Passen Sie gut auf mich auf ...
Um Jürgen Fliege ist (mal wieder) Streit entbrannt. Der ehemalige ARD-Fernsehpfarrer ist schon seit einiger Zeit ins Gerede gekommen. Auf der einen Seite gelang es ihm recht gut, sich als einfühlsamen und verständnisvollen Zuhörer bei allen Arten menschlicher Probleme medial in Szene zu setzen. Daraus resultiert in nicht unbeträchtlichem Maß seine Beliebtheit bei Fernsehzuschauern. Andererseits hat er schon zu seiner Zeit bei der ARD in seiner Talkshow „Fliege“ immer wieder die Grenzen in Richtung Esoterik viel weiter überschritten, als es einem evangelischen Pfarrer, der sich auf Bibel und Bekenntnis verpflichtet weiß, möglich gewesen wäre. Von 1994 bis 2005 lief seine Talkshow in der ARD. Seitdem hat er für verschiede Spartenkanäle gearbeitet. Den Sprung zurück ins öffentlich-rechtliche Fernsehen schaffte er nicht wieder. Lediglich als Gast in verschiedenen Talkshows taucht er gelegentlich auf.
Vermarktung
Die mediale Prominenz legte die Grundlage für seine daran anknüpfenden Aktivitäten zur Vermarktung des eigenen Namens. 2003 startete er die Zeitschrift „Fliege“ mit einem Mix aus christlichen und esoterischen Themen. Der Versuch, über die eigene Homepage eine virtuelle Gemeinde aufzubauen, ist wieder in der Versenkung verschwunden. Nach wie vor wirbt Fliege mit seinem Namen und Videobotschaften auf einer eigens dafür eingerichteten Internetseite für das umstrittene Nahrungsergänzungsmittel „Mangostan“ (vgl. Confessio 4/2009). Ein Streitpunkt der aktuellen Debatte ist die von ihm bis vor kurzem angebotene „Fliege-Essenz“, die von ihm auch als „Essenz des Lebendigen“ bezeichnet wurde. In Flaschen zu 95 ml wurde die Essenz für 39,90 Euro zuzüglich 5,95 € Versandkosten verkauft. Im Beipackzettel wird folgende Anwendungsempfehlung gegeben: „Morgens und abends je 3 kräftige Sprühstöße in den Mund geben. Sprechen Sie vor der ersten Gabe das Wort ,Glaube‘, zum zweiten Sprühstoß ,Liebe‘ und zum dritten ,Zuversicht‘ aus. Bei Bedarf wiederholen.“ Über die Wirkung heißt es im Beipackzettel: Die Fliege-Essenz „schenkt unserer Seele ordnende Informationen, die unseren Geist und Körper immer wieder neu auferstehen lassen.“ Nach eigener Aussage „betet“ Fliege im Rahmen des Herstellungsprozesses in der Art eines Tischgebetes über dem Behälter, um den Inhalt auf diese Weise zu segnen.
Schwäche ausgenutzt
Mit der Fliege-Essenz hat Jürgen Fliege den Bogen offenbar überspannt. Seit Ursula Caberta in ihrem „Schwarzbuch Esoterik“ darauf aufmerksam machte, reißt die öffentliche Kritik nicht mehr ab. In einer Talkshow bei Markus Lanz im ZDF musste sich Fliege harte Fragen gefallen lassen und konnte anders als von früher gewohnt das Publikum nicht mehr für sich gewinnen. Die FAZ berichtete über spontane Reaktionen Frankfurter Bürger angesichts der Fliege-Essenz: „Der hat doch einen Haufen Leute, die ihm alles glauben, seine Opfer. Der ist unter einem seriösen Deckmantel in der ARD aufgetreten, die vertrauen ihm. Das ist ein übles Business.“ „Zeig mal her, die Flasche. ‚Glaube, Liebe, Zuversicht.‘ Oh je - ist das Volksverarschung?“ „Die Leute, die den Fliege toll finden, das ist so die Generation 70+, die haben generell wenig Geld, und das ist schäbig, von denen 40 Euro dafür zu verlangen.“ „Ich habe den Eindruck, dass hier die Schwäche von Leuten ausgenutzt wird, weil sie ungebildet sind oder alt. Es richtet sich an Menschen, die ein Defizit an Glaube, Liebe und Hoffnung haben, also vielleicht auch verzweifelt sind. Also ich unterstelle dem Fliege: Entweder er glaubt selbst nicht daran, dann ist er ein Scharlatan. Oder er glaubt dran, dann ist er eine noch größere Flasche, als ich schon vermutet habe.“[1]
Seine Beteuerungen, der „Fliege-Segen“ koste nichts extra, er würde „irgendwas unter 5 Euro“ pro verkaufter Flasche bekommen und keinen Gewinn daraus ziehen, wirken angesichts der Tatsache, dass die Herstellerfirma ganz andere Gewinne nennt, unglaubwürdig. Die Süddeutsche Zeitung zitierte schon 2010 Flieges seltsame Verteidigung der Geschäftsaktivitäten: „In den USA ist es gang und gäbe, mit Religion Geschäfte zu machen, mit Medizin wird doch auch ein Geschäft gemacht“.[2] Fliege tut nun beides.
Missbrauchtes Vertrauen
Das Problem an diesen Geschäftsaktivitäten ist nicht allein, dass es höchst fragwürdige Produkte sind, die da zu überzogenen Preisen verkauft werden. Dass es wortgewandte Abzocker gibt, die hart an der Grenze zum Betrug Menschen das Geld aus der Tasche ziehen, weiß jeder, der einmal eine Kaffeefahrt mitgemacht hat. Dass aber Jürgen Fliege immer wieder dezidiert als Pfarrer auftretend solche Geschäfte betreibt und den damit verbundenen kirchlichen Vertrauensbonus bis zur Schmerzgrenze ausreizt, fügt dem Ansehen es Pfarrberufes einen Schaden zu, der kaum wieder gut zu machen ist.
Aquapol: 4000 € nutzlos
Deutlich größer ist die Gewinnspanne bei einem anderen von Fliege beworbenen Produkt: Aquapol-Mauertrockenlegung. Das für 4000 € verkaufte Gerät (Materialpreis laut Hochschule Magdeburg-Stendal ca. 20 €) soll unter angeblicher Nutzung von „Raumenergie“ Wassermoleküle in den Wänden umpolen und damit aus der Wand vertreiben. Wissenschaftlich gesehen sind diese Behauptungen Unsinn. Selbst Fliege gibt zu, dass er nicht erklären könne, wie es funktioniert. Das ZDF-Magazin WISO berichtete von der Nutzlosigkeit der Geräte.[3] Fliege ficht das nicht an. Er zeigt sich auch in aktuellen Interviews und Pressemeldungen von der Wirkung überzeugt und verteidigt sein Engagement für dieses Produkt.
Scientologen = Juden?
Fader Beigeschmack: Der Hersteller und Erfinder ist Scientologe. Darauf angesprochen, dass Fliege hier nicht nur nutzlose Produkte bewirbt, sondern auch mit Scientology Geschäfte mache, antwortet Jürgen Fliege in Anspielung auf die Boykottaufrufe der Nationalsozialisten, er kaufe auch bei Juden. Hat sich Fliege niemals damit beschäftigt, was der Grund für die Kritik an Scientology ist? Seine Unkenntnis über die Struktur und Problematik der Scientology-Organisation hat er in Talkshow-Beiträgen ausreichend unter Beweis gestellt.[4] Ansonsten wäre es ihm auch schwer gefallen, die Opfer nationalsozialistischer Rassenideologie mit Scientology auf eine Stufe zu stellen.
Pfarrer als Ehebrecher?
Am 5. April 2011 meldete das Hamburger Abendblatt, dass Jürgen Fliege dem Astrologen Winfried Noé[5], mit dem er offenbar befreundet war, die Ehefrau Andrea ausgespannt hat. Auf Fragen von Journalisten dazu reagierte dieser ungehalten: „Was meine private Lebensführung angeht, geht Sie das einen Scheißdreck an!“.[6] In einem offenen Brief erhebt Noé schwere Vorwürfe gegen Jürgen Fliege, der sein Vertrauen missbraucht und seine Ehe zerstört habe. Als Fazit schreibt Noé: „Die Freiheit endet da, wo Verantwortung für andere beginnt. Dein Verhalten war in meinen Augen absolut verantwortungslos. Wie es Deine Kirche sieht, wie es Deine Fans sehen, weiß ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie niedrigere Maßstäbe anlegen werden, als ich es tue.“[7]
Bad Wörishofener Herbst
Mittlerweile zum dritten Mal lädt Jürgen Fliege zum sogenannten Bad Wörishofener Herbst ein, bei dem in dem Kneipp-Kurort diverse Redner und Stände aus dem Esoterikbereich ihre Gesundheitstipps für 210 € Teilnahmegebühr feilbieten. Die katholische Kirche ist bereits im vorigen Jahr aus der Veranstaltung ausgestiegen. Auf dem Flyer steht zwischen Heilern und Schamanen noch der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider unter den Referenten, der seine Teilnahme aber inzwischen abgesagt hat. Es steht zu hoffen, dass die noch aus gemeinsamen Studienzeiten resultierende freundschaftliche Verbindung beider hier einem klärenden Wort der EKD bzw. der Rheinischen Kirche nicht im Wege steht.
Esoterik-Vermittler
Die Webseite von Jürgen Fliege (www.fliege.de) ist gespickt mit Bannerwerbung für diverse Esoterikanbieter. So inserieren dort Seminaranbieter, die Channeling-Botschaften von Geistwesenheiten („Metatron“) verkünden oder durch „Spirituelles Coaching“ „im Rahmen der Abba-Lehre“ „bisher ungeahnte Lebensqualität“ vermitteln wollen. Ein Heilpraktiker bietet Familienaufstellungen und den spiritistischen „Kurs in Wundern“, die Esoterik-Messe „SeelenTor“ lädt zu Vorträgen ein und verkauft eine „SeelenTor-Essenz“ für 29,- Euro zur Zentrierung der Chakren und Harmonisierung der Aura und diverse Geistheiler bieten die Lösung von Blockaden durch Handauflegen an.
Theologische Schmalspur
Immer wieder fiel Fliege durch verbale Rundumschläge gegen die christlichen Kirchen sowie gegen zentrale Inhalte christlicher Verkündigung auf. 1999 bezeichnete er in einem Interview Gott als „den Gauner da oben“. Christliche Enderwartungen hält er für „schlimmer, als was die Scientologen sich ausgedacht haben“[8]. Die Botschaft vom Kreuzestod Jesu sei nach Fliege ein „Horrorangebot“. In diesem Sinn kritisierte er auch Margot Käßmann. Gegenüber dem Monatsmagazin „chrismon plus rheinland“ meinte er: „Ihre Theologie ist so schwach wie die ihrer Vorgänger. Sie hält an dem ganzen neurotischen Programm der evangelischen Kirche fest“, weil sie „an Blut-, Sühne- und Schuldtheologie nicht rüttelt“.[9] Flieges Pauschalangriffe tragen allerdings nicht den Charakter einer Einladung zum Dialog über den inneren Gehalt schwer zugänglicher Glaubensaussagen. Sie wirken eher wie eine Abwehr lästiger Theologie, die der ungehemmten Empathie für esoterische Selbstverwirklichung im Wege steht.
In einem ausführlichen Interview mit dem Bayrischen Rundfunk aus dem Jahr 2006 berichtete Fliege freimütig über die Intensität seines Theologiestudiums: „Es stimmt schon, ich habe als Student nicht allzu viele Vorlesungen besucht, das war nicht wichtig für mich. Ich habe stattdessen sehr gerne nachgedacht und mir überlegt, wieso, weshalb, warum. Wie weiland Jakob Böhme in seinem Schusterhandwerk geschaut hat, wo der liebe Gott auftaucht, habe ich in meinem Studium geschaut, wo er auftaucht. In den Büchern konnte er jedenfalls nicht auftauchen: So dürr konnte er einfach nicht sein.“[10] Wie man heute sehen kann, bleibt eine solche Einstellung nicht ohne Folgen für die theologische Urteilsfähigkeit.
Esoterisch entleerte Gottesvorstellung
Schlimmer noch als die kommerzielle Ausbeutung seines Ansehens als Pfarrer ist die inhaltliche Entleerung der Gottesvorstellung in Flieges Auftritten. Seine „spirituellen Handlungen“ kommen weithin ohne Gott aus. Jesus Christus ist in die Rolle eines Statisten auf dem Weg der Selbstverwirklichung mittels esoterischer Techniken abgedrängt. Selbst wo er genannt wird, ist nicht mehr erkennbar, welche Beziehung zu ihm besteht. Wenn Fliege davon spricht, dass er über der Essenz „betet“ und sie „segnet“, so braucht er dafür Gott nicht. Seine Handauflegung gebe „den Trost und die Kraft“ in die Essenz. Die erwartete Wirkung hat auch nichts mit Gott zu tun, sondern das Wasser gebe selbst unmittelbar der Seele „ordnende Informationen“. Dass auch die Anwendung keinen christlichen Gehalt erkennen lässt, ist nicht mehr verwunderlich. Fliege dazu: „‚Wahrscheinlich ist der Mensch, der diese Essenz kauft, einsam. Wenn er sie dreimal am Tag nimmt und dabei sagt: ‚Ich liebe, ich glaube, ich will zuversichtlich sein‘, ist das wie Meditation, wie Selbsthypnose.‘ Ähnliches würden andere Männer Gottes ja auch machen.“[11] Gebet als Selbsthypnose? Was ist hier noch übrig von dem theologischen Gehalt von 1. Kor 13? Woran glaubt dieser Glaube? Worauf bezieht sich diese Hoffnung?
Gegenüber der „Evangelischen Zeitung“ setzte Fliege seine Essenzbeschwörung mit der Wirkung der Einsetzungsworte im Abendmahl gleich und bezeichnete dies auch noch als „Ernstnehmen spiritueller Traditionen“. Wie kann ein evangelischer Pfarrer so wenig vom Abendmahl verstanden haben? Ist das Abendmahl für ihn ein beliebiger frommer Zauberspruch? Ein biblischer Bezug scheint ihm offenbar entbehrlich.
Am Ende seiner Sendungen pflegte Fliege sich mit der Formel zu verabschieden „Passen Sie gut auf sich auf.“ Im Blick auf sein problematisches Wirken hätte es wohl eher heißen müssen: „Passen Sie gut auf mich auf.“
Harald Lamprecht