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Gottes Verschwörung?

Betrachtungen zum Verhältnis von Verschwörungsmythen und Religion

In Fortbildungen zum Thema „Verschwörungsideologie“ kommt mit großer Regelmäßigkeit die Frage nach der Unterscheidung von Verschwörungsdenken und Religion auf – insbesondere im säkularen Kontext. Ist religiöser Glaube nicht auch eine Variante eines großen Verschwörungsdenkens, wo übermächtige Wesen im Hintergrund die Fäden ziehen?

Kontingenzbewältigung

Die Frage ist insofern nicht völlig absurd, weil es in der Tat zwei gewichtige strukturelle Parallelen gibt. Da ist zum Ersten zu sehen, dass sowohl Verschwörungserzählungen als auch Religionen gleichermaßen eine wesentliche Funktion haben: Sie tragen zur Kontingenzbewältigung bei. „Kontingente“ Ereignisse sind die Dinge in der Welt, die einfach so passieren, ohne dass es dafür eine logische oder schlüssige Erklärung gibt. Katastrophen, Schicksalsschläge – die Frage nach dem „Warum“ macht den Menschen dabei fast immer zu schaffen. Es ist eine wesentliche Funktion von Religion, auf diese Fragen Antworten zu suchen und anzubieten. Sie tun dies auf unterschiedliche Weise und mit zum Teil sehr verschiedenen Denkmodellen. In den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam wird Gott als letzte Ursache hinter allen Dingen angenommen, so dass diese Fragen dort ihre angemessene Adresse bekommen. Das bedeutet nicht, dass diese damit auf einen Schlag zufriedenstellend beantwortet wären. Das Problem des Bösen in der Welt ist auch ein theologisches Problem. Aber es gibt eine Instanz, an die man sich im Gebet, mit Klage und Bitte wenden kann. Das wird für die emotionale Bewältigung solcher Krisenerfahrungen von vielen Menschen als sehr hilfreich erfahren. Es öffnet einen Bereich für die wichtigste Ressource: die Hoffnung. Wenn Gott als Schöpfer des Universums alles in seiner Macht hat und gegen seinen Willen nichts geschehen kann, dann hat er auch die Möglichkeit, das Schicksal zu wenden.

Beeinflusst vom persischen Zoroastrismus hat auch ein eher dualistisches Denkmodell Einfluss auf Christentum und Islam genommen (das Judentum ist davon weniger betroffen). Dort kommt die Gestalt eines Satan (hebr.) / Diabolos (griech.) / Teufel als Verursacher des Bösen ins Spiel. Zwar kann er das nur unter Gottes Zulassung. Gott aber wird durch dieses Modell etwas von der Verantwortung für das Böse entlastet. Die Kehrseite davon ist, dass die Figur des bösen Gegenspielers fälschlich auf die Ebene Gottes geraten und ihn verdecken kann. Auch sie bleibt aber eine dem jenseitigen Bereich zuzuordnende transzendente Macht.

Wieder andere Religionen im asiatischen Raum führen mit Reinkarnation und Karma andere Formen eines transzendenten Wirkmechanismus ein, der zur Erklärung gegenwärtiger Schicksalsschläge herangezogen wird: Schuld aus Fehlverhalten in früherem Leben gilt als Ursache für die gegenwärtige Situation. Damit verbundenes Leid dient dem Abtragen dieser karmischen Schuld.

Säkulare Ersatzreligion

An der gleichen Stelle menschlicher Verunsicherung docken auch Verschwörungserzählungen an. Sie suchen nach den geheimen verborgenen Ursachen für das, was geschieht. Insofern können sie als eine Art säkulare Ersatzreligion betrachtet werden, indem sie diese wesentliche Funktion von Religion aufnehmen und zu erfüllen trachten: Antworten auf Fragen nach dem Unerklärlichen zu suchen.

Die Vorsehung

Eine zweite Strukturparallele besteht darin, dass in den abrahamitischen Religionen das Konzept der göttlichen Vorsehung verbreitet ist: Gottes Handeln folgt einem verborgenen Plan. Wir Menschen kennen ihn nicht, jedenfalls nicht in seinen Details. Aber es wird unterstellt, dass Gott nicht launisch, willkürlich und zufällig handelt, sondern zielgerichtet und planvoll – dass also die Dinge geschehen, weil Gott es so will und eben nicht, weil es einfach so passiert. Das ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die eben beschriebene Funktion der Kontingenzbewältigung erfüllt werden kann. Nur wenn die Vorstellung von der Zuständigkeit Gottes in der Lage ist, Ordnung in das Chaos zu bringen, hat der Gedanke etwas Tröstliches.

Der geheime Plan

Das gilt nun analog für das Verschwörungsdenken, dessen Intention es ebenfalls ist, hinter dem Chaos eine steuernde Ordnung zu vermuten. Die Vorstellung, dass das Geschehen planvoll abläuft, ist dabei für Verschwörungserzählungen absolut zentral. Ohne Plan keine Verschwörung. Die Verschwörer haben es so gewollt, deshalb ist das Flugzeug abgestürzt, hat der Tsunami die Ufer überschwemmt, ist die Brücke eingestürzt usw. Auch hier ist es der Plan, der mittelbar die Attraktivität von Verschwörungsdenken erzeugt. Wenn es nämlich einen Plan gibt, dann kann man diesen vielleicht auch ändern. Mit einem chaotischen Schicksal kann man nicht diskutieren. Planende Verschwörer könnte man aber möglicherweise doch identifizieren und eliminieren und dann selbst den Plan anders gestalten. Das ist auch hier das Fenster der Hoffnung, das durch das Verschwörungsdenken geöffnet wird.

Transzendenzverlust

Damit enden allerdings auch die Gemeinsamkeiten. Der entscheidende Unterschied zwischen Religionen und Verschwörungsdenken besteht darin, dass in den Religionen der irdisch-menschliche Bereich verlassen wird. Transzendenzbezug ist ein unverzichtbares Wesensmerkmal von Religionen. Wenn Gott für das Schicksal und das Unnennbare verantwortlich ist und das Weltgeschehen letztlich seinem Plan folgt, dann sind es eben gerade nicht Menschen, denen das alles zugeschrieben wird.

Dazu kommt, dass im christlichen Verständnis Gott nicht in seiner Schöpfung aufgeht. Er ist nicht einfach eine besondere Wirkursache neben anderen. Gott ist selbst kein Teil des Weltgeschehens. Insofern führt christlicher Glaube nicht zu einer speziellen Erkenntnis oder der Aufdeckung von verborgenem Wissen, sondern zur Kraft des Vertrauens. Er ist nicht die Beseitigung aller Rätsel und Widersprüche, sondern die Befähigung, auch mit Rätseln und Widersprüchen zu leben.

Verschwörungsdenken ist das Gegenteil davon. Es drängt zur Auflösung aller Transzendenz, zur (behaupteten) Lösung aller Rätsel, indem Menschen als Verursacher postuliert werden. Die geheimen Eliten, die verborgenen Drahtzieher werden als Menschen wie du und ich gedacht – lediglich mit besonders bösartigem Machthunger und deshalb skrupellos und gerissen genug, die Welt nach ihrem Willen zu manipulieren. Dieser Transzendenzverlust hat Folgen. Teilweise mörderische.

Gut und Böse

Ein zweiter zentraler Unterschied besteht darin, dass – jedenfalls in Judentum, Christentum und Islam – die Vorstellung prägend ist, dass Gott es gut mit den Menschen meint. Im Christentum ist die Liebe und Zuwendung Gottes zu den Menschen als seinen Geschöpfen so stark, dass er selbst in Jesus Mensch geworden ist. Auch wenn wir Gottes Plan nicht kennen – wir kennen seine Verheißung, und diese besagt, dass Gott für die Menschen letztlich Gutes will. Das Judentum hat die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und des Exils in Babylon als notwendige erzieherische Maßnahme Gottes gedeutet, dem wieder eine heilvolle Zuwendung folgt (vgl. Jesaja 56ff.) Die Religion hilft somit Menschen, mit äußerlich negativen Ereignissen wie Krankheit, Verlust u. a. positiver umzugehen, weil diese als Taten eines Gottes gedeutet werden, der es im Kern gut meint.

Im Verschwörungsdenken ist es genau andersherum. Dort ist die zentrale Grundannahme, dass die Verschwörer es böse meinen. Sie haben nichts im Sinn als ihren egoistischen Weg zur Macht. Die Katastrophen der Welt gelten dabei als skrupellos in Kauf genommene Kollateralschäden – so das Grundmuster gängiger Verschwörungsideologien. Der Effekt ist, dass eigentlich positive und hilfreiche Dinge und Prozesse (wie z.B. Impfungen, Vereinte Nationen, Flüchtlingshilfe u.v.a.m.) im Verschwörungsdenken mit einem negativen Framing versehen und als eigentlich im Kern Böse umgedeutet werden. Dann gilt die Impfung als Anschlag auf die Gesundheit, die Welteinheitsregierung wolle die Völker versklaven, Flüchtlingsströme würden gezielt provoziert um Länder zu destabilisieren und eine „Umvolkung“ herbeizuführen u.s.w. Das Grundmuster ist immer das Gleiche: Die Verschwörer wollen Böses und deshalb sei auch das scheinbar Gute, das sie tun, im Kern doch böse.

Selbst wer nicht von der Existenz Gottes überzeugt ist, wird doch sehen können, dass die religiöse Form der Kontingenzbewältigung in aller Regel mehr dazu beiträgt, dass Menschen in Ruhe und Frieden ihr Leben bewältigen können als die verschwörungsideologische Interpretation des (Welt-)Geschehens.

Echsen und Dämonen

Die oben so klar und idealtypisch aufgemachte Unterscheidung (Religion = transzendent, Verschwörungsideologie = immanent) wird in der Praxis allerdings durch einen Umstand wieder etwas verunklart der noch genauere Betrachtung verdient.

Verschwörungsmythen gehen in aller Regel davon aus, dass alles, was geschieht, nur passiert, weil die Verschwörer es so wollen. Das ist die das Chaos ordnende Funktion des Verschwörungsdenkens. Die Verschwörer – so die Annahme – betreiben einen immensen Aufwand zur systematischen Täuschung der Öffentlichkeit. Sie steuern Geheimdienste und Parlamente, manipulieren Fernsehen und Radio. Die Zeitungen drucken ohnehin nur, was die Verschwörer wollen. Damit sie all das tatsächlich können – und das auch noch aus dem Verborgenen heraus – brauchen sie eine immense Macht. Diese irrationale Zuschreibung an Machtfülle führt systematisch zu einer Entmenschlichung der Verschwörer. Augenfällig wird dies in den Varianten, wo behauptet wird, Regierungsmitglieder seien gar keine Menschen, sondern Außerirdische, Echsen in Menschengestalt, sogenannte „Reptiloiden“. Die den Verschwörern zugeschriebene Machtfülle hat wiederum etwas Gottähnliches – oder genauer gesagt dämonisches. Das betrifft nicht nur die Personen, die als Kern der Verschwörung gedacht werden, sondern mittelbar auch all deren Helfer. Auch die Ärztinnen und Ärzte, die in der Corona-Pandemie viele Menschen mit Impfungen vor schweren Verläufen oder gar dem Tod bewahrt haben, werden in dieser angstverzerrten Sicht regelrecht dämonisiert. Der Tankstellenmord von Idar-Oberstein im September 2021 ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Für den Täter war da kein Student, der noch das Leben vor sich hatte und lediglich einen Job ausgeführt und allgemein geltende Regeln durchgesetzt hat, indem er ihn an seine Maskenpflicht erinnerte. In seiner verschrobenen Wahrnehmung saß dort hinter der Kasse ein Handlanger des absoluten Bösen, verkörpert als Abgesandter eines Staates, der ihn zwingt, eine Infektionsschutzmaske aufzusetzen. Den Menschen und sein Recht zu leben hat er nicht mehr gesehen. Er hatte sich zuvor schon länger in rechtsextremen und verschwörungsideologischen Telegram-Netzwerken bewegt und offenbar dort innerlich radikalisiert.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten:

  1. Zwischen Religionen und Verschwörungsdenken bestehen zwar einzelne Strukturparallelen. Für beide ist die Kontingenzbewältigung eine zentrale Funktion. Beide gehen davon aus, dass es einen verborgenen Plan hinter dem Weltgeschehen geben kann und reduzieren damit die Bedeutung des Zufalls.

  2. Wesentliche Unterschiede bestehen jedoch zum einen darin, dass Religionen einen Transzendenzbezug aufweisen und damit die Ursachen gerade nicht im menschlichen Bereich gesucht werden. Demgegenüber geht Verschwörungsdenken davon aus, dass die Verschwörer Menschen sind – mit sehr gefährlichen Folgen.

  3. Zum Anderen geht der christliche Glaube davon aus, dass es Gott mit den Menschen gut meint, während beim Verschwörungsdenken die Grundvoraussetzung ist, dass die Verschwörer böse sind. Diese werden letztlich für alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht.

  4. Insofern diesen Menschen als angeblichen Verschwörern übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben werden, werden sie wiederum entmenschlicht. Der gesammelte Zorn kann auf zufällige Menschen projiziert werden, denen ihre Menschenwürde abgesprochen wird. Das kann tödliche Konsequenzen haben.

  5. Religiöse Deutungen kontingenter Phänomene, die mit einem positiven Gottesbild verbunden sind, sorgen hingegen in der Regel für Entspannung und bessere Resilienz der Menschen im Umgang mit unerwarteten und schwer erklärbaren Ereignissen.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2024 ab Seite 14