Importiertes Emotionschristentum

Pfingstkonferenz in Dresdner Sporthalle (2005)
„Die heilende und befreiende Liebe des Vaters“ war das Thema einer pfingstlichen Konferenz, die vom 16.-19. November 2005 in Dresden stattfand. Als Veranstalter der von Healing Rooms Deutschland e.V. organisierten Konferenz war die kanadische Gemeinschaft „Catch the Fire Ministries“ angegeben. Die angekündigten Personen John & Carol Arnott, Marc Dupont, Don Williams und Noel Richards zählen auch in pfingstlichen Kreisen nicht zu den bekanntesten Namen in Deutschland. Die Herkunftsgemeinde ist demgegenüber sehr bekannt, bildete doch die Toronto Airport Christian Fellowhip den Ausgangspunkt der sogenannten Toronto-Phänomene: ekstatischer emotionaler Zustände, die als Wirkungen des Heiligen Geistes interpretiert wurden.

Bei der Abendveranstaltung am 18. November kam vieles davon vor, wenngleich in einer wohl gemäßigteren Form.

Der Einzugsbereich dieser Konferenz umfasste weite Teile Sachsens. Ohne auf genaue Zahlen zurückgreifen zu können, bildeten die Dresdner vermutlich eine Minderheit unter den ca. 350 Teilnehmern. Die im Flyer behauptete Zusammenarbeit mit Dresdner Gemeinden beschränkte sich auf die Verteilung der Werbung. Auf der Konferenz gab es dann jede Menge Werbung des Glaubenszentrums Bad Gandersheim, das mit einem eigenen Büchertisch vertreten war.

Anbetung

BühneDas „spiritual warming up“, wie man neudeutsch sagt, wurde von der durchaus professionell agierenden Band um Noel Richards besorgt. Eingängige Anbetungslieder, deren Texte zum Mitsingen auf Leinwand projiziert wurden, sowie Rhythmus und Lautstärke, die ab der 8. Wiederholung regelmäßig an Tempo und Eindringlichkeit beträchtlich zulegten, bewegten nicht nur die vordersten Reihen um die Bühne zum Mittanzen. Fahnenschwingende Frauen in den Gängen zeigten durch ihre tänzerische Perfektion, dass sie ebenfalls nicht zum ersten Mal dabei waren. Überall im Saal der Mehrzweck-Sporthalle in Dresden-Seidnitz hüpften, tanzten oder standen Menschen mit zur Anbetung erhobenen Händen. Diese Atmosphäre konnte bei aller Ungezwungenheit durchaus etwas Mitreißendes gewinnen. Man konnte aber ebenso gut auch hinten oder an den Seiten sich als unbeteiligter Zuschauer niederlassen. Ohnehin lagen während der gesamten Veranstaltung an verschiedenen Stellen Personen, die ihr Schlafdefizit aufzuholen versuchten, ohne dass sich jemand daran gestört hätte.

Ruhen im Geist

Im Anschluss an die erste Reihe der Anbetungslieder folgte eine Segnung. Die anwesenden Pastoren wurden nach vorn gebeten, um über sich ihre Gemeinden mit der Kraft des Heiligen Geistes zu verbinden. Unter den zahlreich nach vorn strömenden Menschen konnte ich allerdings keinen mir bekannten Pastor erkennen. Die meisten, denen die Hände aufgelegt wurden, sanken sogleich nach hinten um, wo sie von Helfern aufgefangen und sanft auf den Boden gelegt wurden. Diese Szene hatte etwas skurriles, denn ein größerer Mann wollte partut nicht umfallen. Dem Druck der Segnenden wich er immer wieder durch Schritte nach hinten aus und das Segnungsteam brauchte einige Anstrengung, bis er endlich auch drei Meter von der Bühne entfernt zum Liegen gekommen war. Manche der solcherart Gesegneten blieben auch während der gesamten Predigt vor der Bühne liegen.

Heilungen

Im Anschluss an die Segnungen begann das Gebet um Heilung. Auch hier ging es trotz vieler großer Worte doch recht menschlich zu. Der Redner hatte es sichtlich schwer, auf seine Fragen ins Publikum, ob in den letzten Tagen während der Konferenz jemand geheilt worden sei, oder ob soeben jemand Heilung verspüre, verwertbare Antworten zu bekommen. Arme waren zwar meistens oben, aber ob dies der Meldung oder der Anbetung dienen sollte, war nicht immer eindeutig. Auf die schon fast flehentlichen Bitten von der Bühne hin bekundeten Einzelne das Nachlassen ihrer Rücken oder Beinschmerzen. Spektakuläre Ereignisse gab es nicht zu sehen, wohl aber den bei solchen Veranstaltungen vermutlich üblichen Erwartungsdruck, der verminderte Befindlichkeitsstörungen bereitwillig als erfolgte Heilung aufnimmt und feiert.

Kollekte

Die folgende Kollektensammlung bildete einen eigenen Teil der Veranstaltung mit einer speziellen Ansprache, in der nicht nur enthusiastisch zur weiteren Verbreitung des Wortes Gottes aufgerufen, sondern auch die Kosten einer solchen Veranstaltung vorgerechnet wurden. Als Sammelbehälter dienten wie üblich Sektkühler, die durchaus ansehliche Füllungsstände erreichten. Positiv ist festzuhalten, dass kein übermäßiger emotionaler Druck auf die Anwesenden ausgeübt wurde, um die Kollektensumme zu erhöhen.

Predigt

Ziemlich genau eine Stunde später als im Programm angegeben betrat der Prediger des Abends, John Arnott, die Bühne. Seine Ausführungen über die Vergebung waren breit angelegt und sehr anschaulich und elementar - um nicht zu sagen schlicht - angelegt. Um sich die Größe Gottes zu verdeutlichen, sollten alle mehrfach „very biiiiiiiig“ bzw. „sehr groooooooß“ sagen (alles wurde übersetzt) und dabei die Arme so weit es geht auseinander nehmen. Diese Übung wurde stets wiederholt, wenn die Größe Gottes in der Predigt Erwähnung fand.

Das „göttliche Gesetz der Fairness“ (Auge um Auge, Zahn um Zahn) wurde anschaulich mittels Wechsel der Aufenthaltsebene zwischen Saal und Bühne der göttlichen Gnade gegenübergestellt. Anhand des Gleichnisses vom Schalksknecht und der Frage nach der Häufigkeit der Vergebung (Mt 18,21-35) wurde eindrücklich herausgestellt, dass unsere Vergebung anderen Menschen gegenüber keine Grenze kennen dürfe. Zahlreiche Beispiele, die an Gewichtigkeit schwer zu überbieten sind, wurden genannt: dem Vater, der die eigene Tochter missbraucht habe, solle genauso vergeben werden wie dem Mörder der eigenen Kinder, wie dem eigenen Vergewaltiger. Dazu passten dann eine Reihe bewegender Erzählungen von Schwerverbrechern, die sich angesichts dieser Vergebungsbereitschaft im Gefängnis bekehrten. Zum Ende der Predigt wurde jeder, der einem anderen etwas zu vergeben habe, nach vorn gebeten. Dort wurde dann in emotional sehr dichter Atmosphäre gemeinsam Vergebung ausgesprochen. Zunächst den eigenen Schuldigern, dann auch sich selbst, für alles, was man sich selbst an Versagen vorzuwerfen hat. Dies wurde auch auf kollektive Schuld ausgeweitet, denn Gottes Geist nimmt auch generationsübergreifende Flüche weg. Explizit benannt wurde Schuld aus dem Zweiten Weltkrieg: die Nazis sollten „freigesetzt“ werden, dass sie uns nichts mehr schuldig seien.

Diese starken Beispiele haben auch ihre Probleme. So richtig die theologische Aussage ist, dass die persönliche Vergebung keine quantitative Grenze haben sollte, so darf dies doch nicht in politische Verantwortungslosigkeit umkippen. Das soll hiermit dem Konferenzredner nicht unterstellt werden. Dennoch muss man das Problem im Blick behalten, dass die Strafverfolgung von Sexualverbrechen nicht durch eine verinnerlichte persönliche „Vergebungspflicht“ verhindert, gruppeninterne Vorfälle verheimlicht und damit die Zahl und das Elend der Opfer nur vergrößert werden.

Fazit

Zusammenfassend zeigte diese Momentaufnahme einer größeren Konferenz ein zwar in manchen Elementen ungewöhnliches, aber doch nicht unmögliches Christentum. Auffällig war das starke Ausleben persönlicher Emotionen. Immer wieder konnte es passieren, dass jemand anderes laute Ruf oder Stöhngeräusche von sich gab, ohne dass dies bei den Teilnehmern Verwunderung auslöste. Es wurden an diesem Abend jedoch keine theologischen Extrempositionen vertreten, die aus evangelisch-lutherischer Sicht vehementen Widerspruch gefordert hätten.

Harald Lamprecht

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/87

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 6/2005 ab Seite 14