Antisemitismus aus Tradition?

Impulse für eine Erneuerung der Theologie auf der Generalversammlung des Evangelischen Bundes

„Wie hälst du’s mit dem Judentum?“ Diese Frage stellt sich aktuell auch für die evangelische Theologie. Der Evangelische Bund hat auf seiner Generalversammlung 2024 in Koblenz das Thema aufgegriffen.

Ist das Christentum eine antijudaistische Religion? Über Jahrhunderte drängte sich dieser Eindruck auf. Die übliche Darstellung des Verhältnisses von christlicher Seite war davon geprägt, Judentum und Christentum als getrennte Religionen zu präsentieren, wobei Jesus in einen schroffen Gegensatz zu seinen jüdischen Wurzeln gestellt wurde.

Nein, das Christentum ist keine antijudaistische Religion! Davon zeigt sich Dr. Jeniffer Ebert überzeugt. Sie ist neue Ökumenereferentin der Ev.-Luth. Kirche in Bayern und war u.a. wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Projekt „Die Kirchen und das Judentum – Dokumente von 2001 bis 2020“ (EKD) am Institut für christlich-jüdische Studien und Beziehungen an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. In ihrem Hauptreferat bei der Generalversammlung des Evangelischen Bundes hat sie dies überzeugend dargelegt.

 

Tradition flexibel

Die Oberammergauer Passionsspiele haben eine lange Tradition. 1634 wurde das mehrstündige Theaterstück erstmalig aufgeführt, in dem die letzten Tage im Leben von Jesus szenisch dargestellt werden. In der im Jahr 2000 vorgenommenen größten Textreform seit 1860 ist es dem Intendanten und Spielleiter Christian Stückl gelungen, die Aufführung von antijudaistischen Stereotypen zu befreien. Die Handlung ist nunmehr als innerjüdischer Konflikt angelegt. Jesus erscheint dort als Kämpfer für seinen jüdischen Glauben. 28 neue Szenenbilder, über 2000 neue Kostüme sind dafür entstanden. Das Beispiel zeigt: Eine antisemitismusfreie Theologie ist möglich und nötig.

Vor dem Holocaust gab es in der christlichen Theologie so gut wie keine Ansätze, die überhaupt den Juden eine theologische Existenzberechtigung geben. Allerdings ist auf zwei Personen hinzuweisen, die sich auch mit dezidiert theologischen Argumenten während des Nationalsozialismus für Juden eingesetzt hatten: Dietrich Bonhoeffer und Elisabeth Schmitz.

In „Die Kirche vor der Judenfrage“ forderte Dietrich Bonhoeffer, die Kirche müsse ihr Wächteramt gegenüber dem Staat wahrnehmen und sei gegenüber Opfern von staatlicher Willkür zur Hilfeleistung verpflichtet. Dabei gehe es nicht nur darum, die Opfer zu verbinden, sondern „dem Rad in die Speichen zu fallen“.

Die Berliner Lehrerin Elisabeth Schmitz (1893-1977) kämpfte vergeblich darum, dass die Bekennende Kirche sich auch zu den Juden äußern solle. In ihrer zunächst anonym publizierten Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ beschrieb sie 1935 die gegenwärtige und prognostizierte zutreffend die zu erwartende Verfolgung jüdischer Menschen – verbunden mit dem Appell an die Verantwortlichen bei der Bekennenden Kirche, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Dabei verwies sie u.a. auf die Herkunft der Kirche aus dem Judentum und war damit ihrer Zeit deutlich voraus.

Erst nach der Katastrophe des Holocaust erfolgte ein Neuansatz in der Theologie. Markant dafür waren die Selisberger Thesen, die 1947 im Dialog mit jüdischen Vertretern erarbeitet wurden. Katholisch-dogmatisch wurde diese neue Sicht auf das Judentum im Rahmen des 2. Vatikanischen Konzils in der Deklaration „Nostra Aetate“ (1965) formuliert. Der bislang kirchlich-exklusive Wahrheits- und Heilsanspruch wurde darin geöffnet.

 

Jüdische Beiträge

Auch aus jüdischer Perspektive gibt es beachtenswerte Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog. US-Amerikanische Rabbiner haben im Jahr 2000 das Dokument „Dabru Emet“ („Redet Wahrheit“) veröffentlicht, das von über 220 Rabbinern und jüdischen Intellektuellen unterzeichnet wurde. Es benennt in 8 Thesen zentrale Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Christen. Im Jahr 2015 aus Anlass des 50jährigen Jubiläums der Konzilsdeklaration „Nostra Aetate“ erklärten Orthodoxe Rabbiner in dem Dokument „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen.“ : „Wir möchten den Willen unseres Vaters im Himmel tun, indem wir die uns angebotene Hand unserer christlichen Brüder und Schwestern ergreifen. Juden und Christen müssen als Partner zusammenarbeiten, um den moralischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.“ 1

Zahlreiche solche Dokumente sind in dem ökumenischen Projekt „Die Kirchen und das Judentum“ strukturiert zugänglich gemacht. Auf der Internetseite www.dokiju.de sind sowohl die bisherigen Bände als auch neue Dokumente gesammelt.

 

Kirche und Israel

m Jahr 2015 wurde an der Philadelphia University eine Skulptur eingeweiht, die Ecclesia und Synagoge darstellt – als zwei Frauen auf gleicher Höhe, die ihre Schriften ausgebreitet haben und darüber diskutieren. Dieses Bild steht für einen neuen Umgang, der das alte Modell der Abwertung überwindet.

Anfang der 2000er-Jahre wurde auch in Deutschland ein Prozess in Gang gesetzt, in dem verschiedenen Landeskirchen ihre Verfassungstexte dahin gehend durchgesehen haben, was darin für ein Verhältnis zum Judentum zum Ausdruck kommt. So enthält z.B. die Präambel der Verfassung der Ev.-Luth. Kirche in Bayern (ELKB) einen Verweis auf die grundlegende christologische Bedeutung Israels: „Mit der ganzen Kirche Jesu Christi ist sie aus dem biblischen Gottesvolk Israel hervorgegangen und bezeugt mit der Heiligen Schrift dessen bleibende Erwählung“. Ähnlich formuliert die evangelische Kirche im Rheinland: „Sie bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ In Westfalen ist es sogar gelungen, den Bezug auf Israel in die trinitarische Glaubensdarstellung aufzunehmen: „ Sie tut dies im Vertrauen auf den dreieinigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der Israel zu seinem Volk erwählt hat und ihm die Treue hält, der in dem Juden Jesus, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, Menschen zu sich ruft, und durch den Heilige Geist Kirche und Israel gemeinsam zu seinen Zeugen und zu Erben seiner Verheißung macht. “

 

Liturgie

Nun kommt es darauf an, auch die liturgischen Texte darauf durchzusehen und ggf. zu reformieren, erläuterte Dr. Ebert: Suggerieren sie ein heilsgeschichtliches Nacheinander? Oder formulieren sie parallel: Gott handelt gleichermaßen an Israel und seiner Kirche? Da ist noch manches zu tun, damit sich die theologische Erkenntnis ausdrückt: Gott hat den jüdischen Menschen Jesus als seinen Sohn qualifiziert.

Harald Lamprecht

1

http://jcha.de/beitraege/Den_Willen_unseres_Vaters_im_Himmel_tun.pdf

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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