Blinde sehen, Lahme gehen...
Heilen auf geistigem Weg – medizinisch beweisbar! So hieß das Thema eines Vortragsnachmittages in Dresden, zu dem „Ärzte und Heilpraktiker“ am 23. Juni 2001 in die Technische Universität eingeladen hatten.
Viele waren der Einladung gefolgt. Menschen aller Altersstufen füllten die 460 Sitze des Hörsaales 04 bis auf den letzten Platz. Ärzte aus dem gesamten Umkreis sind durch persönliche Briefe eingeladen worden, andere waren durch Postwurfsendungen angelockt. Die wenigsten dürften gewusst haben, was sie dort tatsächlich erwartet. Ein Zeitungsbericht ließ eine fachliche Information über verschiedene Konzepte geistiger Heilweisen vom wissenschaftlichen Standpunkt erwarten. Wer sich solcherart auf eine sachliche Diskussion der Chancen und Grenzen alternativer Heilverfahren eingestellt hatte, sah sich getäuscht. Statt dessen durfte man eine schier endlose Reihe von „Heilungsberichten“ mit stark bekenntnishaftem Charakter über sich ergehen lassen, deren vordringliches Ziel es war, auf die wunderbaren Wirkungen der Zusammenkünfte eines „Bruno–Gröning–Freundeskreises“ hinzuweisen. Über die hinter den Heilungen vermuteten Zusammenhänge erfuhren die Teilnehmer der viereinhalbstündigen Veranstaltung allerdings recht wenig. Allenfalls das große über den Köpfen der Referenten angebrachte Porträt eines Mannes, der später als Bruno Gröning vorgestellt wurde, und die ständigen Verweise auf den Bruno–Gröning–Freundeskreis ließen erkennen, dass hier offenbar eine sehr spezielle Weise der „Geistheilung“ vertreten wurde.
Heilungsberichte
Nach immer wieder dem gleichen Schema stellten die 9 Referenten (sowie einige eigens angereiste Patienten) ihre eigene und fremde Lebensgeschichten vor:
Zunächst wurde das frühere Leben in den dunkelsten Farben geschildert. Dies bezog sich zuerst auf (relativ verbreitete) körperliche Leiden (z. B. Hörsturz, Herzprobleme, Osteoporose, Neurodermitis), dann aber auch auf psychische Störungen (Depression, schulische Leistungsschwäche etc.) bis hin zu mehrfach geäußerten Suizidgedanken.
Sodann wurden die bisherigen erfolglosen Bemühungen der Ärzte um eine Heilung geschildert, die z. T. aber eher eine Verschlimmerung der Situation brachten. Eine Heilung gelang in den beschriebenen Fällen zunächst nicht.
Die große Wende im Leben trat jeweils ein, als die betreffenden Personen in Kontakt zum Bruno–Gröning–Freundeskreis kamen, sei es durch Einführungsvorträge wie diesen, oder durch Freunde oder - dies betraf besonders die Arzte - durch die Begegnung mit anderen Patienten und deren Heilungserfahrungen. Nach längerer (bis zu einem Jahr wurden genannt), meistens jedoch binnen kurzem stellte sich eine drastische Verbesserung aller zuvor beschriebenen Beschwerden ein. Dieser Zustand sei stabil geblieben, so dass sie heute gesunde Menschen seien. (Ein offensichtlicher akuter Schnupfen des vom Hörstzurz geheilten Mannes stand dieser Einschätzung nicht im Weg.)
Arztebekenntnisse
Im Anschluss an die Patientenschilderung stellte dann jeweils ein Arzt noch einmal diesen Fall mit Folien und den entsprechenden Fachtermini dem medizinisch gebildeten Publikum vor, wobei der Akzent auf der Gegenüberstellung des Krankheitsbildes vor und nach der Heilung lag. Durchgehender Zug (und damit offenbar zu dieser Gattung der Heilungsberichte gehörig) war die abschließende Stellungnahme des Arztes, er könne die erfolgte Heilung mit den wissenschaftlichen Methoden der Schulmedizin nicht erklären. Daher müsse in diesem Fall eine der Wissenschaft unbekannte Kraft wirksam gewesen sein. Diese Kraft wurde mit dem durch Bruno Gröning vermittelten „Heilstrom“ gleichgesetzt und die Heilungen als Beweis für seine Wirksamkeit gedeutet.
Erweckung ohne Jesus
In ihrer Art erinnerten mich diese Heilungsberichte an die üblichen Bekehrungszeugnisse bei evangelistischen Erweckungsveranstaltungen, nur dass hier nicht die Bekehrung zu Jesus, sondern zu Bruno Gröning bezweckt war.
An Stelle der Beschreibung des frühere unchristlichen Lebens mit allem Elend standen hier die Krankheiten, statt der Bekehrung und dem Bekenntnis zu Jesus hier der Kontakt zum Bruno–Gröning–Freundeskreis und das Bekenntnis zu Bruno Gröning. Die stark religiöse Sprache am Ende vieler Heilungsberichte, da das mehrfach explizit ausgesprochene Bekenntnis zu Bruno Gröning machten es deutlich: Hier sprachen nicht Wissenschaftler über ihr Fachgebiet, sondern Gläubige über ihren Glauben.
Wenn die Arzte übereinstimmend berichteten, wie sie auf der Suche nach alternativen Heilmethoden die verschiedensten Praktiken durchprobierten, von Homöopathie über Akkupunktur zu Bachblüten und Reiki, aber nirgends die Erfüllung fanden, die ihnen jetzt der Bruno–Gröning–Freundeskreis gibt, so gerät diese Aussage ebenso zu einem Stereotyp, das eine Parallele in den klassischen Bekehrungsberichten hat.
„Wissenschaftliche“ Glaubenszeugnisse?
Der Bericht und die Dokumentation von einer Reihe außergewöhnlicher Heilungen wurde auf diese Weise zu einem Glaubenszeugnis einer Religionsgemeinschaft. „Wissenschaftlich“ ist daran allenfalls die Dokumentation der Befunde. Für die Erklärung der Phänomene ist dieses Attribut fehl am Platz. Weder wurden auch nur ansatzweise alternative Erklärungsmöglichkeiten betrachtet (von denen es etliche gibt!), noch wurde das behauptete Wirkprinzip „Heilstrom“ näher erläutert oder gar einer kritischen Betrachtung unterzogen. Hier war - das sagten die Zeugnis gebenden Patienten ausdrücklich – schlicht Glauben gefordert.
Nun ist Glauben im Prinzip nichts schlechtes. Alle Christen bemühen sich darum. Aber es ist ein Unterschied, ob Glauben als das Vertrauen auf Gott oder als Verzicht auf möglichen Vernunftgebrauch verstanden wird.
Konsequenzen
Eine anderer Frage ist die, welche persönlichen und sozialen Konsequenzen ein bestimmter Glaube hervorbringt. Dies ist nun die problematische Seite des Bruno–Gröning–Freundeskreises.
Bei den Beratungsstellen für Sektenfragen ist der Bruno–Gröning–Freundeskreis freilich kein Unbekannter. Immer wieder wenden sich Menschen mit der Beobachtung an die Beratungsstellen, dass ihre früheren Freunde und Verwandten ihre Persönlichkeit verändern, sich abschotten, Kontakte und Freundschaften abbrechen und auf sachliche Kritik nicht angemessen reagieren. Wie kommt das?
Der Bruno–Gröning–Freundeskreis wendet sich zu Recht gegen die Vereinseitigungen und Verkürzungen, die ein rein materialistisches Weltbild mit sich bringt, wenn er für die Möglichkeit geistiger Heilung eintritt. Allerdings stellt die von ihm vertretene Alternative eine nicht weniger problematische Engführung der Wirklichkeit dar, an die z. T. irreale Erwartungen geknüpft werden. Es ist ein Wesenszug konfliktträchtiger religiöser Gruppierungen, die komplexe Wirklichkeit radikal zu vereinfachen und ein rettendes Konzept, ein einfaches Prinzip anzubieten, das alle Probleme lösen soll.
Das rettende Konzept
So wird gelehrt, dass es vor allem auf zwei schlichte Dinge ankommt:
1. einer als „Einstellen“ bezeichneten Sitzhaltung, bei der Arme und Beine nicht überkreuzt sind, um einen „Kurzschluss“ in der göttlichen Heilenergie zu verhindern, und
2. Positivem Denken in dem Sinn, dass der Krankheit geistig kein Raum mehr zugesprochen wird.
Werden diese beiden Dinge eingehalten, so wird geradezu zwangsläufig mit einer Verbesserung des Zustandes gerechnet. Es war auffällig, wie bei der Veranstaltung immer wieder vollmundige Verheißungen („Es gibt kein Unheilbar“) mit vorsichtigeren Relativierungen („man kann nichts versprechen“, „Heilung ist ein Geschenk“) verbunden wurden. In der Praxis wird trotz der teilweisen Zurücknahmen der Verheißungen ein enormer Erwartungsdruck aufgebaut.
Chancen und Grenzen
Beide „Hauptübungen“ haben im begrenzten Rahmen durchaus ihre Berechtigung. Das „Einstellen“ kann als eine Art autogenes Training verstanden werden, dessen Wirksamkeit wissenschaftlich fundiert nachgewiesen ist. Dass darüber hinaus die eigene mentale Einstellung für den Heilungsprozess nicht unwesentlich ist, dürfte leicht einsichtig sein. In der Form, wie sie im Bruno–Gröning–Freundeskreis betrieben werden und zum Träger übersteigerter Erwartungen gemacht werden, ist dies jedoch bedenklich.
Insbesondere das „Positive Denken“, bei dem durch geistiges Annehmen der Gesundheit die Krankheit negiert werden soll, kann zu einer verschobenen Wahrnehmung führen und den Realitätsbezug verlieren. Dies verleitet dazu, dass Heilung nicht tatsächlich erlebt, sondern lediglich definiert wird. Die Lehre von den „Regelungsschmerzen“ deutet weiterhin vorhandene Symptome als Zeichen der inneren Reinigung des Körpers und der beginnenden Heilung um. Ein Bruno–Gröning-Anhänger ist in diesem Sinn nie mehr krank, er hat allenfalls Regelungsschmerzen.
Wirklich gefährlich wird es, wenn im Vertrauen auf den Heilstrom wichtige Medikamente abgesetzt werden. Die Referenten berichteten mehrfach, dass sie zahlreiche und z. T. hochwirksame Medikamente, die sie früher genommen hätten, selbst als nicht mehr notwendig weggelassen hätten. Eine Rücksprache mit dem behandelnden Arzt wurde dabei nie erwähnt. Auch wenn zugestanden wird, dass in der Bevölkerung oft eine übersteigerte „Medikamentengläubigkeit“ zu beobachten ist und an manche ärztliche Verschreibungspraktiken berechtigte Anfragen bestehen, muss ein solches Verhalten als Verantwortungslos bezeichnet werden.
Dualismus
Soziale Probleme können sich aus dem im Freundeskreis gepflegten Dualismus entwickeln. Die Welt wird in zwei Bereiche eingeteilt: den des Guten, göttlichen, Lichten auf der einen Seite, zu dem auch die Gesundheit gehört, und dem des Bösen, satanischen finsteren auf der anderen Seite, dem die Krankheiten zuzurechnen sind. Ein Referent meinte, jeder müsse entscheiden, welchen Gedanken aus welcher Quelle er sich öffne. Ein Verständnis von Krankheit als Bestandteil des Lebens, die mitunter auch als von Gott gestellte Aufgabe angenommen werden kann, um an ihr zu reifen und zu wachsen, ist dem Freundeskreis völlig fremd.
Problematisch ist die Rede Grönings von „satanischen Menschen“ die andere mit ihrer Kritik von ihrem Gesundwerden abhalten. Das Mittel gegen eine solche „satanische“ Bedrohung ist das Einstellen jeglichen Kontakts. Die Folge davon ist Abschottung und soziale Isolation.
Christus Gröning
Vom christlichen Standpunkt ist noch ein anderer Problempunkt zu benennen: Bruno Gröning hat im Freundeskreis Christus ersetzt. Wenn die Antwort Jesu zur Beschreibung seiner Wirksamkeit „Blinde sehen, Lahme gehen...“ im Freundeskreis auf Bruno Grönings angebliche Heilerfolge bezogen wird, so ist dies nur ein Beispiel. Während Jesus in der Lehre Grönings nur eine Bedeutung als Lehrer und Vorbild zukommt, nahm er für sich selbst eine Heilsbedeutung an, indem er eine Brücke zurück zum wahren göttlichen Weg gebaut habe. Das Liedgut des Freundeskreises „strotzt nur so von messianischen Zuschreibungen zur Person Bruno Grönings“, wie Prof. Schmid beobachtete. „Bruno hat Jesus in jeder Hinsicht ersetzt.“
Für Christen ist Gesundheit auch ein Geschenk Gottes. Aber es ist nicht verfügbar, nicht durch Einstellen und positives Denken herbeizuzwingen und nicht durch Wunder eines selbsternannten Messias zu erlangen.