Volksmission und Christusdienst

Zur Erinnerung an den 100. Geburtstag von Gerhard Küttner

Am 15. März 2011 jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag des Bräunsdorfer Pfarrers Gerhard Küttner, der durch sein Wirken im Volksmissionskreis Sachsen über die Grenzen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens hinaus bekannt geworden ist. Das soll zum Anlass genommen werden, an Leben und Wirken Gerhard Küttners in einer kritischen Würdigung zu erinnern und damit einen Aspekt sächsischer Kirchengeschichte in den Blick zu rücken, der bislang kaum im Fokus theologischer Forschung stand. So war der unter anderem von Küttner geprägte Volksmissionskreis der 1950er bis 80er Jahre ein wesentlicher Bestandteil der ostdeutschen innerkirchlichen charismatischen Bewegung – jener kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlich nicht unbedeutenden Strömung, welche im Schatten zu recht betriebener Studien zur politischen Problematik und kirchlichen Situation jener Zeit eher untergeht.

1. Zur Biographie Gerhard Küttners

Fritz Gerhard Küttner wurde am 15. März 1911 in Kleinschweidnitz bei Löbau geboren.[1] Er wuchs als Halbwaise mit vier älteren Geschwistern bei seiner Mutter Fri(e)da Louise geb. Zschischang auf, nachdem sein Vater Oskar Max Küttner, Hausbesitzer und Pfleger an der Königlichen Heil- und Pflegeanstalt zu Großschweidnitz, schon 1912 gestorben war. Küttner wurde am 9. April 1911 getauft und Palmsonntag, den 5. April 1925, konfirmiert. Im Jahr seines Schulbeginns 1917 fiel sein ältester Bruder während des Ersten Weltkrieges in Flandern. Die Schule besuchte Gerhard Küttner bis 1930 und bestand kurz vor seinem 19. Geburtstag die Reifeprüfung der Deutschen Oberschule in Löbau. Darauf nahm er im Sommersemester das Studium am Pädagogischen Institut in Dresden auf mit dem Ziel, Volksschullehrer zu werden. Nach drei Semestern wechselte er jedoch zum Winter 1931/32 nach Leipzig, um, wie er in einem Lebenslauf schreibt, „dem Ruf des Herrn“ zu folgen und Theologie zu studieren.[2] Am Anfang dieses Studiums standen die Prüfungen in Griechisch und Hebräisch, welche an einem humanistischen Gymnasium in Leipzig durchgeführt wurden; Latein hatte Küttner an der Oberschule gelernt.[3] Nach zehn Semestern bestand Gerhard Küttner dann am 27. Juni 1936 das Erste Theologische Examen.

Vikar der Bekennenden Kirche

Der Landeskirchenausschuss entsandte Küttner von Juli 1936 bis März 1937 als Vikar nach Neudorf im Erzgebirge, von April bis September desselben Jahres nach Schöneck im Vogtland. Ab Oktober 1937 besuchte er das Predigerseminar in Lückendorf im Zittauer Gebirge, bis dieses im Januar 1938 von der deutsch-christlichen Landeskirchenregierung geschlossen wurde. „Der Aufforderung der Landeskirchenregierung, mich um eine [Pfarr-]Stelle zu bewerben, [kam ich] nicht nach, sondern stellte mich dem Landesbruderrat der Bekennenden Kirche in Sachsen zur Verfügung.“[4]

Als Vikar im Dienst der Bekennenden Kirche war Küttner von Februar bis August 1938 in Leipzig Stadt und Land tätig. Auf seine Bitte, ihn in eine kleinere Gemeinde zu entsenden, wurde er nach Sosa im Erzgebirge geschickt. In diese Zeit fallen die Anfänge des Volksmissionskreises Sachsen, die unten noch näher zu skizzieren sind. Zu der 1937 von Landesposaunenpfarrer Gottfried Klenner initiierten volksmissionarischen Arbeit innerhalb der Bekennenden Kirche in Sachsen gehörten seit dieser Zeit als – wenn nicht gleich prägende, so doch geprägte – Figuren der ersten Generation auch der Sosaer Pfarrer Ernst Ehrlich und Gerhard Küttner, nach dem Zweiten Weltkrieg dann auch als aktiver Mitarbeiter.

Gerhard Küttner legte zusammen mit Hans Prehn, Hornbläser in Klenners Posaunenquartett, Gründervater des Nachkriegs-Volksmissionskreises und ebenso wie Küttner im Dienst der Bekennenden Kirche, vom 17. bis 25. April 1939 in Stuttgart vor dem Evangelischen Oberkirchenrat Württembergs das Zweite Theologische Examen ab.[5] In der Stuttgarter Stadtkirche St. Leonhardt erhielten die Kandidaten am 26. April 1939 vom späteren Bischof, dem Superintendenten Hugo Hahn aus Dresden, unter sächsischem Gelöbnis die Ordination. Nach dem Weggang Ernst Ehrlichs nach Dresden führte Küttner die Sosaer Kirchgemeinde allein weiter, wurde im Oktober 1941 als Vikar – er schreibt: „ohne mein Zutun“ – in landeskirchlichen Dienst genommen und im Januar 1942 als Pfarrer in Sosa eingeführt.[6]

Am 29. Juli 1939 heiratete Gerhard Küttner Dorothee geb. Pfeiffer, Tochter des Geithainer Pfarrers Gerhard Pfeiffer. Aus dieser Ehe gingen zwei Töchter und sechs Söhne hervor. Nach dem Tod seiner ersten Frau schloss Küttner am 23. September 1971 mit Irene geb. Döhler die Ehe.

In STASI-Haft

Die Zeit der Bekennenden Kirche prägte Küttner. Von verschiedenen Zeugen wird er als geradlinig, ehrlich bis hin zu offensiv-aufrichtig charakterisiert, was sich auch in seiner seelsorgerlichen und homiletischen Praxis widerspiegelt. Die Bekenntnissituation wird dafür als eine Ursache zu sehen sein. Sein Pfarrdienst zur Zeit der sowjetischen Besatzung und in der DDR stand unter dem gleichen Vorzeichen. So wurde Küttner Ende 1950 bzw. Anfang 1951 vom Staatssicherheitsdienst nach einer Hausdurchsuchung gefangen genommen.[7] Als Begründung der Haft wurde – typisch für die Radikalität des sich aufbauenden sozialistischen Regimes – vorgeworfen, „gegen den demokratischen Schulunterricht, die Wissenschaft und den Aufbau in verleumderischer Weise gehetzt“ zu haben.[8] „Boykotthetze“, „Glaubenshaß“ und Agitation „gegen Gleichberechtigung“ wurden ihm zur Last gelegt. Dass die Festnahme durch die Staatssicherheit länger vorbereitet wurde, zeigt sich darin, dass Küttner von einer Privatperson kurz vorher darüber informiert worden war, woraufhin er sich jedoch gegen eine Übersiedlung nach Westdeutschland entschied.[9] Der Einsatz der Kirchenleitung unter Landesbischof Hahn führte zur Entlassung Küttners aus der politischen Haft am 10. April 1951 und zwei Monate später zur Begnadigung durch Ministerpräsident Seydewitz. Allerdings blieb als Resultat für Küttner das Verbot seiner Tätigkeit als Pfarrer im Landgerichtsbezirk Zwickau, was für ihn das Ende seiner Tätigkeit in Sosa bedeutete. Das Landeskirchenamt ordnete ihn zum Oktober 1951 pro forma auf eine ruhende Pfarrstelle an der Dresdner Zionskirche ab; sein Wohnsitz blieb vorerst Sosa.[10]

Die Bräunsdorfer Erweckung

Bald bemühte sich der Kirchenvorstand zu Bräunsdorf bei Limbach-Oberfrohna um Gerhard Küttner für die vakante Pfarrstelle der Kirchgemeinde und wählte ihn zum Februar 1952 als Pfarrer.[11] Interessant ist die Bemerkung, dass der damalige stellvertretende Vorsitzende des Bräunsdorfer Kirchenvorstandes „schon seit langen Jahren Vertrauen“ und Kontakt zu Küttner hatte,[12] was wohl auf Küttners zunehmendes Engagement im Volksmissionskreis und verschiedene Besuche von Bräunsdorfern in Sosa zurückzuführen ist.

Mit dem Dienst Küttners in der Bräunsdorfer Gemeinde beginnt eine für die Geschichte des sächsischen Volksmissionskreises wichtige Phase, in welcher Bräunsdorf zu einem Zentrum des Kreises avanciert. Gleich ein Vierteljahr nach Dienstantritt in Bräunsdorf ließ Küttner im Mai 1952 die „Mannschaft“ der Volksmission eine Evangelisationswoche in der Kirchgemeinde durchführen, was offensichtlich nicht ohne Wirkung blieb. Das Gemeindeleben scheint sich sprunghaft verstärkt zu haben, so dass von einer Erweckung gesprochen werden kann.[13] Auf Ausführungen zu Küttners Pfarrdienst in Bräunsdorf und dem Leben der Gemeinde sei hier verzichtet.

Evangelische Schwesternschaft

Ein besonderes Datum ist der 1. Februar 1962, an dem sich unter Gerhard Küttner genau zehn Jahre nach Dienstantritt in der Bräunsdorfer Gemeinde eine Schwesternschaft gründete. Diese an eine Ortsgemeinde angegliederte Gemeinschaft von anfangs sieben, dann 13 Schwestern, die nach den sog. „evangelischen Räten“ (Armut, Keuschheit, Gehorsam) lebten, stellte ein Novum in der sächsischen Landeskirche dar, welches einiges Ringen kirchenleitender Stellen verursachte.[14] Gleichwohl fügte sich diese kommunitäre Gemeinschaft in den Rahmen der markanten Welle evangelischer bruderschaftlicher Aufbrüche nach dem Zweiten Weltkrieg ein.

Wegweisend für Küttner und die künftigen Schwestern war eine intensive Begegnung bei der jungen Christusbruderschaft Selbitz mit Pfarrer Klaus Heß von der Bruderschaft vom gemeinsamen Leben, der einen wesentlichen Gründungsimpuls leistete. Auch Verbindungen zu den Ökumenischen (heute Evangelischen) Marienschwestern in Darmstadt spielten eine Rolle. Die Bräunsdorfer Schwesternschaft ist theologisch und organisatorisch als von Gerhard Küttner geführt zu erkennen. Gleiches gilt für den Johannesring, einer Art Tertiärgemeinschaft um die Schwesternschaft, die beide in den Volksmissionskreis konzeptionell eingeordnet waren.

Im Volksmissionskreis

Auf die theologische und strukturelle Verbindung zwischen Volksmissionskreis und Bräunsdorfer Gemeindearbeit legte Gerhard Küttner großen Wert. Tausende Gäste kamen über die Jahre von außerhalb zu Rüst- und Einkehrzeiten sowie in Küttners Seelsorge. Diese Resonanz wird dokumentiert durch eine Fülle an Tonbandmitschnitten seiner Predigten und Vorträge, die heute eine auf zwei DVDs arrangierte Sammlung umfassen.[15] Im Vorstand des Volksmissionskreises Sachsen war Gerhard Küttner fast zwei Jahrzehnte maßgeblich prägend und aktiv.[16] Dieses geradezu beeindruckende Wirken des Dorfpfarrers Küttner wird jäh getrübt von einschneidenden Konflikten im Vorstand des Volksmissionskreises und in der Bräunsdorfer Kirchgemeinde.

Konflikte

Noch bevor Küttner zum 1. Januar 1978 in den Ruhestand eintrat, wurde er Anfang Mai 1977 nach intensiver Diskussion aus dem Vorstand ausgeschlossen. Die Mitglieder des Vorstandes konnten Küttners spezifisches Verständnis eines sogenannten „umfassenden Lösedienstes“ und Aspekte einer „Ständeordnung im Hause Gottes“, was sich im Laufe der 1970er Jahre in seiner pastoralen Lehre und Praxis aus den Wurzeln der vergangenen Jahre profilierte, nicht mehr mittragen.[17] Die weitergehende theologische Analyse dieser Streitpunkte bleibt eine notwendige Aufgabe. Trennungserfahrungen dieser Zeit, zu denen auch der Austritt dreier Schwestern aus der Kommunität zählt, wurden für Küttner zur menschlichen und geistlichen Herausforderung.

Nach seiner Emeritierung blieb Gerhard Küttner in Bräunsdorf wohnhaft und war außerhalb der Kirchgemeinde seelsorgerlich weiterhin sehr aktiv. Der Ruhestand ermöglichte ihm, Anfang der 1980er Jahre seinen Wirkungskreis zu erweitern; nennenswert sind vor allem Rüstzeiten, unter anderem im Julius-Schniewind-Haus in Schönebeck. Küttners Verbleiben in Bräunsdorf barg vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Prägung der Gemeinde durch ihn einiges an Konfliktpotential im Blick auf das Verhältnis zum Nachfolger, Pfarrer Günter Uhlig (selber im Volksmissionskreis), wenngleich für beide wider Erwarten. Die Situation radikalisierte sich, so dass sich die Kirchgemeinde in den beiden Pfarrern zuzuordnende Lager spaltete, zwei weitere Schwestern die Gemeinschaft verließen und Günter Uhlig 1984 letztlich das Landeskirchenamt um Versetzung bat. Weitergehende Analysen dieser Wegmarken der Biographie Gerhard Küttners haben hier offen zu bleiben.

Bis 1994 blieb Gerhard Küttner in Bräunsdorf und zog dann zu seinem Sohn, Pfarrer Matthias Küttner, nach Liebenau im Osterzgebirge. Nach ihrem Tod am 31. Mai 1995 überlebte Küttner seine zweite Frau Irene. Er starb, bald 86-jährig, am 30. Januar 1997 in Liebenau, wo er neben Irene Küttner begraben liegt.

2. Der Volksmissionskreis Sachsen und die Rolle Gerhard Küttners

Die evangelistische Arbeit Gottfried Klenners, die im Zeichen der volksmissionarischen Bewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gleichzeitig in Abgrenzung zu den völkisch motivierten Volksmissionen steht, legte den Grundstein für den Volksmissionskreis Sachsen.[18] Klenner, von den Deutschen Christen als Landesposaunenpfarrer abgesetzt, gründete 1937 ein Posaunenquartett mit Pfarrer Fritz Schädlich, dem Tischler Kurt Eichler und dem Pfarrvikar Hans Prehn, der zusammen mit Gerhard Küttner ordiniert wurde. Die volksmissionarischen Wege der Vier, die anfangs für ein paar Monate noch unter dem Schutz der Inneren Mission standen und bis nach Österreich[19] führten, sammelten einen ersten Freundeskreis, wurden aber durch den Zweiten Weltkrieg abgebrochen (exemplarisch sei eine Tagung mit 44 Teilnehmern im Frühjahr 1939 in Sosa erwähnt). Prehn überlebte als einziger des Quartetts den Krieg und begann zusammen mit dem Seifengroßhändler Rudolf Fischer aus Limmritz bei Döbeln einen Bruderkreis aufzubauen, aus welchem sich im November 1945 der „Volksmissionskreis Sachsen“ gründete, zu dem auch Gerhard Küttner fest gehörte. Geschäftssitz war bis ca. 1955 in Limmritz (daher z.T. auch „Limmritzer Kreis“), zu der Zeit sogar mit Verlagsbuchhandlung und kleinem Gästehaus, dann in Dresden. Ab Jahresende 1951 war die Anbindung an das Landeskirchliche Amt für Innere Mission offiziell geregelt.

Evangelisation und „Stille Zeit“

Nun gewinnt feste Gestalt, was vor dem Krieg begonnen worden war: Geformt durch Einflüsse der Oxford-Gruppenbewegung (schon vor dem Krieg), wurden die Evangelisationen von einer sog. „Mannschaft“ durchgeführt, die sich vor ihren Veranstaltungen in organisatorischer und geistlicher Sammlung zurüstete und in verschiedene Dienste aufteilte. Die Gruppenbewegung prägte die Stille-Zeit-Praxis und die Hochschätzung der Beichte und des (Laien-) Zeugnisses der Volksmissionare. Neben den Mannschaftsevangelisationen begann bereits in der Vorkriegszeit eine Tagungsarbeit, z.B. für Pfarrer, welche nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls zu einem der markantesten Kennzeichen des Volksmissionskreises wurde. Alle Arbeit hatte als Ziel „die persönliche Hinwendung des Einzelnen zu Christus“[20].

Hans Prehn formuliert im Rückblick: „Standen wir in den ersten Jahren in einer Frontstellung zur Kirche und ihren liturgischen Ordnungen und zu ihrem Sakramentsverständnis, so lernten wir als ein Teil dieser Kirche in ihr und für sie zu leben“[21]. Wenn Prehn diesen ekklesiologischen Reifeprozess wesentlich auf theologische Impulse Gerhard Küttners zurückführt (die Quellen können Küttners Einfluss auf den Volksmissionskreis der Anfangszeit bestätigen), so ist gleichermaßen auf weitere äußere Einflüsse hinzuweisen, durch die der Kreis und Küttner geprägt wurden.

Prägungen zum „Christusdienst“

Kontakte zur Bruderschaft vom gemeinsamen Leben in Ottmaring, welche das Erbe katholisch-apostolischer Tradition in sich trägt, konnten dem Volksmissionskreis eine Perspektive für Kirche und Amt, Leib Christi, priesterlich-stellvertretenden Dienst und Charismen sowie nicht zuletzt eine eschatologische Orientierung eröffnen.

Die mit der Bruderschaft verbundene Bewegung „Ökumenischer Christusdienst“ (um Klaus Heß, Eugen Belz, Otto-Siegfried von Bibra und dem geistlichen Vater der Darmstädter Marienschwestern Paul Riedinger) war für die weitere Entwicklung des Kreises namensgebend. In den 1960er Jahren wird das Stichwort „Christusdienst“ zur Selbstbeschreibung des Volksmissionskreises und seiner Arbeit verwendet. Dieser Ausdruck, zwar nicht als Geschäftsbezeichnung aber als Name synonym für den Kreis gebraucht, spiegelt eine andere theologische Denkrichtung als „Volksmission“ der 40er und 50er Jahre. Die erwecklich-missionarische Motivation, die sich durch das Erbe der Gruppenbewegung volksmissionarisch auf die Gemeinde orientiert und auch nicht einfach im landeskirchlichen Pietismus aufgeht, entwickelt durch kommunitäre und katholisch-apostolische Einflüsse eine Wertschätzung für bruderschaftliches Leben in der Kirche und für die Kirche als Leib Christi.

Für das theologisch gefüllte Stichwort „Christusdienst“ als Konzeption der sächsischen Volksmission ist wiederum Gerhard Küttner ausschlaggebend. Der Volksmissionskreis, welcher sich mehr und mehr als sächsische übergemeindliche Dienstbruderschaft versteht, soll nicht einfach innerkirchliche Missionsarbeit leisten, sondern mit dieser und darüber hinaus einen Dienst am Ganzen des Christusleibes vollziehen. Küttner formuliert damit, wenn auch nicht allein im Vorstand, so doch führend, ein zentrales Moment seiner Theologie: die Bereitung des Leibes Christi, damit Gott Vollmacht geben und die Gemeinde Christus (in dieser Zeit und im Eschaton) empfangen kann. „Dienst am Ganzen des Leibes – das ist das Generalthema. Und so ist das Ganze ausgerichtet auf den Tag des Herrn.“[22]

Bräunsdorf und Großhartmannsdorf

Unter diesem Konzept ist der Volksmissionskreis der 60er bis 80er Jahre auch strukturell zu verstehen: Eingeordnet (die Stichworte „Ordnung“, „ordnen“, „einordnen“ bilden wichtige Begriffe in Küttners Denken) in den Christusdienst stehen als zwei Herzstücke die beiden Kirchgemeinden in Bräunsdorf und Großhartmannsdorf. Die Gemeinde in Großhartmannsdorf unter Pfarrer Christoph Richter hat sich ein knappes Jahrzehnt später vergleichsweise parallel zu Bräunsdorf entwickelt und ist damit zu einem zweiten Zentrum des Volksmissionskreises geworden. In diesen beiden Gemeinden bildet jeweils ein in sich geschlossener „Geschwisterkreis“ nach dessen Selbstverständnis als Kerngemeinde die Mitte (das Phänomen der Geschwisterkreise findet sich in vielen Gemeinden der charismatischen Bewegung in Sachsen und der DDR). Diesem ein- oder zugeordnet ist die jeweilige kommunitäre Gemeinschaft (Schwestern in Bräunsdorf, Brüder in Großhartmannsdorf). Um die Gemeinschaften und Gemeinden haben sich die Tertiärkreise Johannesring und Philippusring gestellt. Mit diesem zweifachen Aufbau – Kirchgemeinde, Geschwisterkreis, kommunitäre Gemeinschaft, Tertiärkreis – ist der Christusdienst strukturell beschrieben.

Sendung und Sammlung

Auch inhaltlich hatte die Arbeit des Volksmissionskreises Sachsen zwei Schwerpunkte herausgebildet, welche durch die beiden Zentren verwirklicht werden sollten. Während bis in die 50er Jahre der Schwerpunkt auf Mission / Sendung lag, kommt in den 60er Jahren durch die erwähnten äußeren Einflüsse und Küttners Wirken der Schwerpunkt Zurüstung / Sammlung inhaltlich hinzu. Sendung soll vor allem durch das Zentrum Großhartmannsdorf verwirklicht werden, während Bräunsdorf der Sammlung, oder, wie oft gesagt wurde, dem priesterlichen Dienst zugeordnet ist. Diese Entwicklung ist freilich nicht ohne interne Diskussionen zu denken, als deren Figuren, Sendung und Sammlung verkörpernd, beispielhaft Hans Prehn und Gerhard Küttner zu nennen sind.

Die charismatische Bewegung

In den 60er und 70er Jahren wird der Kreis zudem durch die weltweite charismatische Bewegung, den charismatischen Aufbruch in der DDR und die Jesus-Bewegung unter den Jugendlichen geprägt. Gleichwohl war schon vorher charismatisches Leben im Volkmissionskreis, wie ja auch in den genannten Kommunitäten in Selbitz, Darmstadt und Ottmaring, nicht unbekannt. 1977 bildete sich aus verschiedenen charismatischen Gruppen der DDR unter Führung des Volksmissionskreises der Borsdorfer Konvent (in Borsdorf bei Leipzig), aus dem kurz darauf der Arbeitskreis für Geistliche Gemeindeerneuerung (GGE) in den evangelischen Kirchen der DDR entstand, der sich 1991 mit der westdeutschen GGE vereinigte.

Ambivalente Erinnerung

Die schwere Konfliktzeit im Volksmissionskreisvorstand Ende der 1970er Jahre, welche weite Kreise in der sächsischen Landeskirche und darüber hinaus zog, entbindet jedoch nicht von der Erkenntnis, drei Charaktere als Väter des Volksmissionskreises zu beleuchten: die der gleichen Generation angehörenden Pfarrer Gottfried Klenner (1910–1943), Hans Prehn (1913–1992) und Gerhard Küttner (1911–1997). Sie stehen für unterschiedliche Abschnitte der Geschichte des Kreises. Klenner legte den Grundstein in der Zeit der Bekennenden Kirche, Prehn formierte den Kreis in den Nachkriegsjahren und Küttner führte ihn in den 1960er und 70er Jahren zum Christusdienst.

Gerhard Küttner selbst ist als Bräunsdorfer Pfarrer und als ein „Kopf“ des Volksmissionskreises durchaus ambivalent in positiver als auch schmerzlicher Erinnerung geblieben – und er sollte im Gedächtnis bleiben, nicht nur um eine differenzierte Urteilsbildung zu gewinnen. Wenn nun in diesem Beitrag seine Theologie und die Streitpunkte kaum dargestellt werden konnten, soll er, auch im Hinblick auf die notvollen Entwicklungen seiner Altersjahre, abschließend selbst zu Wort kommen:

„Lob und Dank! Das sei die Antwort auf alle Erfahrung, die ich mit mir selbst machen muß: Lob und Dank [...]. Da sind die Kräfte, die von oben her kommen, wirksam, wo gelobt und gepriesen wird. Unterlaßt es nicht, auch dann, wenn ihr – wo es sein muß – im Dunkel seid.“[23]

 

 


[1] Biographische Daten sind, soweit nicht anders vermerkt, entnommen aus: Landeskirchenarchiv Dresden, Bestand 2, Landeskirchenamt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, Nr. 935, Blatt 1–4.8 (im Folgenden kurz: LKA DD, Best. 2, Nr. 935).

[2] LKA DD, Best. 2, Nr. 935, 4.

[3] Vgl. Küttner, Gerhard, Christus für uns, Christus in uns, Christus durch uns. Die vielfältigen Segensströme des Opfers Jesu und das königliche Priestertum nach 3. Mose 8 [2 Teile mit eig. Seitenzählung], hg. v. Reiner-Friedemann Edel, Lüdenscheid 1997, Teil II, 87f (kurz: Küttner, Christus für uns I/II).

[4] LKA DD, Best. 2, Nr. 935, 4.

[5] Vgl. auch Prehn, Christa, Begegnung mit der Vergangenheit, Selbstverlag, Chemnitz 1994, 4f.35f.

[6] LKA DD, Best. 2, Nr. 935, 4.

[7] Ein genauer Beginn der Haft ist dem Autor nicht bekannt.

[8] LKA DD, Best. 2, Nr. 935, 31.

[9] Vgl. Küttner, Christus für uns II, 140.

[10] Vgl. LKA DD, Best. 2, Nr. 935, 58.107.138.

[11] Vgl. die verschiedenen Notizen in: Archiv Superintendentur Chemnitz, Superintendentur Chemnitz II, Reg. 1086, Parochie Bräunsdorf (kurz: Suptur Chemnitz).

[12] So Sup. Schulze im Brief an das Landeskirchenamt vom 14.12.1951, Suptur Chemnitz, Reg. 1086.

[13] Vgl. z.B. Notizen in Suptur Chemnitz, Reg. 465.1086.

[14] Davon zeugen Briefwechsel und Aktennotizen in Archiv Diakonisches Amt Radebeul, Reg. 404/8/D (kurz: Diakon. Amt), Suptur Chemnitz, Reg. 489.1086. Wichtig war vor allem die Frage der Angliederung der Schwesternschaft an eine kirchl. Einrichtung. Dabei wurde seitens der Kirchenleitung bzw. Inneren Mission eine Angliederung an die Innere Mission oder ein Diakonissenmutterhaus erwägt, vonseiten Küttners und der Superintendentur Karl-Marx-Stadt II eine Zuordnung an den Volksmissionskreis vertreten. Fragen um Steuerfreiheit und Rentenversicherung wurden sehr intensiv diskutiert.

[15] Einige dieser Mitschnitte sind in den 1990er Jahren durch Reiner-Friedemann Edel verschriftlicht und in dessen Verlag veröffentlich worden, so z.B. Küttner, Christus für uns I.II.

[16] Den genauen Beginn der Vorstandstätigkeit Küttners konnte der Verfasser bis jetzt nicht ermitteln.

[17] Vgl. Rundschreiben des Vorstandes vom 25.5.1977 und Briefwechsel in Archiv Geschäftsstelle des Volksmissionskreises Sachsen, Ordner 1977.

[18] Die wichtigsten Quellen für die nachfolgende historische Skizze bilden Prehn, Hans, Volksmissionskreis Sachsen. Zeugen und Zeugnisse im Rückspiegel, hg. v. Christa Prehn, Schwaben 2001 (kurz: Prehn, H., Volksmissionskreis); Theologische Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (Hg.), Charismatische Bewegung in der DDR. Bericht über Phänomene und Aktivitäten charismatischer Prägung in evangelischen Kirchen in der DDR, BTSBEK A3, Berlin 1978 (kurz: ThSA, Charismatische Bewegung; diese Studie ging auf in Kirchner, Hubert / Planer-Friedrich, Götz / Sens, Matthias / Ziemer, Christof (Hgg.) im Auftrag der Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Charismatische Erneuerung und Kirche, Berlin 1983); Diakon. Amt, Reg. 404/8.

[19] Vgl. Klenner, Gottfried, Erlebtes vom Neuanfang der Kirche, Berlin 1939, 3.

[20] ThSA, Charismatische Bewegung, 5.

[21] Prehn, H., Volksmissionskreis, 72.

[22] Küttner, Gerhard, Rundbrief des Volksmissionskreises 5/1965, Diakon. Amt, Reg. 404/8/Bd. 3.

[23] Küttner, Christus für uns I, 86.

Dr. Markus Schmidt

studierte Evangelische Theologie in Leipzig und wurde für seine Forschungen zur Geschichte des Volksmissionskreises mit einem Stipendium der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens unterstützt.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2011 ab Seite 08