentümern reisten „freischaffende“ professionelle Hexenjäger umher, die je nach Umfeld beträchtlichen Schaden anrichten konnten.

Die Kirchen waren an diesen Prozessen so gut wie nicht mehr aktiv beteiligt. Insbesondere die oft gescholtene römische Inquisition wandte sich relativ schnell explizit gegen die neue Hexenlehre. 1620 erschien eine Instruktion der römischen Inquisition, die bei Zaubereiverdacht die Hinzuziehung eines Arztes zum Ausschluss von Geisteskrankheit, die Prüfung der Indizien und die Einsetzung eines ausgebildeten Juristen als Verteidiger forderte. Mit dieser Instruktion waren faktisch keine Hexenprozesse wie in Deutschland durchführbar. Praktisch gab es auch in den Ländern, wo die Inquisition herrschte, nämlich Italien und Spanien, keine Hexenprozesse.

... und Verfolgte

Die Opfer der Verfolgung sind demgegenüber nicht so eindeutig zu identifizieren. Die Akten zeigen ein sehr vielschichtiges Bild. Weder sind sie eindeutig auf ein bestimmtes Geschlecht bezogen (25-30% der Opfer waren männlich) noch betrafen sie spezifische Gesellschaftsgruppen. Es waren eben nicht speziell die Kräuterweiblein oder Frauen mit roten Haaren betroffen, wie es zum oft gepflegten Klischee gehört. Ebenso richtete sich die Verfolgung auch nicht gegen bestimmte Berufsgruppen (wie z.B. die Hebammen). Faktisch konnte es so ziemlich jeden treffen. Ausgenommen waren lediglich der hohe Adel und der hohe Klerus. Den Ortspfarrer oder sogar den Bürgermeister konnte der Hexereivorwurf dagegen sehr wohl treffen. Aus den überlieferten Unterlagen geht hervor, dass die Hexenverfolgung praktisch Stellvertreterkriege in Konflikten zwischen lokalen Gruppen waren. Weder handelte es sich um die systematische Verfolgung einer Ur-Religion, noch um eine Verschwörung zwischen Staat und Kirche um das Abtreibungswissen der Hebammen auszurotten, wie es von modernen Wicca-Hexen gern dargestellt wird. Statt dessen zeigt sich eine Verknüpfung von Teufelsangst und Verschwörungstheorien, die in lokalen Machtkämpfen eingesetzt wurde. Je stärker die fürstliche Zentralmacht war, desto weniger Verfolgungen gab es in der jeweiligen Region.

Der Fall Hermann Löhe

Beispielhaft lässt sich dies an dem gut dokumentierten Fall von Hermann Löhe sehen. In seinem Ort gab es sieben Schöffen, die vermutlich einen inoffiziellen Hexenausschuss bildeten und sich aus Bonn einen Hexenjäger (commissarius) kommen ließen. Von dieser Gruppe wurde über mehrere Jahre eine Hexenverfolgung angestrengt, die sich bald auch gegen die eigene Oberschicht richtete. Von den sieben Schöffen standen zwei von vornherein auf der Seite der Hexenverfolger. Ein dritter konnte nicht verhindern, dass sein eigener Schwiegervater hingerichtet wurde. Hermann Löhe, anfangs auf der Seite der Ankläger, kamen im Laufe der Prozesse Zweifel. Schließlich musste er gemeinsam mit einem anderen Schöffen selbst fliehen, weil auch er unter die Gefahr der Anklage kam. Es zeigt sich an diesem Fall, dass die Anklage der Hexerei offenbar zu einem massiven Verdrängungsmechanismus untereinander geführt hat. Die Motive dafür sind vor allem in lokalen und zwischenmenschlichen Konflikten zu suchen.

Hexenverfolgung - ein vergangenes Kapitel?

Die Analyse der historischen Hexenverfolgungen, wie sie die neuere Forschung vorgelegt hat, muss alarmieren -zeigt sie doch, dass die Durchführung der Verfolgungen eben nicht aus dem Machtapparat einer alles beherrschenden mittelalterlichen Kirche kam, die ihre religiöse Konkurrenz mit aller Gewalt vernichten wollte. Wenn das so wäre, könnte man sich entspannt zurücklehnen, und die früher so mächtige und heute vergleichsweise machtlose Kirche beschimpfen oder bedauern. Statt dessen sehen wir aber, dass verquaste theologische Ideen von Einzelnen (z.B. Kramer), die von zeitgenössischen Theologen zwar abgelehnt (z.B. Bischof von Brixen), aber nicht genug widerlegt wurden, durch die modernen Massenmedien eine Verbreitung im Volksglauben gewinnen. Dort können sie eine kaum noch zu bremsende mörderische Eigendynamik gewinnen, wenn sie sich zur Erklärung und einfachen Abhilfe persönlicher Notlagen und ungewisser Schicksalsschläge eignen und akute Versorgungskrisen die zwischenmenschlichen Konflikte anheizen.

Dass genau dies auch in der Gegenwart geschieht, zeigt ein Blick nach Afrika. Dort ist der Glaube an Magie und Schadenzauber seit Generationen in der Bevölkerung verwurzelt. Hungersnöte, Bürgerkrieg und Missernten lassen die Menschen nach Sündenböcken suchen, und folglich finden auch immer wieder Hexenverfolgungen statt. Die christlichen Missionsgesellschaften haben es nicht überall vermocht, dem Einhalt zu gebieten. Pfingstkirchen aus Afrika und Übersee verstärken mit ihrer oft stark dualistischen Theologie statt dessen den Trend, das Böse zu personifizieren. Dass davon Unschuldige in den Tod gerissen werden können, wenn eine aufgebrachte Menge in Lynchjustiz beginnt, angebliche Hexen zu jagen, sind tragische Begleiterscheinungen. In Tanzania ergab eine Untersuchung des Familienministeriums, dass zwischen 1994 und 1998 rund 5000 Menschen solchen spontanen Hexenverfolgungen zum Opfer gefallen sind.1

In Deutschland verhindert glücklicherweise das Rechtssystem derartige Ausschreitungen. Die Theologie ist dennoch gefordert, sich solchen Entgleisungen mit aller Kraft entgegenzustellen und ihnen die theologische Legitimation zu entziehen. Die Verunsicherungen der Postmoderne infolge der gesellschaftlichen Umbrüche sind in Manchem denen der frühen Neuzeit zu vergleichen.

Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist verdammt, sie zu wiederholen.

 


1. Odile Jolys: Der Fluch einer Krankheit. AIDS, Hexerei und Demokratie in Südafrika. In: Der Überblick, 5, 2005,30.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/131

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2006 ab Seite 06