Der Guru der Therapeuten
Bert Hellinger ist ein Phänomen: innerhalb weniger Jahre hat sich seine psychotherapeutische Methode, das „Familienstellen nach Bert Hellinger“ rasant verbreitet. Immer mehr Therapeuten, Heilpraktiker und sogar Bildungsträger haben sie in ihr Programm aufgenommen. Besonders bei Anbietern auf dem Esoterikmarkt erfreut sich Hellinger zunehmender Beliebtheit. Kaum eine esoterische Fachzeitschrift hat noch nicht über ihn und seine Methode berichtet. Kein Zweifel: Hellinger ist Trend.
Die Methode
Das Hauptwerk Bert Hellingers, das inzwischen in 6. Auflage vorliegt, trägt den Titel „Ordnungen der Liebe“. In diesem Titel ist die Kernthese Hellingers ausgedrückt: Es gebe „Ordnungen, die der Liebe in menschlichen Beziehungen vorgegeben sind. Daher gelingt uns diese Liebe nur, wenn wir um ihre Ordnungen wissen“.(1) Diese Ordnungen gelten als faktische Realitäten, die es anzuerkennen gilt. Wer sich nicht daran hält, gerät in dramatische schicksalhafte Verstrickung. Krisen und Krankheiten entstehen dort, „wo jemand liebt, ohne die Ordnungen der Liebe zu kennen. Daher beginnt die Lösung und Heilung mit der Einsicht in diese Ordnungen“ – so Hellinger. Die Aufstellung dient dazu, diese Einsicht zu erlangen.
Aufstellung
Praktisch sieht das Familienstellen so aus, dass in einem Seminar (bei Hellinger selbst mit bis zu 500 Teilnehmern) diejenigen Klienten, deren Probleme angegangen werden sollen, vom Therapeuten drei Fragen gestellt bekommen:
- „Wer gehört zur Familie?
- Sind Familienmitglieder tot geboren oder früh verstorben, und gab es in der Familie besondere Schicksale, zum Beispiel eine Behinderung?
- War jemand von den Eltern oder Großeltern vorher in einer festen Bindung, also verlobt, verheiratet oder sonstwie in einer längeren bedeutsamen Beziehung?“ (2)
Weitergehende Vorgespräche oder Fragebögen werden explizit abgelehnt.
Daraufhin wählt der Klient aus den Anwesenden Stellvertreter für sich und seine Familienangehörigen aus und stellt diese so im Raum auf, wie die Familienstrukturen nach seinem Empfinden beschaffen sind. Er korrigiert die Stellung und Blickrichtung zueinander, bis er sie stimmig findet, und setzt sich wieder. Nun kommt der Therapeut ins Spiel. Er befragt die Stellvertreter nach ihren Gefühlen, was ihnen Angst macht, zu wem sie sich hingezogen oder abgestoßen fühlen. Daraufhin ändert er die Aufstellung, stellt Personen um, fragt eventuell den Klienten nach Einzelheiten oder nicht aufgestellten Familienmitgliedern. Wenn der Therapeut empfindet, dass die Aufstellung ausgewogen ist, stellt er den Klienten an die Stelle seines Stellvertreters und lässt die Situation wirken. Hellinger lässt dann nicht selten den Klienten an Eltern oder Ausgestoßene Worte wie „Ich gebe dir die Ehre“ nachsprechen.
Grundannahmen
Zum System des Familienstellen nach Hellinger gehören einige Grundannahmen und Sichtweisen, die seinen Eingriffen und Deutungen zugrundeliegen.
So geht er von einer starken Verbindung der Familienmitglieder untereinander aus, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Ein früher Tod eines Familienmitgliedes wirkt sich demnach tiefgreifend aus. Die Überlebenden stehen vor dem Schuldgefühl, warum sie leben dürfen und der Verstorbene sterben musste. Wenn jemand schwere Schuld verdrängt, kann ein anderes Familienmitglied diese Schuldgefühle übernehmen. Da dieses aber die Schuld nicht begangen hat, bleibt ihm die Sühne verwehrt und es muss darunter leiden. Auch Kinder würden sich aus Treue gegenüber ihren Eltern nicht getrauen, glücklicher als jene zu leben, was man z. B. daran ersehen könne, dass die Anzahl der Ehejahre bis zur Scheidung oft die gleiche wie bei den Eltern sei. Besonderes Augenmerk richtet Hellinger auf nicht vorhandene Familienmitglieder, Verstorbene oder Ausgestoßene, ehemalige Partner und ungeliebte Verwandte. Dabei gebe es feste Rangordnungen, die durch die Zeit bestimmt werden: wer zuerst da war, hat Vorrang vor dem, der später kommt. So habe in einer Partnerschaft die erste Beziehung immer Vorrang vor der zweiten, der Erstgeborene vor dem Zweitgeborenen usw.
Für die Praxis des Familienstellens ist die Theorie des „wissenden Feldes“ von grundlegender Bedeutung. Sie besagt, dass die Stellvertreter, die ja keinerlei weitergehende Informationen über die von ihnen repräsentierte Familie haben, dennoch geheimnisvollen Zugang zu dem Wissen der durch sie vertretenen Personen hätten. Sie stehen nicht nur stellvertretend, sondern fühlen und reagieren oft auch so. Die Ursache dieses Phänomens ist freilich auch Hellinger unklar.
Konservativ und Phänomenologisch
Hellingers Vorstellung von der „Ordnung“ ist grundlegend konservativ. Zum Problem wird dies in dem Maße, wie er für seine Sicht autoritative Geltung beansprucht – und das geschieht nicht selten. Beispiele für solche Urteile lassen sich viele nennen: „Die Paarbeziehung gelingt, wenn die Frau dem Mann folgt. … Wenn der Mann der Frau folgt, gibt es Spannungen. Zum Beispiel wenn der Mann einheiratet, dann folgt er der Frau, und das geht schief: Es gibt keine erfüllte Beziehung.“(3) Ein paar Seiten weiter fällt die Aussage: „Eine jüdische Frau kann keinen Deutschen heiraten. Anne: Kannst du mir sagen, warum? Hellinger: Das geht schief. Ich habe noch nicht gesehen, dass es gutgegangen ist. Umgekehrt schon, ein jüdischer Mann kann eine deutsche Frau heiraten, aber nicht andersherum. Das geht nicht. … Ich erkläre es nicht. Es ist so.“(4)
Hellinger begründet selten. Dies resultiert daraus, dass er zu seinen Auffassungen nicht durch logisches Nachdenken oder Ableitungen aus anderen Situationen gelangt, sondern gleichsam aus innerer Schau. „Das heißt, er [der Therapeut] setzt sich einem dunklen Zusammenhang aus, bis ihm plötzlich Klarheit kommt.“(5) Hellinger nennt dies den phänomenologischen Erkenntnisweg, den er bewusst neben den wissenschaftlichen Weg stellt. Es kommt ihm darauf an, aus der Betrachtung der Situation „ohne Rückgriff auf eine frühere Theorie oder Erfahrung sich der hier ans Licht drängenden Wirklichkeit zu stellen, und ihr zustimmen, so, wie sie ist.“(6)
Die Erkenntnis, die Hellinger in der Aufstellung über die Verstrickungen in einer ihm ansonsten unbekannten Familie auf solche Weise „phänomenologisch“ aufgeht, soll dann von den Klienten als „Wahrheit“ akzeptiert werden.
Kritik
Kritik an Hellinger und seiner Methode ist auch von fachlicher Seite erhoben worden. Aufgrund der zeitlichen Kürze der Settings erscheint eine angemessene Betreuung tiefgreifender psychischer Problemlagen schwer möglich. Eine Anamnese erfolgt nicht. Nach der Veranstaltung werden die Klienten allein gelassen. Die Komplexität psychosozialer Wirklichkeit wird auf die Einordnung in eine vorgegebene Ordnung reduziert. Neben der Absolutheit, mit der Hellinger seine Interventionen vertritt, wird auch der phänomenologische Erkenntnisweg kritisiert, der eine Wahrheit aus innerer Schau produziert, die nur für den Moment Gültigkeit besitzt, gleichwohl vom Klienten aber schonungslos akzeptiert werden soll.(7)
Die Methode des Familienstellens hat Hellinger nicht erfunden. Sie hat in der seriösen systemischen Therapie durchaus ihren Platz – als Raum in dem der Patient im therapeutischen Gespräch Zugang zu seinen Gefühlen finden kann.
Fazit
Warum beschäftigt sich eine Stelle für Weltanschauungsfragen und Ökumene mit einer psychotherapeutischen Spezialrichtung und überlässt die Kritik nicht den zuständigen und kompetenten Fachgruppen?
Das „Phänomen Hellinger“ ist trotz des primär psychotherapeutischen Erscheinungsbildes ein deutlicher Beleg für die zunehmende und nicht immer einfach zu durchschauende Verschmelzung von (religiöser) Esoterikszene mit (wissenschaftlich–)psychologischen Therapieangeboten. Dies ist bereits in Hellingers Theorie angelegt, in der unwissenschaftliche, aber populäresoterisch plausible Elemente wie die Theorie des „wissenden Feldes“ und die phänomenologische Erkenntnisgewinnung zu tragenden Pfeilern des Systems werden. Es ist magisches Denken, das an vielen Stellen durchschimmert, insbesondere wenn der Aufstellung auch eine Wirkung auf Tote, die durch Stellvertreter aufgestellt wurden, nachgesagt wird.(8)
Seine persönliche Rolle als „Guru der Therapeuten“ gibt auch ausreichend Anlass zur Kritik. Es wurde beobachtet, dass Hellingers Klienten zum größten Teil selbst Therapeuten und andere psychosoziale Helfer sind. Während der klassische Psychotherapeut aber die Kompetenz hat, Wege und Methoden anzubieten, damit der Klient selbst eine Lösung findet, macht Hellinger normative Vorgaben. Er bestimmt, wie der Klient sein Leben organisieren muss, um Lebensglück zu finden und seine Probleme zu beenden, und fordert Unterwerfung unter seine Sicht der Dinge. „Akzeptieren, was ist“ nennt er dies.
Vollends beantwortet sich die Frage mit Blick auf die Verbreitung von Hellingers Methode in der Esoterikszene. Bei vielen dieser Anbieter muss noch viel mehr als bei Hellinger (9) selbst die Frage nach der fachlichen Qualifikation für derartige psychotherapeutische Eingriffe gestellt werden. Das „Familienstellen nach Bert Hellinger“ ist auch keine klar definierte Methode mit überprüfbaren Qualitätsstandards. Hellinger kümmert sich nicht um diesen Wildwuchs in seinem Namen.
Die Faszination, die von ihm trotz der genannten Kritikpunkte ausgeht, lässt sich wohl damit erklären, dass er auf weit verbreitete Wünsche und Sehnsüchte eingeht.
- Seine „Instant-Therapie“ verspricht schnelle Lösungen: wenige Minuten Aufstellung, statt jahrelanger Sitzungen beim Psychotherapeuten mit ungewissem Ausgang.
- Er gibt normative Vorgaben und erfüllt den Wunsch: „Wir gehen jetzt zur Paartherapie und der Therapeut sagt dir dort, was du ändern sollst.“
- In einer zunehmend differenzierten und komplizierten Welt verkörpert er eine autoritative Leitfigur mit konservativem Wertverständnis.
Hellinger ist offenbar nicht trotz, sondern wegen seiner rigiden Urteile attraktiv, stellte der Psychoanalytiker Micha Hilgers fest.(10) Er befriedigt mit seinen Massenveranstaltungen auch ein voyeuristisches Bedürfnis, indem er Gut und Böse bestimmt, beschuldigt und plötzliche Entlastung erteilt. Es sei eine Psychoreligion, getragen von der Suche nach Verortung von Schuld und Sühne in vorgegebenen Ordnungen.
Der christliche Umgang mit Schuld und Sühne in Gebet und Vergebung erübrigt nicht immer fachliche psychotherapeutische Begleitung. Aber er befreit von der Auslieferung an selbsternannte Gurus.
Anmerkungen:
- Hellinger, Ordnungen der Liebe, 6. Aufl., Heidelberg 2000, 15
- Hellinger: Das Familien-Stellen (http://www.hellinger.de/deutsch/virtuelles_institut/familien-stellen/einfuehrung.shtml)
- Hellinger, Ordnungen der Liebe, 198.
- Hellinger, Ordnungen der Liebe, 232.
- Hellinger, Ordnungen der Liebe, 99.
- Hellinger, Ordnungen der Liebe, 25.
- Schippe, Arist von; Schweitzer, Jochen: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, 7. Aufl., Göttingen 2000
- Vgl. Ilse Korte: Hellingers Geisterstunde. Die unheimlichen Verbindungen von Familienstellen, Schamanismus und Exorzismus, connection Juli/August 2001
- Selbst Hellinger hat keine anerkannte Ausbildung zum Psychotherapeuten absolviert.
- taz vom 18. Mai 2001
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