Kirschblütengemeinschaft in Berlin
Am 19. September 2009 starben in der Praxis des Psychotherapeuten Garik R. zwei Menschen, ein dritter fiel ins Koma. Der praktizierende Arzt gab an, dass er eine Gruppensitzung der psycholytischen Therapie mit 12 Patienten abgehalten hatte und in diesem Rahmen seinen Patienten halluziogene Substanzen verabreichte. Er sitzt nun in Untersuchungshaft. Voraussichtlich wird eine Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge gegen ihn erfolgen. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, dass die beiden Patienten an einer Überdosis Ecstasy (MDMA) starben. Es wird von einem Kunstfehler ausgegangen.
Garik R. arbeitete als Allgemeinmediziner und Psychotherapeut mit kassenärztlicher Zulassung. 2006 bat er die Ärztekammer um Erlaubnis sein Praxisschild mit „psycholytische Psychotherapie“ zu beschriften, was ihm nach Überprüfung erteilt wurde.
Die psychloytische Therapie
Bei der psycholytischen Psychotherapie, kurz Psycholyse genannt, werden dem Patienten halluzinogene Stoffe wie LSD oder MDMA verabreicht. Im so entstandenen Rauschzustand sollen unbewusste Nöte und Konflikte zu Tage treten und erkannt werden können. Therapeuten wollen so zu tieferen Bewusstseinsebenen durchdringen, um Blockaden zu lösen und Verdrängtes hervorzuholen.
Für die Entwicklung der psycholytischen Methode waren die Arbeiten von Hanscarl Leuner (1918 - 1996) maßgebend. Seine Forschungen zur Unterstützung verschiedener halluzinogenen Substanzen in der Psychotherapie Mitte der 50ziger Jahre legten den Grundstein der heutigen Psycholyse. Weitere Vertreter der psycholytischen Therapie sind Stanislav Grof, Timothy Leary und Samuel Widmer.
Nach 1971 wurden viele psychoaktive Substanzen in Deutschland durch das „Betäubungsmittelgesetz“ für Therapiezwecke als „nicht verkehrsfähig“ oder „verschreibungspflichtig“ bezeichnet.
Garik R. machte in den 90ziger Jahren eine dreijährige Ausbildung bei dem Schweizer Psychotherapeuten Samuel Widmer, der sich auf dem Gebiet der Psycholytischen Psychotherapie spezialisierte.
Samuel Widmer und seine Lehre
Samuel Widmer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er führt eine eigene Praxis im Lüsslingen in der Schweiz. Von 1988 bis 1993 hatte Widmer eine Spezialbewilligung vom Eidgenössischen Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) mit halluzinogenen Substanzen wie LSD psycholytische Therapien durchzuführen. Diese Art von Genehmigungen wurde jedoch 1993 generell entzogen. Widmer betont heute, nur mit erlaubten Substanzen wie Ketamin und Ephedrin zu arbeiten.
Er lebt mit seiner Ehefrau, einer ehemaligen Patientin und seiner Lebenspartnerin sowie den gemeinsamen Kindern in Nennigkofen.
Samuel Widmer entwickelte im Laufe der Jahre eine eigenständige Lehre, die Einflüsse aus dem Hinduismus und der Esoterik aufweist.
Er provoziert, indem er die moralischen Grenzen der Gesellschaft überschreitet. So z.B. durch seine Propagierung der Enttabuisierung des „ehrbaren Inzests“ zwischen Vater und Tochter bzw. Mutter und Sohn. Durch den Tabubruch will er zu einer „wahren Beziehung“ zwischen Eltern und Kind führen, die ohne Reglementierungen und Einschränkungen gelebt werden soll.
Widmer selbst bezeichnet sein Wirken als Suche nach Freiheit und Wahrheit jenseits verlogener Konvention. Die Grundlage für jeden wahrhaftigen Kontakt mit anderen Menschen sei die vorbehaltlose und offene Begegnung ohne Tabus und Verbote. Nur wo alles erlaubt und möglich wäre, z.B. auch der Geschlechtsverkehr mit der Partnerin des Freundes, könne wahrhaftige Freundschaft und Begegnung geschehen.
Nach Widmers Meinung legen sich im Laufe der menschlichen Entwicklung immer mehr „emotionale Schichten“ um den wahren Wesenskern der Psyche, die Quelle der Lebensfreude des Menschen. Um wahrhaftig leben zu können, müsse sich ein Mensch erst von diesen Schichten befreien. Das soll mit Hilfe der Psycholyse gelingen. Auch die Sexualität trägt nach Widmer Potenzen in sich, das wahre menschliche Sein zu finden. Die Vorstellung des Tantra steht neben Meditation und Therapie, die Partner zu einer vollkommenen Einheit mit sich und miteinander führen soll. So können Psychotherapie und Sexualität auch ineinander münden, z.B. durch eine wahrhafte Begegnung nach abgeschlossener Therapie.
Die Kirschblütengemeinschaft
Um Widmer und seine Ehefrau Daniele Nicolet versammeln sich Menschen, die ihre Auffassung vom Leben und die Sehnsucht nach Freiheit teilen. 1996/97 schlossen sich etwa 75 Erwachsene und 60 Kinder zur Kirschblütengemeinschaft zusammen. Die örtlichen Mittelpunkte sind Nennigkofen und Lüsslingen in der Schweiz.
Als Ziel der Gemeinschaft wird die Selbsterkenntnis angegeben. Ein Weg dahin führt über die tantrische und therapeutische Arbeit von Widmer und Nicolet, von denen gesagt wird, dass sie mit ihren Seminaren und Kursen „den Kristallisationspunkt“ der Gemeinschaft bilden.
Lebensfragen nach Liebe, Beziehung und befreite Sexualität sowie Glücksfähigkeit und Erleuchtung bewegen die Gruppe. Sie wollen ein Feld schaffen, in dem die Liebe ihre Kraft ungehindert entfalten kann und Ängste, Gier und Geiz verdrängt werden. Ein neues Menschsein wird angestrebt, das sich aus Hinweisen und Impulsen menschlicher Vorbilder schöpfen soll.Die Familienstruktur wird betont, Freunde und Freundinnen werden zu Geschwistern. Um die Gemeinschaft zu schützen, grenzen sich die Mitglieder von ihrer Umwelt ab.
Widmer selbst sieht sich nicht als „Begründer“, sondern als „Beobachter“ der Gemeinschaft, die sich um ihn herum durch Freundschaften und Beziehungen entwickelt und ausdehnt. Dies soll dem Selbstverständnis der Gruppe entsprechen, die sich als freie Gemeinschaft ohne künstliche Autoritäten, Hierarchien und Ideologien versteht.
Therapeutisch-Tantrisch-Spirituelle Universität
Die dazu Berufenen, das Gelernte in die Welt zu tragen, bilden die Therapeutisch-Tantrisch-Spirituelle Universität. Sie bemühen sich in ihrem Angebot alle therapeutischen Bereiche, Fragen der Lebensberatung, des Heilens und der spirituellen Begleitung abzudecken. Es geht ihnen nach eigenen Angaben darum dem Menschen beizustehen, sich von jeglicher Konditionierung zu befreien.
Kein Zusammenhang?
Auf ihrer Webseite wehren sich die Mitglieder der Kirschblütengemeinschaft gegen einen Zusammenhang zwischen ihnen und den Vorkommnissen in der Praxis des Garik R.
Sie geben an, dass er lediglich vor 15 Jahren eine Ausbildung bei ihnen absolvierte, sehen aber darüber hinaus keine Verbindung. Verschwiegen wird dabei, dass Garik R. im Seminarprogramm von Widmer-Nicolets „Therapeutisch-Tantrisch-Spirituellen Universität“ für 2010 als Seminarleiter in Berlin angekündigt ist und offenbar regelmäßig in diesem Rahmen aktiv ist („wie immer“). Im Übrigen beklagen sie die fehlende Einbettung der Psycholyse in das Gesamtsystem der Medizin an, durch welches „Entgleisungen“ wie der Fall Garik R. erst zustande kämen. Sie verteidigen die Methoden der Psycholyse und sehen ihre Arbeit als „wichtig“ für „verlorene“ Menschen an.
Kritik
Auffällig ist zum einen, dass sich bei der Gemeinschaft der Kirschblüten trotz des Vorfalls in Berlin kein erkennbares Problembewusstsein bezüglich ihrer therapeutischen Methode zeigt. Ohne Einschränkung preisen sie die psycholytische Psychotherapie weiterhin als heilsame Therapieform an. Sie distanzieren sich von Garik R., ohne sich mit ihrem ehemaligen Schüler auseinanderzusetzen.
In den auf der Webseite veröffentlichten „Briefen an die Welt“ von Samuel Widmer steht der Wunsch, die Welt retten zu wollen, neben der Überzeugung es auch tun zu können und zu müssen. Dieses Sendungsbewusstsein überträgt sich auf die Gemeinschaft. Sie wollen der Welt den Weg zur vollkommenen Freiheit zeigen. Dies tun sie durch ihr Plädoyer sämtliche Regeln und Tabus, die ihrer Meinung nach gegen die menschliche Natur gerichtet seien, außer Kraft zu setzen.
Die Kirschblütengemeinschaft gibt an, keinen „Leiter“ oder „Gründer“ zu haben und jegliche Hierarchien überwunden zu haben. Faktisch ist der prägende Einfluss der charismatischen Figur Samuel Widmers nicht zu übersehen.
Gegenwärtig wird die psycholytische Psychotherapie von der Mehrheit der Wissenschaftler abgelehnt.
Therapieformen mit bewusstseinserweiternden Substanzen werden von Michael Utsch, dem Experten für Psychogruppen der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen als gefährlich eingestuft. Sie gelten als problematisch, da nicht genau beschrieben wird, wie der Therapeut hinterher mit der gewonnenen „grenzenlosen Selbsterkenntnis“ des Patienten umgeht. Folgen einer psycholytischen Behandlung können z.B. Depressionen und seelisches Chaos sein.
Therapiefreiheit erfordert eigene Auseinandersetzung
In Deutschland besteht eine „Therapiefreiheit“. Daher ist es zulässig, dass ein Arzt Therapieformen anbietet, die nicht im Bereich der Schulmedizin zu finden sind, wie z.B. die Psycholyse. Der behandelnde Arzt trägt dabei die volle Verantwortung. Die Ärztekammer kann nicht jeden einzelnen praktizierenden Therapeuten kontrollieren, daher sind die Patienten selbst aufgerufen sich über die angebotene Therapieform ihres Arztes genau zu informieren und gründlich abzuwägen, ob sie sich dieser unterziehen möchten.
Der tragische Fall von Berlin weist darauf hin, dass es lebensnotwendig sein kann, sich gründlich mit den Hintergründen besonderer Therapieformen auseinanderzusetzen, egal ob sie von Heilpraktikern oder Ärzten angeboten werden.
Auf seinem Praxisschild bietet Garik R. „psycholytische Psychotherapie in Einzel- und Gruppensitzungen“ an. Eine Beschäftigung mit dieser Therapierichtung wäre möglich gewesen.
Dorothea Muth