Alis Freunde und der Islam

Zu Besuch im Alevitischen Kulturzentrum St. Pölten

Dass der Islam im Laufe seiner langen Geschichte sehr unterschiedliche Formen hervorgebracht hat, ist weithin bekannt. Wie diese im Detail dann aussehen allerdings weit weniger. Die Aleviten sind eine Religionsgemeinschaft im Kontext des Islam, die ursprünglich vorwiegend im anatolischen Bergland der Türkei beheimatet ist. Als im Zuge der Anwerbung türkischer Gastarbeiter in den 1970er Jahren besonders Bewohner dieser Gebiete nach Deutschland kamen, entstanden auch hierzulande etliche alevitische Gemeinden, die überwiegend aus Menschen mit türkischen oder kurdischen Wurzeln bestehen. Auch in Österreich sind Aleviten schon lange ansässig. Im Rahmen einer internationalen Tagung von Weltanschauungsbeauftragten in St. Pölten ergab sich die Gelegenheit, die dortige Alevitische Gemeinde zu besuchen.

Ali und Bektaschi

Den Bezug auf Ali tragen die Aleviten im Namen. Jener Cousin, Schwiegersohn und Gefährte des Propheten Mohammed, der sein Nachfolger werden wollte und es nicht konnte. Jener Ali ibn Abi Talib, auf den sich auch die Schiiten berufen, und der zum Stammvater ihrer Reihe der Imame wurde. Alle Imame der Schiiten starben eines gewaltsamen Todes – mit Ausnahme des letzten, des 12. Imams, der entrückt ist, verborgen vor seinen Gläubigen und dessen Wiederkunft am Ende der Zeit erwartet wird. Die Verehrung Alis, der Familie des Propheten Mohammed und der zwölf Imame teilen die Aleviten mit dem schiitischen Islam. Deswegen werden sie auch oft diesem mit zugerechnet.

In Bezug auf die kultische Praxis sind die Gemeinsamkeiten aber sehr gering. Es gibt keine Geschlechtertrennung bei den Zusammenkünften, keine Befolgung der fünf Pflichten des Islam, kein Bilderverbot etc. Insofern ist das Alevitentum als eigenständige religiöse Bewegung zu charakterisieren, die etliche weitere Einflüsse aufgenommen hat. Dazu gehören vorislamische anatolische Strömungen des 13.-16. Jahrhunderts ebenso wie sufische Elemente und schamanistische Einflüsse von Turkvölkern, sozialrevolutionäre Ideen und sogar christliche Anklänge.

Eine besondere Rolle spielte der Sufi-Mystiker Hadschi Bektasch Weli (1209-1271). Nach ihm ist der Bektaschi-Orden benannt, mit dessen Glaubensansichten die ländlichen Aleviten stark übereinstimmten. 1925 wurden in der Türkei alle religiösen Orden verboten. Seither stehen Aleviten unter einem starken Assimilationsdruck. Der alevitische Geistliche und Volksdichter Pir Sultan Abdal (1480-1550), der von den Osmanen hingerichtet wurde, entwickelte sich in den 1970er Jahren für viele Aleviten zur Ikone des politischen Kampfes.

Aleviten in Europa

In der Türkei bilden Aleviten ca. 15-20% der Bevölkerung. Während der osmanischen Herrschaft wurden sie vielfach unterdrückt. Darum begrüßten sie sie Entstehung des laizistischen Staates unter Kemal Atatürk. Allerdings kam es dennoch immer wieder zu Diskriminierungen durch die sunnitische Mehrheitsgesellschaft und sogar mehrfach zu Pogromen gegen Aleviten. Der türkische Staat zählt die Aleviten zu den Muslimen, fördert und bezahlt aber nur die sunnitische Mehrheitsreligion. Die alevitischen Feste dürfen zwar gefeiert werden, aber nicht als religiöse, sondern nur als Folkloreveranstaltungen. Aleviten kämpfen u.a. vor dem Europäischen Gerichtshof darum, dass ihre Cem-Häuser den Moscheen gleichgestellt werden.

In Deutschland sind die rund 500 000 Aleviten vergleichsweise gut integriert und am gesellschaftlichen Leben beteiligt. Ausdruck dafür ist u.a., dass schon etliche Jahre vor dem islamischen der alevitische Religionsunterricht eingeführt wurde (seit 2002 in Berlin, und seit 2008 als ordentliches Lehrfach in NRW). Weil für die Aleviten ohnehin die meisten religionsrechtlichen Regeln der Scharia keine Bedeutung haben, stellt sich für sie die Frage der Vereinbarkeit von Islam und Grundgesetz viel weniger. An mehreren Universitäten wurden Stellen zur Erforschung des Alevitentums und zur Ausbildung alevitischer Lehrkräfte eingerichtet (2014 PH Weingarten, 2015 Uni Hamburg).

In Österreich gibt es ca. 60 000 Aleviten in zwei Organisationen. Die „Islamische Alevitische Glaubengemeinschaft in Österreich“ (IAGÖ) wurde 2013 als eigene Religionsgesellschaft neben dem Islam staatlich anerkannt. Allerdings gibt es auch erhebliche Spannungen unter den österreichischen Aleviten. Eine andere Gruppe ist inzwischen als Alt-Alevitische Glaubensgeneinschaft in Österreich als Bekenntnisgemeinschaft registriert.

Gem-Gottesdienst

Herzstück der alevitischen Glaubenspraxis ist der Cem-Gottesdienst. In den ländlichen anatolischen Dörfern fand er oft am Donnerstag statt, in St. Pölten hingegen können die in vielen Berufen in der Stadt tätigen sich nur am Wochenende dafür frei nehmen, wie der örtliche Dede berichtet. Der Cem-Gottesdienst hat sehr stark gemeinschaftsstiftende Funktion. Die Familien der Gemeinde sitzen im Halbkreis zueinander, damit sie einander ins Gesicht schauen können. Es gibt im Alevitentum keine Geschlechtertrennung, Männer und Frauen sind weitgehend gleichberechtigt, auch das Ritual kann von Männern (Dede) wie von Frauen (Anas) gleitet werden.

Am Beginn des Gottesdienstes steht die (ritualisierte) Frage, ob alle in Harmonie miteinander stehen. Auch die Zustimmung der Gemeinde zu dem oder den jeweiligen Leitern des Gottesdienstes wird erfragt. Eventuell unter den Gottesdienstteilnehmern bestehende Konflikte untereinander oder auch mit dem Dede als Leiter des Rituals müssen zu Beginn öffentlich benannt und ausgeräumt werden, bevor der Gottesdienst fortgesetzt werden kann. Auf Rückfrage wird berichtet, dass es in St. Pölten durchaus schon vorgekommen ist, dass ein Dede abgelehnt wurde, weil er zuvor etwas kränkendes zu einem Gemeindeglied gesagt hatte. Dies konnte aber im Rahmen des Rituals geklärt und bereinigt werden.

Dann werden die sogenannten zwölf Dienste vorbereitet, mitgebrachte Opfergaben (selbstgemachtes Brot und Obst) abgelegt. Die zwölf Dienste werden vom Dede einzeln aufgerufen, vollziehen ihr Ritual und werden vom Dede gesegnet. Diese Rituale haben alle eine „weltliche“ und eine „verborgene“ Bedeutung. So wird der Boden mit einem Besen gereinigt (äußere und innere Reinigung), Kerzen angezündet (Raum beleuchten und Licht Gottes den Menschen bringen), Hände gewaschen etc. Diese Dienste werden auch von Jugendlichen übernommen, die so in die Traditionen und Bräuche des Alevitentums eingeführt werden sollen.

Der Koran spielt im Cem-Gottesdienst keine herausgehobene Rolle. Überhaupt ist seine Bedeutung im Alevitentum relativiert, weil es auch auf die mündliche Überlieferung ankomme, die Ali geoffenbart worden sei. Von entsprechend großer Bedeutung sind dafür die Gebete und vor allem die Lieder, die im Gottesdienst vom Dede zur Langhalslaute vorgetragen werden. Wer die Texte auswendig kann, singt auch mit, ansonsten sind die Lieder aber Vortragsstücke. Sie handeln vom Leid der Söhne und Enkel Alis, der Schlacht von Kerbela, dem Martyrium der elf Imame, der Himmelfahrt des Propheten, Gedichten der Heiligen und anderen Erfahrungen in der Geschichte derAleviten. Auch Tanz gehört mit zum alevitischen Gottesdienst.

Zusammenhalt statt Mission

Die Weitergabe des Brauchtums an die nächste Generation ist sehr wichtig, weil es im Alevitentum traditionell keine Mission gibt. Ein Übertritt zum Alevitentum ist nicht vorgesehen, sondern man wird Alevit durch Geburt. Dies erklärt auch die traditionelle Erwartung einer endogamen Eheschließung und den daraus folgenden in der anti-alevitischen Polemik verbreiteten Inzestvorwurf. Von großer Bedeutung ist auch die traditionelle Einrichtung einer „Weggemeinschaft“ (musahiplik) zwischen Männern, deren unauflösliche Bindungskraft noch die der Familie übersteigen kann.

In (westlichen) modernen pluralistischen Gesellschaften sind solche Erwartungen an inneren Zusammenhalt naturgemäß schwerer zu erfüllen, als in geschlossenen Siedlungsgebieten. Es gibt auch alevitische Richtungen, die darauf reagierend das Alevitentum als eine normale Religion wie andere betrachten, zu der man folglich auch übertreten kann. Wieder andere Aleviten sehen es vorwiegend als kulturelle Tradition an und negieren die religiösen Elemente. Die Vielfalt im gegenwärtigen Alevitentum ist jedenfalls beträchtlich.

Fastenbräuche

Vom schiitischen wie vom sunnitischen Islam unterscheiden sich Aleviten nicht nur in der Ablehnung der Scharia, dem Verzicht auf Pflichtgebete, den Ersatz der Moscheen durch Cem-Häuser, der Überwindung der Geschlechtertrennug, sondern auch in ihren anderen Fastenbräuchen. Sie fasten nicht im Ramadan, wie die anderen Muslime, sondern haben eigene Fastentage.

Bedeutsam ist u.a. das Muharrem-Fasten im ersten islamischen Monat, das eigentlich zwölf Tage zu Ehren der zwölf Imame währt, aber im Gedächtnis an die unschuldig ermordeten Kinder der Imame auf 14 Tage ausgedehnt wird. Während des ganzen Trauermonats versuchen Aleviten, mit möglichst wenig Flüssigkeit auszukommen, weil die Belagerten in der Schlacht bei Kerbela auch nichts zu Trinken hatten. Der Trauermonat endet mit dem Aschure-Tag. Das Fasten beginnt bereits um Mitternacht und währt bis zum nächsten Sonnenuntergang.

Symbolik

Im Gottesdienstraum des Cem-Hauses schauen symbolische Bildnisse von Ali und den anderen elf Imamen auf die versammelte Gemeinde. Das zweizüngige gebogene Schwert („Sülfikar“) sei kein Symbol der Gewalt, wie oft fälschlich angenommen werde, sondern stehe für das Schwert der Gerechtigkeit. Viele jugendliche Aleviten tragen das Sülfikar als Schmuckstück und Erkennungszeichen ihres Alevitentums. Ein im Gottesdienst verwendetes Schaffell symbolisiert die Anwesenheit des ersten Imams Ali, hätte seinen Ursprung aber schon beim Propheten Abraham, betont der Dede.

Anerkennung und Zusammenarbeit

Ein großer Teil der alevitischen Rituale beinhaltet, das Leid und Martyrium der elf Imame, das ihnen von den jeweiligen (sunnitischen) Machthabern angetan wurde, detailliert zu vergegenwärtigen und als schweres Unrecht zu beklagen. Diese kultische Praxis belastet und behindert eine engere Zusammenarbeit mit sunnitischen Muslimen. Ein Prozess des „Healing of Memories“ scheint angesichts dieser Verwerfungen dringend nötig. Die neuen Wunden des Krieges in Syrien machen solche Bemühungen schwerer und dringlicher zugleich.

 

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2016 ab Seite 14