Coverbild: Kirchengebäude vor großem Spiegel

Antisemitismus und Protestantismus

Impulse der Evangelischen Akademien zur Selbstreflexion

„Die Erkenntnis, dass Antisemitismus kein Problem der Anderen ist, sondern im eigenen Lebens- und Arbeitskontext seinen Ort hat, ist ein erster großer und wichtiger Schritt.“ Diese Worte stehen am Anfang einer Broschüre der Evangelischen Akademien in Deutschland. Sie geht der Frage nach, welche Formen von (latentem) Antisemitismus oft unreflektiert auch unter evangelischen Christen bestehen und wie diese bewusst gemacht werden können - als ersten Schritt bei Versuch der Vermeidung.

Problem der Anderen?

Antisemitismus wird oft als ein zwar wichtiges, aber zugleich eher fremdes Thema angesehen. Die monströsen Taten der Nazis begegnen mit zeitlichem und moralischem Abstand. Er erscheint nur als Problem der Anderen, der Islamisten, Neonazis oder Gewalttäter - und dort vor allem in Form konkreten Handelns: Schändung von Denkmalen, Zerstörung von Stolpersteinen, Terrorakte gegen Juden etc. Die Grundhaltung dazu ist: „Das lehne ich ab und kenne auch niemanden in meinem Umfeld, der das befürwortet. Also habe ich auch nichts mit Antisemitismus zu tun“ – so eine häufige, aber irreführende Schlussfolgerung. Sie übersieht, wie stark die Ausgrenzung des Jüdischen in der eigenen Kultur verankert ist. Die Konstruktion eines „Wir“ erfolgt in komplementärer Unterscheidung von „den Juden“. Damit gehören sie eben nicht dazu. Das legt die Grundlage für Abwertung, Ausgrenzung und letztlich auch Gewalt. 

Antijüdische Verzerrung

Das beginnt damit, dass sich das Christentum historisch in Abgrenzung vom Judentum formiert hat. Das hat in der Theologie über Jahrhunderte zu einer anti-jüdischen Verzerrung geführt. Das biblische Zeugnis von der bleibenden Erwählung Israels wurde weithin ignoriert, der erste Teil der Bibel als „gesetzlich“ abgewertet. Der säkulare Antisemitismus ist ein Erbe dieser verqueren religiösen Perspektiven. 

Nation ohne Juden

An der Etablierung des Nationalismus im 19. Jahrhundert hatte der Protestantismus einen erheblichen Anteil. Die deutsche Nation wurde als protestantisch konzipiert:, in den Wurzeln urgermanisch, durch das Christentum veredelt, durch Luther erneuert – und eben nicht jüdisch. Wie konnte es passieren, dass protestantische Weltdeutung und Identität zum tragenden Milieu des modernen Antisemitismus im 19. Jh. werden konnte? Solche Fragen sind elementarer Bestandteil der nötigen Selbstreflexion. 

Harald Lamprecht

Die genannte Broschüre zum Download: https://www.evangelische-akademien.de/publikation/antisemitismus-und-protestantismus-impulse-zur-selbstreflexion/

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2023 ab Seite 13