Projizierte Sehnsucht

Die Vision von Lemuria als esoterisches Paradies

Wer in Dresden die berühmte Brücke „Blaues Wunder“ besucht, kommt am linken Flussufer über den Schillerplatz. Dort, zwischen Post und Kurzwarenladen, prangt ein farbenprächtiges Schild „Lemuria-Zentrum“. Forscht man im Internet nach, was sich dahinter verbirgt, so kann man auf einen eigenständigen Entwurf einer esoterischen Weltanschauung treffen. Begründet und vermarktet wird sie in erster Linie durch Dietrich von Oppeln. Mitarbeiter des Evangelischen Bundes Sachsen haben sich mit der Inhaberin des Dresdner Lemuria-Zentrums getroffen, um mehr darüber zu erfahren. 

Erfinder oder Entdecker?

Dietrich von Oppeln (geboren 1945) stammt aus Süddeutschland, studierte etwas Theologie am Tübinger Stift, dann Germanistik und Kunst. Nach einem einschneidenden Erlebnis wandte er sich 1977 der Esoterik zu. Dabei ist eine gewisse Prägung durch theosophische Vorstellungen unverkennbar. Von zentraler Bedeutung ist die Behauptung seines Kontaktes zu „uraltem“ Wissen aus „Lemuria“.

Der Begriff „Lemuria“ taucht in der geologischen Wissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts als ein hypothetischer Kontinent bzw. eine mögliche inzwischen versunkene Landbrücke auf, die einmal Madagaskar mit Indien verbunden haben könnte. In der heutigen Geologie sind diese Spekulationen vom Tisch. Die aktuellen Erkenntnisse über die Plattentektonik lassen dafür keinen Raum mehr. Gehalten hat sich der Begriff aber mit ganz unterschiedlichen Füllungen im Bereich der Esoterik. In der theosophischen Tradition und damit auch in der Anthroposophie gilt Lemuria als früherer planetarischer Entwicklungszustand. Dietrich von Oppelns Lemuria-Begeisterung hat damit nicht viel gemeinsam. In einem Vortrag am 30. April 2009 in Berlin beschreibt er recht freimütig, wie er sich Lemuria ausgedacht hat, als er 1997 sein erstes Buch darüber schrieb („Lemuria, Land des goldenen Lichts“). Er war dann sehr erstaunt, dass seine Ideen bei etlichen Lesern eine große Resonanz auslösten. Ihn hätten Menschen angerufen: „Sie haben recht, ich war dort in Lemuria.“ Seitdem hat er das Konzept immer weiter ausgebaut und seine ganze Arbeit darauf gegründet: Lemuria-Seminare, Lemuria-Massagen, Lemuria-Bilder, Lemuria-Orakel, Seelenbilder u.v.a.m.

Land der Sehnsucht

In seiner äußeren Form bescheibt Dietrich von Oppeln Lemuria als ein Land, das vor ca. 90 000 Jahren irgendwo im Pazifik bestanden habe. Für ihn gilt es als spirituelle Wiege der Menschheit. Dort hätten die Menschen noch in vollkommener Harmonie mit dem Göttlichen gelebt. Lemuria wird von ihm als eine Gabe der Göttin bezeichnet. Daher sei das Land auch nicht untergegangen, sondern wieder in den Himmel genommen worden, wo es spirituell immer noch bestehe. Die verbliebenen Bewohner wären dann nach Atlantis gekommen, bis dieser Kontinent unterging, weil die Menschen die Verbindung mit dem Göttlichen verloren hätten. Auch wenn er viele Vorgänge in der Kultur und Lebensweise auf Lemuria recht detailliert beschreibt, kommt es auf all diese Details letztlich nicht an. Die eigentliche Aussage liegt in der Funktion: „Lemuria steht für etwas, was wir alle zutiefst ersehnen. Das Land, in dem der Mensch so lebte, wie wir denken, er müsste so leben“. In der Version von Dietrich von Oppeln wird Lemuria zu einer einzigen großen Projektionsfläche aller menschlichen Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen. Der besondere Charme einer solchen Vision ist, dass sie nicht real funktionieren muss. Sie darf in sich widersprüchlich sein, weil sämtliche Widersprüche durch die als Postulat gesetzte göttliche Harmonie gar nicht zum Tragen kommen können. Ein Beispiel: Dinge wie Kriege und Ungerechtigkeit, Gesetze und Gesetzesbruch habe es in Lemuria nicht gegeben. Regelwerke hätte es nicht gegeben, sondern „nur deine göttliche Essenz, in der du lebst, heute so, morgen so, aber immer in der Wahrheit“. Er propagiert hier also die größte denkbare Form der uneingeschränkten Autonomie menschlicher Individuen, die zugleich völlig ohne Konflikte bleibt.

Einerseits betont er, dass die Lemurianer „ganz normale Menschen“ waren, die lediglich von besonderer Reinheit des Denkens und Fühlens in ihrer Beziehung zum Göttlichen und im Miteinander waren. Keine fünf Minuten später im gleichen Vortrag gilt Lemuria als Ort, den die hohen Geistwesen von den Plejaden und die Sirianer von der Göttin bekamen, um dort das menschliche Leben in einem Körper ausprobieren zu können.

Es ist kaum möglich, alle Idealvorstellungen aufzuzählen, die in esoterischen Kreisen offenbar positive Resonanz auslösen können und die folglich auch Lemuria auf sich gezogen hat: In Lemuria gab es keine Dualität, keine Polarität. In Lemuria lebten alle in vollkommener Harmonie und Mitgefühl mit allen Lebewesen. Selbstverständlich waren sie Vegetarier. Mit der Sexualität hatten sie keine Probleme. Lemurianer sind anmutig und sympathisch. Sie haben das „dritte Auge“, mit dem sie in die Herzen der Menschen sehen können. Gefühl und Verstand sind stets in vollkommener Übereinstimmung. Die Kinder sind fröhlich und unbeschwert und sorgen sich umeinander, statt sich zu ärgern…

Normatives Paradies

Die Projektionsfläche von Lemuria in der Konstruktion Dietrich von Oppelns erfüllt zwei elementare Funktionen:

Zum einen ist sie eine Paradiesvorstellung, die offenbar in der Lage ist, starke Sehnsüchte und damit emotionale Bindungen zu wecken. Er nennt Lemuria auch „Das Land, das deine Seele sucht. Es ist der Grund deines Hungers und deines Durstes, und der Ort, an dem beides gestillt wird.”

Zum andern wird Lemuria zur universell einsetzbaren Legitimierungsinstanz für Verhaltensempfehlungen. Es genügt der Verweis auf „Die Lemurier hatten…“, „In Lemuria machte man dies so und so…“ um automatisch entsprechendes Verhalten als erwünscht und richtig zu charakterisieren.

Lemuria in Dresden

Im Inneren des Ladens am Schillerplatz befinden sich neben einiger esoterischer Literatur und meditativen CDs vor allem Kristalle und Edelsteine. Deren Beschreibungen verweisen auf heilende Wirkungen bei spezifischen Krankheiten und Problemlagen. Hinter dem Laden befindet sich ein Seminarraum, dessen Ausgestaltung das spirituelle Klima fördern soll.

Bei den dort regelmäßig angebotenen Meditationen steht eine Kerze in der Mitte, es ertönt leise „Lemuria-Musik“, zu der ca. eine Stunde beruhigend gesprochen wird.

Die farbigen computergenerierten Bilder mit geometrischen Figuren an den Seitenwänden entstammen dem Lemuria-Orakel. Sie werden auch als Karten vertrieben und symbolisieren verschiedene Aspekte des spirituellen Lebens. An der Stirnseite, also quasi dem Altarraum dieser spirituellen Kapelle, ziehen größere Bilder die Blicke auf sich. Sie rufen förmlich nach Interpretation. Die beiden großen Bilder in der Mitte stellen die Göttin und den Gott dar, so ist zu erfahren, wobei die Wahl der geometrischen Motive Anleihen an indischen Lingam-Yoni Vorstellungen nicht verbergen kann. Rechts und links von ihnen hängen die drehenden Kugeln von Lemuria und die Erdenhüter. Alle diese Bilder wurden von Dietrich von Oppeln selbst kreiert. Eine Wand im Verkaufsraum ist nahezu ausschließlich den Büchern und DVDs mit Aufnahmen von Vorträgen mit Dietrich von Oppeln gewidmet. Auch in den Gesprächen wird deutlich: er hat als spiritueller Lehrer eine besondere Rolle und eine prägende Wirkung hinterlassen.

Aus der NAK nach Lemuria

Die Inhaberin des Dresdner Lemuria-Zentrums ist ursprünglich in der Neuapostolischen Kirche aufgewachsen, bis sie diese im Alter von 14 Jahren verlassen hat. In Kontakt mit Lemuria kam sie durch gesundheitliche Beschwerden. In einem Esoterikladen auf dem Weg fand sie verschiedene Literatur. Als sie dort das Buch über Lemuria las, fühlte sie sich in der Seele berührt und tief innerlich angesprochen. Eine Sehnsucht war geweckt worden. Eines Tages war Dietrich von Oppeln selbst zu einem Vortrag in diesem Esoterikladen eingeladen. Aus der Begegnung entwickelte sich eine langjährige Beziehung. Respektvoll spricht sie von ihm als ihrem Lehrer. Auch seine Großmutter wird erwähnt, die als spirituelle Heilerin auch aussichtslosen Fällen habe helfen können. Die Begegnung mit ihm und dem Konzept von Lemuria beschreibt sie als Befreiung. Früher sei sie oft voller Angst vor einem strafenden Gott gewesen, wie sie ihn in der Neuapostolischen Kirche gelehrt bekommen hatte. Jetzt geht es ihr gut und sie wisse nicht, wovor sie Angst haben solle. Dabei sei auch die Vorstellung der Reinkarnation für sie erlösend gewesen: zu wissen, es gibt mehr als eine Chance für das Leben.

Inzwischen bevorzugt sie - ebenso wie ihr Lehrer - „die Göttin“ als Anredeform des Göttlichen. Damit verbindet sich eher ein mütterliches Bild, während „Gott“ zu sehr mit der Assoziation als strafender Gott belegt sei. Gott/Göttin hingegen sei wie eine Himmelswolke - eine große Energie, aus der alles geboren ist. So gilt auch die gesamte Natur als beseelt.

Kristalle und Heilsteine

Ihre besondere Liebe gilt den Kristallen. Sie seien das göttlichste, was geschaffen wurde und würden ein höheres Bewusstsein aufweisen. (Sogar die Wissenschaft habe das gemessen.) Die Kristalle werden als Empfänger von Bitten und Gebeten angesprochen und die Erwartung ausgedrückt, dass schon „Energie“ übertragen wird, wenn man nur an sie denkt. Als Wahrsageinstrument wie bei der sprichwörtlichen Kristallkugel werden sie aber nicht eingesetzt. In diesem Weltbild übernehmen die Kristalle offenbar die kombinierte Funktion von Engeln und Heiligen. In jedem Fall werden sie als Transmitter zwischen der Alltagswelt und „dem Göttlichen“ in Anspruch genommen. Konsequenterweise gibt es in diesem Laden keine Engel. Auf unsere Rückfrage hin wird die in manchen Esoterikkreisen verbreitete Vorstellung, man könne „gechannelte“ geistige Kundgaben von Erzengeln erhalten, rundweg als Quatsch abgelehnt – ebenso wie die kitschigen Putten. Engel sind großartige Wesen, aber sie können gut und böse sein. Nicht jedoch die Kristalle. Die Lemurianer hätten einen so reinen Kristall gehabt, der habe alles speichern können, was gesagt und gedacht wurde. Das theosophische Konzept der Akasha-Chronik begegnet uns hier wieder auf „kristallisch“.

Als Esoterikerin fühlt sie sich gleichwohl nicht, und auch ihren Lehrer will sie nicht so bezeichnet sehen. Zu Esoterikmessen und vielem in diesen Kreisen hat sie eine erfrischende Distanz behalten. Das zeigt, wie hochgradig selektiv die Rezeption esoterischer Komponenten in der Praxis ist - und das eher als Normalfall und nicht nur in seltenen Ausnahmen. Lebensvorhersage in indischen Palmblattbibliotheken ja, Kristallkugelwahrsagen nein, Lemuria-Orakel ja, Engelkitsch nein, Tibet als Kronenchakra der Erde ja, Astrologie und Horoskope nein, Kristalle an Kraftplätzen ja, Esoterikmessen nein usw.

Hier und jetzt

Kernfrage von Lemuria ist laut Dietrich von Oppeln immer die Frage „Wer bin ich“? Die Frage nach dem Wesen des eigenen Selbst, der eigenen Bestimmung, dem Ort in der Aufgabe in der Welt berührt Grundlagen des Selbstverständnisses. Der Esoterikmarkt zeigt, dass es nicht wenige Menschen gibt, die sich von solchen Daseinsfragen umgetrieben fühlen.

Ziel der Erinnerung an Lemuria ist es, den Himmel auf die Erde zu ziehen. Nicht warten, ob sich irgendwann das Schicksal wandelt, sondern hier und jetzt in Freude leben. Auch das ist ein Grundzug der Esoterikszene: Bei aller Spiritualität und Transzendenzsuche geht es doch primär gerade nicht um ein irgendwie geartetes späteres Jenseits, sondern um die Gestaltung des Diesseits: um Glück, um Erfolg, um Wohlbefinden in diesem Leben.

Konfliktlösungen?

Lemuria ist die idealisierte und verklärte Beschreibung einer archaischen Hochkultur, die sich von allen bekannten menschlichen Kulturen durch ein entscheidendes Charakteristikum abhebt: Es gibt dort kein Leid und keine Konflikte. Diese dunkleren Elemente des Daseins wurden in einer schlichten gut/böse-Sortierung in die kosmische Vorgeschichte ausgelagert. Das gibt es nur bei anderen bösen Außerirdischen, welche z.B. die Dinosaurier duch Mutationen erzeugt hatten. Lemuria bleibt völlig rein von alledem.

Das Problem bei Lemuria ist nicht, dass es eine Paradiesvision darstellt. Auch das Christentum kennt die Hoffnung auf ein Dasein ohne Leiden in der Gegenwart Gottes. Das Problem ist, dass so getan wird, als sei dies eine reale Beschreibung der Geschichte und des tieferen Wesens der Menschen. Das ist es aber nicht. In dieser Welt müssen wir damit klar kommen, dass es Leid, Unrecht und schlechtes Handeln gibt. Orientierungen für das Leben, die z.B. Hilfen beim Umgang mit Konflikten bieten, lassen sich aus der Vision von Lemuria kaum gewinnen. Dafür ist sie zu wirklichkeitsfremd.

 

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://confessio.de/index.php/artikel/289

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2012 ab Seite 06