Der zweiseitige Imam

Fethullah Gülen verstorben

Der Gründer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, ist am 20. Oktober 2024 in seinem Exil in den USA verstorben. Er war die prägende Figur der auch nach ihm benannten Gülen-Bewegung.

Aufstieg

Geboren wurde er 1941 in Erzurum in Ostanatolien in der Türkei. Nach seiner religiösen Ausbildung wirkte er als Prediger der staatlichen Religionsagentur Diyanet in Edirne, ab 1966 in Izmir, der drittgrößten Stadt der Türkei. Seine Predigten wurden u.a. mit Audio- und Videokassetten verbreitet. Auch durch Predigtreisen bildete sich eine Anhängerschaft.

Trotz dieser seiner konservativen sunnitischen Grundprägung arrangierte er sich mit dem staatlich geforderten Laizismus in der Türkei. So setzte er den Schwerpunkt seiner Bewegung auf Bildung: Er gründete im Lauf der Zeit mehrere hundert Privatschulen, die primär keine religiöse Ausrichtung hatten, aber dennoch von Menschen geprägt waren, die seinen Ideen folgten. Es folgten private Universitäten, Bildungsvereine, Radio- und Fernsehsender, eine Nachrichtenagentur, eine Bank, Verlage und Tageszeitungen, Wohnheime und andere Einrichtungen, die inhaltlich mit der Hizmet-Bewegung verbunden waren, ohne dass diese alle eine eindeutige juristisch nachvollziehbare Beziehung zueinander gehabt hätten.

Konflikte

Die Bildungsaktivitäten führten dazu, dass allmählich immer mehr einflussreiche Schlüsselpositionen in der türkischen Gesellschaft von Menschen besetzt waren, die Hizmet-Schulen besucht hatten oder auf sonstige Weise in Beziehung zur Bewegung standen. Das ist der faktische Hintergrund von diversen Berichten über eine empfundene Unterwanderung des türkischen Staates durch Anhänger der Gülen-Bewegung, die in etwa zwischen 2000-2015 an Intensität zunahmen. Ein Vorwurf lautet, dass das Bekenntnis zu säkularen Werten und Förderung von Wissenschaft und Bildung nur vorgeschoben bzw. oberflächlich gilt. Im Kern werde stattdessen einer sehr konservativen Interpretation des Islam zu gesellschaftlichem Einfluss verholfen. Ein anderer Vorwurf kritisiert, dass Kritiker der Gülen-Bewegung diffuser polizeilicher Verfolgung und juristischen Schikanen ausgesetzt und Teile des türkischen Justizapparates durch Gülen-Anhänger unterminiert gewesen waren.

Obwohl die Gülen-Bewegung mit der Partei AKP des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan anfangs verbunden war, kam es zwischen 2010-2012 zum Bruch. Gülen war Kritiker Erdoğans, dessen Regierung 2013 in einen schweren Korruptionsskandal verwickelt war. Erdoğan benutzte den Vorwurf der Unterwanderung des Staates („Tiefer Staat“) seitdem, um harte Maßnahmen gegen die Gülen-Bewegung zu rechtfertigen, der er den gescheiterten Putschversuch von 2016 anlastete. Seitdem ist die Bewegung in der Türkei schwerer Verfolgung ausgesetzt und wurde (sachlich unzutreffend) zur Terrororganisation erklärt.

USA & Deutschland

Fethullah Gülen selbst hatte sich rechtzeitig in die USA abgesetzt und leitete die Bewegung seitdem aus seinem Exil in Pennsylvanien. 2008 erhielt er die ständige Aufenthaltserlaubnis und lebte dort mit ca. 100 Anhängern relativ zurückgezogen.

Auch in Deutschland hat die Hizmet-Bewegung Fuß gefasst und zahlreiche Schulen gegründet. Die „Initiative für Bildung und Erziehung (IBEB) gemeinnützige GmbH“ fungiert dabei als Schulträger. In sogenannten „Lichthäusern“ leben Anhänger gemeinsam. Die Verbindung der diversen Organisationen mit Hizmet wird zwar nicht aktiv verheimlicht oder bestritten, aber auch nicht immer transparent gemacht. Die Namen enthalten in der Regel keinen solchen Verweis. Sie heißen z.B. „Forum für interkulturellen Dialog“ (FID e.V.) oder kurz „Forum Dialog“ e.V.

Interreligiöser Dialog

Die Bewegung ist stark im gesellschaftlichen und im interreligiösen Dialog engagiert. So wird das mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit versehene Projekt eines „House of One“ in Berlin auf Islamischer Seite von der Hizmet-Bewegung getragen.

Auch in Sachsen sind die Hizmet-Mitglieder die verlässlichsten Vertreterinnen und Vertreter in verschiedenen interreligiösen Dialogformaten auf muslimischer Seite. Das gilt, obwohl sie strukturell gar keine typischen Moscheegemeinden bilden, mithin genaugenommen auch gar nicht als Religionsgemeinschaft aktiv sind, sondern als Bildungsträger.

Vermächtnis

Die Bewertung des Lebenswerkes von Fethullah Gülen bleibt in einer ambivalenten Spannung, die nicht einfach aufzulösen ist.

Auf der einen Seite steht ein tief religiös geprägter islamischer Prediger in der Tradition der Nurculuk-Bewegung, der eine weithin klassisch-konservativ sunnitische Interpretation des Islam vertritt.

Auf der anderen Seite erscheint er als ein moderner, den Idealen der westlich-liberalen Welt aufgeschlossener Mensch, dem scheinbar das Wunder gelungen ist, den Islam mit Demokratie und Religionsfreiheit, Bildung und Menschenrechten zu versöhnen. Weil aber diese Versöhnung in erster Linie eine behauptete ist, die nicht in gleichem Maß auch lehrmäßig grundgelegt wird, bleibt der Verdacht einer gewissen Zweigleisigkeit – um nicht zu sagen Doppelzüngigkeit bestehen. In der konkreten Dialogerfahrung gibt es beides: Da ist das Interesse aneinander echt und das gewachsene Vertrauen zueinander belastbar.

Zugleich ergeben sich auch Einblicke in traditionelle theologische Überzeugungen, die zu den genannten Idealen in Spannung stehen. So vertreten Gelehrte der Bewegung in Deutschland selbstverständlich die Anwendung traditionell islamischem Erbrechts, bei dem die Frauen eben nur die Hälfte von dem bekommen sollen, was männliche Nachkommen erben. Auch die unkommentierte Rezeption einer Verteidigung der Todesstrafe bei Abfall vom Islam durch Fethullah Gülen1 in der Bewegung fügt sich eben nicht ganz harmonisch in das Bild des dialogorientierten Menschenrechtsvertreters.

Diese Spannungen im offenen und ehrlichen Gespräch weiter auszuloten, um nötige Klärungen zu erreichen, wird auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe im Dialog mit der Hizmet-Bewegung in Deutschland sein.

 


1 https://fgulen.com/tr/eserleri/asrin-getirdigi-tereddutler/dinde-zorlama-yoktur-ayetini-izah-eder-misiniz

 
Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2024 ab Seite 04