Widerruf ohne Überzeugung
Es klingt wie ein Schrei, der die arabische Welt wachrütteln müsste: Der Ägypter Sayyid al-Qimni gehört zu den Denkern, die eine historische Lesart des Korans unterstützen und entsprechende Reformen in der heutigen islamischen Glaubenspraxis fordern. Während sein Landsmann Nasr Hamid Abu Zaid für solche Thesen gerichtlich belangt wurde und ins Exil ging, wird al-Qimni nun derart massiv von Fundamentalisten bedroht, dass er seinen Schriften öffentlich abgeschworen hat. In einem offenen Brief an Redaktionen und Nachrichtenagenturen sagte er sich von allem los, was er in den letzten 20 Jahren veröffentlich hatte, weil er mehrere Drohbriefe erhalten habe. Dabei war auch eine Todesdrohung einer Untergruppe des Ägyptischen Jihad, falls er seine „blasphemischen“ Schriften nicht zurückzöge. Al-Qimni, der in der arabischen Welt als liberaler Kritiker des islamischen Fundamentalismus bekannt ist, hat sich oft mit heißen und umstrittenen Fragen zur Geschichte des Islam auseinandergesetzt. So vertrat er in einer Studie über die Gründung des islamischen Staates zur Zeit Mohammeds die These, dass der Koran als historischer Text wahrgenommen und im Licht notwendiger Reformen kritisch hinterfragt werden müsse.
Al-Qimnis Erklärung hat zahlreiche Reaktionen hervorgerufen. Manche warfen ihm Feigheit vor, andere zeigten sich besorgt über die Bedrohung der Ausdrucksfreiheit in der arabischen Welt. Ein Widerruf, der offensichtlich nicht aus Überzeugung kommt, sondern aufgrund von Terrordrohungen erzwungen wurde, hat zeigt eine Unfreiheit und ein Klima des Terrors, auf das kein Muslim stolz sein kann.
HL /NZZ 9.9.2005