Meine Shincheonji-Episode

Wie ich Teil einer koreanischen Neuoffenbarungsreligion wurde, ohne es zu bemerken

„Entschuldigung, hast du Lust, kurz an einer Umfrage teilzunehmen?“ Ich drehe mich um und schaue einer jungen sympathischen Frau ins Gesicht. „Worum geht's denn?“, frage ich zurück. „Thema Theologie, ist eine Umfrage für mein Studium“, antwortet sie. Ich muss schmunzeln – ein schöner Zufall. „Klar gern! Ich studier' auch was ähnliches.“

So in etwa kann man sich den Missionsansatz der koreanischen Neuoffenbarungsreligion Shincheonji vorstellen: freundlich und unverbindlich. Das oben erzählte Gespräch hat im Sommer 2019 stattgefunden, als ich für eine kleine Besorgung noch einen Abstecher ins nächstgelegene Einkaufszentrum machte. Dass ich mehrere Monate später Sektenaussteigerin sein würde, war zu dem Zeitpunkt undenkbar. Auch war mir nicht klar, dass die Umfrage ein Vorwand und die Frau überhaupt keine Theologiestudentin war. Auf das erste Gespräch folgte ein weiteres Treffen mit der Begründung, sie wolle einen Vortrag einüben und brauche dafür Feedback. Als dann ein Bibelkurs zur Sprache kam, gab es ein weiteres Kennenlerntreffen und im Anschluss drei intensive Monate, in denen ich zunächst privaten Bibelunterricht erhielt und später gemeinsam mit einer kleinen Gruppe an einem Bibelkurs teilnahm. Ich erfuhr, dass die Bibel angeblich verschlüsselt sei und nur eine einzige Person sie verstehen könne. Von christlichen Kirchen sollte ich mich abgrenzen, weil dort keine Wahrheit gepredigt werde. Die meiste Zeit über wusste ich nicht, woher all die Inhalte eigentlich kamen, die im Unterricht vermittelt wurden. Erst nach drei Monaten intensiven Bibellernens fiel zum ersten Mal ein Name. Ich erfuhr, dass ich mich bei Shincheonji befand, einer aus Korea stammenden neureligiösen Bewegung, die sich auf die Offenbarungen des 90-jährigen Lee Man-hee beruft.

Woran glaubt Shincheonji?

Shincheonji gehört zu den Neuen Religiösen Bewegungen und betrachtet neben der Bibel die Neuoffenbarungen Lee Man-hees als maßgeblich für den christlichen Glauben. Lee Man-hee steht stellvertretend für die Wiederkunft Jesu, von den Mitgliedern wird er als Erfüller des biblischen Buchs der Offenbarung und verheißener Pastor der Endzeit verstanden. In den Augen von Shincheonji ist er trotz seines (sichtbar) hohen Alters unsterblich. Da er angeblich den Geist Jesu in sich trägt, ist nach diesem Verständnis Jesus in geistlicher Form bereits auf die Erde zurückgekehrt und wir befinden uns mitten in der Endzeit.

Biblische Texte sind Shincheonji zufolge verschlüsselt und nicht wörtlich gemeint. Begriffe wie Feuer, Licht oder Himmel gelten als Gleichnisse und müssen anhand von anderen Bibelstellen „übersetzt“ werden. Die Kenntnis darüber, welche Bibelstellen zur „Entschlüsselung“ herangezogen werden und was dies bedeutet, besitzt jedoch ausschließlich Lee Man-hee, der von Jesus mit diesem Wissen ausgestattet wurde.

Mitglied bei Shincheonji wird man nur, wenn man den neunmonatigen Bibelkurs besucht und die dazugehörigen Prüfungen schreibt. In den ersten Monaten des Bibelkurses geht es vor allem um die Vermittlung der Gleichnisse (insgesamt rund 50), was anschließend dem Zweck dient, die Johannesoffenbarung zu verstehen und dessen vermeintliche Erfüllung in der Gegenwart zu erkennen.

DIE ANFÄNGE - Umgang mit Zweifeln und Skepsis

Wenn man von Sektenerfahrungen berichtet, kommt oft die Rückfrage, wieso man überhaupt beigetreten sei und so lange mitgemacht habe – berechtigterweise, denn meist gibt es von Beginn an Faktoren, die skeptisch machen. Auch ich habe Situationen erlebt, in denen ich mich unwohl gefühlt habe, etwas nicht verstanden habe oder anderer Meinung war. So fing es damit an, dass ich keine klare Antwort darauf erhielt, von wem der Bibelkurs überhaupt ausgerichtet wurde, zu dem ich eingeladen wurde. Stattdessen kamen Informationen zum Ablauf: Erst würde ich zur Vorbereitung zwölf persönliche Unterrichtsstunden durchlaufen, danach gebe es viermal die Woche Gruppenunterricht. Der gesamte Kurs dauere neun Monate. Kosten gebe es keine, lediglich 50 Euro vorab für die anfallenden Kopierkosten. Auch ein Anmeldeformular musste ausgefüllt werden. Welche Gemeinde oder Institution dahintersteckte, erfuhr ich nicht und auch die Googlesuche ergab keine Treffer, sodass ich mich letztlich mit der Antwort zufriedengab, es sei einfach ein privat veranstalteter Bibelkurs. Wer eine geschulte Wahrnehmung hat, hätte hier bereits Verdacht geschöpft. Auch ich würde mit dem heutigen Wissen solchen Situationen mehr Bedeutung beimessen, kritischere Nachfragen stellen und mich bei fehlender Transparenz nicht auf die Sache einlassen. Wer aber nicht weiß, wie Sekten agieren, nimmt gar nicht unbedingt wahr, dass hier bewusst Informationen zurückgehalten werden.

Einen kleinen Konfrontationsmoment gab es, als ich zum ersten Mal vom Kontaktverbot zu den anderen Schülerinnen und Schülern erfuhr. Bei der Eröffnungsveranstaltung des Bibelkurses wurde den Teilnehmenden der „Ratschlag“ ans Herz gelegt, während der neun Monate noch keinen privaten Kontakt zueinander aufzubauen. Da ich bei der Eröffnung nicht dabei gewesen war, hatte ich von dieser Regelung nichts mitbekommen. Als ich zwei Wochen nach Kursbeginn mit einer Schülerin Nummern austauschen wollte, wurde dies unterbunden. Man solle sich erst auf das „Lernen des Wortes“ konzentrieren. Der Austausch über das Gelernte solle nicht untereinander stattfinden, sondern nur mit den Lehrenden, da sonst Missverständnisse und Zweifel verstärkt werden könnten. „Da hat der Teufel ein leichtes Spiel“, hieß es und das Ganze sei nur zu unserem eigenen Schutz. Dass wir uns gar nicht über das Gelernte austauschen, sondern nur einen freundschaftlichen Kontakt aufbauen wollten, spielte keine Rolle.

Trotz meines Unverständnisses habe ich die Situation damals hingenommen, weil ich sie als Nebensächlichkeit betrachtet habe. Der Bibelkurs war für mich ein Bibelkurs – und eben nicht mehr. Ich habe zu dem Zeitpunkt gedacht, ich würde neun Monate lang mein Bibelwissen vertiefen, ein paar spannende Perspektiven kennenlernen und danach wieder meiner Wege gehen. Kleine Unannehmlichkeiten waren nicht weiter schlimm, weil ich das Ganze noch nicht als zusammenhängendes System begriffen habe. Ich war der Ansicht: „Ich muss nicht allem zustimmen, kann aber dennoch eine ganze Menge lernen.“

DER PROZESS – Wie ein Bibelkurs in neuem Wahrheitsverständnis mündet

Shincheonji fällt nicht mit der Tür ins Haus, sondern setzt zunächst auf Freundschaft und Unverbindlichkeit. Während der ersten Monate weiß man nicht, dass man sich bei Shincheonji befindet und erst schrittweise kommen mehr Verpflichtungen dazu. Aus der Sichtweise Shincheonjis ist dieses Vorgehen logisch, denn würde man direkt zu Beginn alles offenlegen, wäre eine Rekrutierung neuer Mitglieder kaum möglich. Dass Lee Man-hee der verheißene Endzeitpastor ist, lässt sich viel besser annehmen, wenn man monatelang darauf vorbereitet wurde und diesen Sachverhalt einfach in das zuvor Gelernte einfügen kann. Auch wird so gerechtfertigt, dass man während des Missionierens lügt.

Für mich persönlich waren es vor allem drei Aspekte, die dafür gesorgt haben, dass ich mich auf den Bibelkurs eingelassen habe.

  • Vertrauen: Von Beginn an wurde sich um ein freundschaftliches Verhältnis zu mir bemüht und Interesse an meinem Leben gezeigt. Zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, belogen zu werden, sondern baute stattdessen schnell Vertrauen auf.
  • Autorität: Die Lehrenden vermittelten Autorität. Während der ersten Tage tat ich mich zwar schwer damit, merkte jedoch schnell, dass sie über ein ziemlich großes Bibelwissen verfügten und ich eine Menge Neues von ihnen lernen könnte. Somit fügte ich mich in das Autoritätsgefälle ein und hinterfragte folglich weniger.
  • Wissensvorsprung: Die Bedeutung der Gleichnisse wurde klar und logisch erklärt, das vermittelte Wissen hinterließ den Eindruck, zum ersten Mal im Leben die Bibel richtig zu verstehen. Es war ein magisches Gefühl, als würde man einer verborgenen Wahrheit auf die Schliche kommen.

Schritt für Schritt wurde ich überzeugter, dass mir der Bibelkurs Wahrheit vermittelte, und so nahm ich nach drei Monaten auch Lehrinhalte an, die ich zu Beginn noch abgelehnt oder mindestens als fragwürdig empfunden hätte. Einerseits kamen zwar mehr Verpflichtungen und Regeln hinzu, gleichzeitig wuchs aber mein Vertrauen in die Lehrenden. Mein Wissen wurde größer und das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe verstärkte sich. An diesem Punkt wusste ich noch immer nicht, dass ich bei Shincheonji war. Ich war lediglich überzeugt und begeistert von dem, was ich bisher im Bibelkurs gelernt hatte, und hätte sicherlich noch viele weitere Unterrichtsstunden besucht – wenn nicht ein Gespräch den Wendepunkt gebracht hätte.

DER AUSSTIEG - Zwischen Desillusionierung und Neuanfang

Nach etwa drei Monaten führten die Lehrenden mit uns Einzelgespräche, in denen sie uns von Lee Man-hee erzählten. Hier fiel auch zum ersten Mal der Name Shincheonji. Mir wurden Videos von koreanischen Gottesdiensten gezeigt, in denen Frauen und Männer getrennt saßen, alle gleich gekleidet in weißen Hemden. Ein alter koreanischer Mann sollte also der verheißene Hirte sein? Nach dem Gespräch fühlte ich mich desillusioniert. Die ganze Magie, die ich zuvor beim Lernen der Gleichnisse empfunden hatte, war auf einen Schlag verschwunden. „Bitte nicht googlen“, hatte mir meine Lehrerin gesagt, „im Internet steht nur Schlechtes über uns“. Ich solle mich an dem festhalten, was ich bisher gelernt habe. Der Teufel könne mir sonst zu leicht Zweifel einreden und mich von der Wahrheit abbringen.

Zu Hause angekommen, durchsuchte ich dennoch das Internet und stieß auf erschreckende Berichte. Shincheonji sei eine Sekte, isoliere Menschen von ihren Familien und lasse Aussteiger nicht in Ruhe. Als Mitglied müsse man Abgaben zahlen, regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen, einem Dresscode folgen und habe kaum noch Freizeit. Auch fand ich heraus, dass über die Schülerinnen und Schüler in den Bibelkursen private Daten gesammelt und dokumentiert werden – was das Interesse an meiner Person natürlich in ein anderes Licht rückte.

Noch am selben Abend traf ich die Entscheidung auszusteigen. Trotzdem besuchte ich jedoch eine weitere Woche lang den Bibelkurs, stellte viele Fragen und beobachtete, wie nun immer mehr Pflichten und Ankündigungen dazukamen: Künftig gebe es zweimal die Woche Gottesdienst, außerdem finde im nächsten Jahr eine große Absolventenfeier in Korea statt und für die Reise dorthin sollten wir am besten schonmal Geld sparen. Auch das Missionieren wurde uns langsam nähergebracht.

„Ihr müsst aber auch Früchte bringen! Das gehört dazu!“

„Und wenn wir das nicht schaffen? Was passiert dann?“

„Naja, erstmal lernt ihr ja jetzt das Wort, das Früchtebringen kommt dann irgendwann dazu.“

„Aber wir können niemanden zwingen, zur Bibelschule zu kommen.“

„Man muss sich halt Mühe geben und Gott auch zeigen, dass man für ihn arbeitet.“

Meine bereits getroffene Entscheidung wurde durch die weitere Teilnahme nur bestärkt. Mir wurde klar, dass der Bibelkurs nicht das war, wofür ich ihn gehalten hatte. Ich wollte kein neues Leben und ich wollte auch keinen neuen Glauben, in dem ich alles annehmen muss, was mir vorgesetzt wird. Den zwei Lehrenden schrieb ich eine persönliche Nachricht und erklärte freundlich, aber ehrlich, wieso ich künftig nicht mehr kommen würde. Von beiden erhielt ich mehrere Antworten, in denen sie mich um ein Klärungsgespräch baten, was ich aber verneinte. Danach blieb es ruhig und ich war dankbar, dass meine Entscheidung ohne viel Umstimmungsversuche akzeptiert wurde. Schlussendlich kann ich mich wohl glücklich schätzen, nur drei Monate lang Teil von Shincheonji gewesen zu sein. Sicherlich hat mir dies auch den Ausstieg so leicht gemacht.

Zitate und Gesprächssituationen sind aus der Erinnerung heraus erzählt und geben den ungefähren Inhalt des Gehörten und Erlebten wieder, es kann kein Anspruch auf korrekten Wortlaut erhoben werden.

Alina Letzel

Alina Letzel ist Praktikantin in der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2021 ab Seite 08