Geistlicher Missbrauch in radikalen christlichen Gemeinschaften
„Sekten“ - das sind immer nur die anderen. So lautet ein weit verbreitetes Vorurteil. Dass aber keine Gruppe oder Gemeinde - auch nicht die frömmste - grundsätzlich von der Gefahr befreit ist, problematische Strukturen zu entwickeln, statt Freiheit in Abhängigkeit zu führen und damit für ihre Mitglieder im umgangssprachlichen Sinn selbst zur „Sekte“ zu werden, war das Thema eines Studientages am 2. 2. 2007 in Chemnitz. Grundlegende Aussagen aus dem Eingangsreferat sind nachfolgend dokumentiert. In einem zweiten Teil, der hier nicht wiedergegeben wird, wurde als Beispiel analysiert, wo sich diese Kriterien in der von Ivo Sasek gegründete Organischen Christus-Generation (OCG) wiederfinden.
Missbrauch von Vertrauen
Der Begriff „geistlicher Missbrauch“ ist nicht sehr behaglich, denn er weckt starke Assoziation an sexuellen Missbrauch. Dies ist auch nicht ganz unberechtigt, denn beide hinterlassen tiefe seelische Verletzungen. Ihr gemeinsames Element ist der massive Verlust von Vertrauen, der durch Grenzüberschreitungen verursacht wird. In beiden Fällen sind die Täter in der Regel nahestehende Menschen, von denen man eigentlich Schutz und Hilfe erwartet und zu denen man sich in einer abhängigen Position befindet. Beim sexuellen Missbrauch wird die Körperbeziehung gestört, beim geistlichen Missbrauch hingegen die Gottesbeziehung angegriffen, denn in der Regel werden die Taten im Namen Gottes legitimiert. Ebenfalls gemeinsam ist das Fehlen der Liebe, die eigentlich in beiden Bereichen grundlegend und beziehungsstiftend sein sollte.
Neben der individuellen ist beim geistlichen Missbrauch auch die soziale Komponente zu bedenken. Es gibt Auswirkungen auf Familien und Gemeinden. Ehepartner klagen über die systematische Zerstörung ihrer Ehe, Gemeindeleiter über Gemeindespaltung.
Eine erste kurzgefasste Definition könnte lauten: „Geistlicher Missbrauch ist der Einsatz geistlicher Autorität zum Ausbau der eigenen Machtposition.“ Häufig werden dafür zwei Mittel angewendet: 1. Forderungen ohne Liebe (moralischer Perfektionismus), und 2. die Inanspruchnahme göttlicher Legitimation für menschliche Absichten.
Der Rahmen, in dem sich geistlicher Missbrauch vollzieht, ist die christliche Gemeinde. Seine Opfer sind folglich engagierte Christen. Das Interesse am Glauben macht sie anfällig. Diese Tatsache ließe sich durchaus als teuflische Verführung bezeichnen. Die Opfer werden durch ihr besonderes Interesse an Gott am Glauben irre gemacht. Viele erleiden eine nachhaltige Störung ihrer Gottesbeziehung, weil sie im Namen Gottes enormem seelischen Druck ausgesetzt wurden.
In dem Buch „Geistlicher Missbrauch“ von David Johnson und Jeff VanVonderen findet sich folgende Definition: „Geistlicher Missbrauch ist der falsche Umgang mit einem Menschen, der Hilfe, Unterstützung oder geistliche Stärkung braucht, mit dem Ergebnis, dass dieser betreffende Mensch in seinem geistlichen Leben geschwächt und behindert wird.“ Wenig später wird dazu erläutert: „Geistlicher Missbrauch kann geschehen, wenn eine führende Persönlichkeit seine oder ihre geistliche Stellung dazu benutzt, einen anderen Menschen zu kontrollieren oder zu dominieren.“1 Kernpunkte sind folglich Dominanz und Kontrolle gegenüber Hilfesuchenden.
Woran kann man erkennen, dass geistlicher Missbrauch stattfindet? Viele Aspekte lassen sich auf 3 Merkmale zusammenfassen, die wie Pfeiler das System tragen.
- Starke Autoritätsstrukturen
- Exklusivität: Abschottung und Elitedenken
- Strenge Verhaltensnormen und Leistungsfrömmigkeit
Diese stehen z.T. zueinander in Beziehung und treten in verschiedenen Kombinationen immer wieder auf.
1. Unhinterfragbare Autorität
Gefährlich wird es immer dann, wenn die Leitungsperson bzw. ein Leitungskreis eine besondere, deutlich herausgehobene Stellung bekommen, die sie über die normale menschliche Ebene erheben. Die Erhöhung des spirituellen Meisters führt umgekehrt zur Abwertung und Entpersönlichung der Anhänger. Woran erkenne ich, wenn die Leitung ungute Autoritätsansprüche stellt? Mögliche Kontrollfragen sind:
a) Umgang mit Kritik: Geht Kritik immer nur von oben nach unten (Die Autorität sagt, was der Gläubige in seinem Leben noch verbessern muss)? Ist derjenige, der sachliche Kritik übt, willkommen, oder selbst ein Problem? Ist man offen für die Ursachen der Kritik? Oder will man lieber die Kritiker beseitigen statt das Problem zu beseitigen?
b) Auslegungsmonopol: Nimmt die Führung für sich in Anspruch, einen direkteren Draht zu Gott zu haben, aus dem sich ein Unfehlbarkeitsanspruch zeigt? Gibt es eine geistliche Monokultur durch die Zentrierung auf eine Person bzw. eine kleine Personengruppe (nur deren Auslegung zählt, nur deren Schriften werden verwendet)? Dient die Bibel nur als Belegstellenbuch für eigene Überzeugungen? Hinweise darauf wären zu viel Würze mit Bibelstellen (Bibel-Hopping quer durch die Bücher) und „Konkordanzbeweise“ ohne zusammenhängende Textanalyse.
c) Gleichsetzung menschliche Beziehung = Gottesbeziehung: Gefährlich ist eine Gleichsetzung der Beziehung zur Gemeinde und der Beziehung zu Gott. Dies führt nämlich schnell zur der Konkretion, dass die Beziehung zum Gemeindeleiter über die Beziehung zu Gott direkt Auskunft geben soll. Ist man einmal mit dem Gemeindeleiter nicht einverstanden, so wäre dies eine Rebellion gegen Gottes Willen. Zwar gilt nach dem Neuen Testament, dass Gottesliebe und Nachfolge Jesu sich an der Liebe zu den Mitmenschen erweist. Gefährlich ist dennoch die äußere Prüfung und Abrechnung dieses Verhältnisses in Form einer Messlatte und die Einschränkung auf eine konkrete Gruppe: Wie deine Beziehung zu uns (Gemeinde / Gemeindeleitung) ist, zeigt, wie dein Verhältnis zu Gott ist. Sich von der Gemeinde zu trennen hieße dann, sich zugleich von Gott zu trennen.
In den Zusammenhang einer falschen Gleichsetzung gehört auch die Berufung auf besondere Beziehung zu bzw. exklusive Verbindung mit dem Willen Gottes. Wo eigenes Reden und Denken direkt als Botschaft und Wille Gottes ausgegeben wird, ist menschlicher Widerspruch bzw. eine normale Diskussion darüber zunächst verhindert.
d) Unterordnung: Wird in starker Weise Unterordnung unter die Autoritäten gefordert? Welche Rolle spielt dieses Thema in den Lehren der Gemeinschaft? Wie viel Engagement verwendet die Leitung auf den Ausbau ihrer Autorität? Auffällig ist, dass insbesondere konflitktträchtige Gruppen meist überproportional viel Gewicht auf das Thema Unterordnung und Gehorsam legen.
2. Exklusivität - Abschottung - Isolation
Separatismus ist die Flucht in die Exklusivität. Der Hang zum Ausschluss aus der Gesellschaft ist oft ein Grundzug extremer Gruppen. Der schmale Pfad zum Heil (auf dem man sich zu befinden meint) wird noch mit Mauern versehen, damit man nicht in die „böse Welt“ abgleiten kann. Zugleich wird die komplexe Vielfalt der modernen Welt auf ein einfache Schema reduziert, in dem es nur zwei Zustände gibt: entweder man ist auf dem Fundament (= eigene Gruppe), oder man ist es nicht (= alle anderen). Identität entsteht durch die harte Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen. Die Folgen sind fatal: Es kommt nicht selten zum Abbruch von Freundschaften zu Personen außerhalb der eigenen Gruppe. Damit fehlt die lebendige Auseinandersetzung mit anderen Ideen. Die zudem oft anzutreffende Ablehnung von Kultur / Kino / Theater / Fernsehen verstärkt die Ghettoisierung. Wie kommt es dazu?
a) Das Gefühl der eigenen Besonderheit wird systematisch gefördert („Wir haben eine besondere Mission...“ „Nur bei uns gibt es echtes geistliches Wachstum...“, „Unsere Gemeinde ist besonders von Gott gesegnet...“). Dies entspricht dem Prinzip der „geretteten Familie“. Solches Denken motiviert einerseits zu starkem Engagement in der Gruppe, im Nebeneffekt verstärkt es aber den Kontrast zur Außenwelt und wird so zu einem wichtigen Mittel der Bindekraft einer solchen Gruppe.
b) Abwertung der Anderen: e ine Abwertung aller nicht zur Gruppe gehörenden Bereiche geschieht einerseits gegenüber der Welt allgemein, die nur negativ in den Blick kommt und in den schwärzesten Farben geschildert wird (Drogen, Alkohol, Pornografie, Verbrechen, ...). Dieses Zerrbild der Wirklichkeit kann verhindern, dass außerhalb der Gemeinde Hilfe gesucht wird oder dass Straftaten bei weltlichen Gerichten angezeigt werden. Andererseits wird die Abwertung ebenso gegenüber anderen christlichen Gemeinden und Kirchen vollzogen, die als moralisch verkommen, mit Schuld beladen (Kreuzzüge, Inquisition, Hexenprozesse etc.) oder geistlich tot, nicht so von Gott gesegnet usw. dargestellt werden.
c) Schwarz/Weiß-Denken: Wenn keine Graustufen mehr wahrgenommen werden, wird alles gleich wichtig - genauergesagt: jede noch so kleine Abweichung ist ganz schlimm. Entweder, du bist mit allem Einverstanden, oder du fällst aus der Gnade, es kommt zum Bruch.
c) Kontaktabbruch: Wo Kontakte zur Außenwelt abbrechen und freundschaftliche Kontakte nur noch in dem beschränkten Gruppenmilieu gesucht werden, hat dies fatale Folgen und verhindert in der Regel das Erkennen von Schieflagen und erschwert das Verlassen der Gruppe enorm.
d) hoher Innendruck mit sozialer Kontrolle: Mitglieder überwachen sich gegenseitig und aus Angst vor der Meinung der Gruppe wird eine Fassade präsentiert, die nicht dem wahren Leben entspricht.
3. Religiöse Überforderung aufgrund einer leistungs-orientierten Frömmigkeit
Das grundsätzliche Anliegen dahinter ist zunächst positiv: Es geht darum, nach dem Willen Gottes für das persönliche tägliche Leben zu fragen, sich ganz in Gottes Dienst zu stellen (nicht nur am Sonntagvormittag) und sich um das Vermeiden des Bösen, die persönliche Heiligung zu bemühen. Die Praxis zeigt: Dies ist oft ein schwieriges Unterfangen, denn das Heiligungsstreben entwickelt leicht zwanghafte Züge, es Gott recht machen zu wollen. Viele äußere Vorschriften, Erwartungen, Abgrenzungen regeln das Leben, so dass Gott zum inneren Polizisten verkommt, der ständig das Verhalten auf übertretene Verbote überprüft. Eine solche Einstellung verkennt den Charakter christlicher Freiheit.
Problematisch ist es, wo ein rigider Moralkodex zum Kennzeichen und Prüfstein für das rechte Glaubensleben wird. Weil sich die äußere Lebensform leichter kontrollieren lässt als echtes geistliches Leben, soll dann ob jemand raucht oder trinkt, ins Kino geht oder welche Musik er hört, Auskunft über die Ernsthaftigkeit des Glaubens geben. Die christliche Ethik verkommt dabei zu einer Vermeidungsmoral, die fest stellt, was man alles nicht darf.2
Das perfektionistische Dilemma
Das Ziel hinter einer solchen Haltung heißt letztlich: Heilssicherheit durch Regeleinhaltung zu gewinnen. Dies ist nicht nur ein Zeichen des Misstrauens gegenüber Gott und seiner Gnade, sondern dieser Hang zum Perfektionismus führt zudem in ein schweres Dilemma:
entweder man kommt in quälende Selbstzweifel angesichts der Erkenntnis des eigenen Ungenügens. Schuldgefühle, treiben dann zu noch größerer Anstrengung und neuem Scheitern, oder
(bei Ignoranz dem gegenüber) gerät man in rechthaberische Selbstgerechtigkeit und pflegt fromme Illusionen über sich selbst.
Dies ist ein ernsthaftes Problem, denn es hat weitreichende Folgen - vor allem für die Umwelt solcher unbewussten Heuchler. Die Folgen sind oftmals verschobene Gewichte und Wertigkeiten. Johnson und VanVonderen beklagen in ihrem Buch auch das Beispiel einer Gemeinde, die sexuellen Missbrauch des Pastors deckt, um kein Aufsehen und keinen Skandal zu bekommen, aber um würdige Kleidung zum Abendmahl streitet. Da ist das erfüllt, was Jesus mit dem Wort, dass sie „Mücken aussieben, aber Kamele schlucken“ (Mt 23,24) anklagt.
Bei Seelsorgefällen gibt es in diesem Zusammenhang mitunter kein wirkliches Eingehen auf den betroffenen Menschen. Nicht die Lösung wird dem Menschen und seinem Problem angepasst, sondern der Mensch soll sich der fertigen Lösung anpassen. Damit wird das Problem zu demjenigen verlagert, der eigentlich Hilfe gesucht hatte und nun doppelt belastet ist: 1. mit seinem Problem und 2. dass er auch selbst Schuld daran ist und es alleine ändern muss.
Die problematischste Folge einer solchen Gesetzlichkeit ist aber ein verzerrtes Gottesbild: Was ist das für ein Gott, der solches von uns fordert? Diese gestörte Gottesbeziehung macht es geistlich missbrauchten Menschen oft noch jahrelang schwer bis unmöglich, ein neues und erfülltes Verhältnis zu Gott zu finden. Nicht wenige brechen völlig mit dem christlichen Glauben.
Unausgesprochene Regeln
Johnson und VanVonderen weisen darauf hin, dass in vielen Gemeinden nicht ausgesprochene Regeln existieren, die unterschwellig aber sehr wirksam sind. Sie werden meist nicht ausgesprochen, weil sonst deren Absurdität offensichtlich würde. Dennoch - oder gerade deshalb - sind sie sehr wirkmächtig und können unbewusst das Handeln ganzer Gemeinden bestimmen:
- „Gott belohnt geistliches Leben mit materiellen Gütern.
- Wenn ich geistlich genug bin, wird mich nichts emotional belasten.
- Ich kann Menschen, die eine geistliche Autorität sind, nichts verweigern.
- Alle im christlichen Dienst sind von Gott gerufen. Sie sind geeignet und man muss ihnen vertrauen.
- Gott braucht mich im vollzeitlichen Dienst.
- Dass es Schwierigkeiten in meinem Leben gibt, ist ein Hinweis auf mangelnden Glauben.
- Wenn ich über Probleme spreche, die ich als Christ habe, wirft das ein schlechtes Licht auf Gott.
- Einssein bedeutet, in allem mit den anderen übereinzustimmen.“3
Dass diese Thesen in den meisten Fällen falsch sind, ist nicht für jeden sofort erkenntlich. Darum können sie leicht als Druckmittel gebraucht werden.
Die Liebe als Basis der christlichen Freiheit
Gegen solche Vereinnahmung und Versklavung im Namen des Glaubens steht das Wort des Paulus aus dem Galaterbrief: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal. 5,1) Wenige Zeilen weiter heißt es: „Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig.“ Die Rede ist hier ganz eindeutig vom Sauerteig der Gesetzesfrömmigkeit, der Gerechtigkeit aus eigener Leistung. Falsche Lehrer wie z.B. Ivo Sasek verkehren diese Stelle in ihr Gegenteil, indem sie den Sauerteig als Sünde interpretieren. Schon ein wenig Sünde zerstöre dann die ganze Organisation. Mit dieser These wird streng gegen den kleinsten Fehltritt gepredigt und auf diese Weise die Exklusivität der eigenen Gruppe und die geistliche Autorität der Führung herausgestellt. Paulus’ Botschaft von der christlichen Freiheit bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie die Liebe als Grundlage christlichen Lebens.
Geistlicher Missbrauch folgt aus Mangel an Liebe. Das Achten auf die Liebe ist folglich die beste Richtschnur für christliches Handeln, wie Paulus ganz im Sinn von Jesus weiter fortsetzt: „Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt; sondern durch die Liebe diene einer dem anderen. Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem (3. Mose 19,18): «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!»“ (Gal. 5, 13-14).
1. Johnson/VanVonderen: Geistlicher Mißbrauch, 23 f.
2. Vgl: Peter Zimmerling: Protestantischer Fundamentalismus als gelebter Glaube, in: Hemminger: Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart 1991, 97-130.
3. Johnson / VanVonderen: Geistlicher Mißbrauch, S. 71