Erbe und Auftrag liberaler Theologie

102. Generalversammlung des Evangelischen Bundes in Berlin-Wannsee

Als der Evangelische Bund 1886 in Erfurt gegründet wurde, hatte er nicht nur das Ziel, dem Staatskatholizismus eine deutliche evangelische Position gegenüberzustellen. Er bemühte sich ebenso um eine Einigung des Protestantismus, der in mehrere einander zum Teil heftig bekämpfende Lager zersplittert war. Diesem Anliegen, die verschiedenen theologischen Profile innerhalb der evangelischen Kirche in einen konstruktiven und fruchtbaren Dialog miteinander zu bringen, war auch die 102. Generalversammlung verpflichtet, die vom 6. bis 10. Oktober 2010 in Berlin-Wannsee stattfand. Speziell befasste sie sich mit Erbe und Auftrag der liberalen Theologie, die im 19. Jahrhundert in Berlin einige ihrer bedeutendsten Vertreter gefunden hatte.

Was ist „liberale Theologie“?

Eine Definition kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden: Zunächst bezeichnet der Begriff eine theologische Strömung im 19. Jahrhundert, die mit Friedrich Schleiermacher (1768–1834) in Berlin ihren Ausgangspunkt genommen hat. Daneben steht der Begriff als Sammelbezeichnung für ein Bündel aus theologischen und kirchenpolitischen Anliegen. Der Begriff selbst stammt von Johann Salomo Semler, der mit „liberaliter“ einen neuen, dogmatisch ungebundeneren Umgang mit der Bibel beschrieb.

Wie PD Dr. Miriam Rose in einem Referat ausführte, hat jedoch fast keiner der Protagonisten im 19. Jahrhundert sich selbst so bezeichnet. Ebenso gibt es keine gemeinsame Programmschrift. Nicht einmal als Fremdbezeichnung spielte der Begriff im 19. Jahrhundert eine Rolle, sondern er wurde erst durch die polemische Abgrenzung und als Negativfolie der so genannten Dialektischen Theologie Karl Barths nachhaltig geprägt. Von da her gibt es keine einheitliche Schule liberaler Theologie. Was liberale Theologie jeweils ist und bedeutet, hängt folglich von der Betrachtungsweise ab und ist auch einem Wandel unterworfen.

Klassische Positionen

Zum Begründer der liberalen Theologie wurde Friedrich Schleiermacher dadurch, dass er deutlich zwischen dem Grund des Glaubens und seinem konkreten Ausdruck unterschieden hat. Am Ausgangspunkt jeder Theologie steht für ihn die unmittelbare persönliche religiöse Erfahrung: das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (von Gott). Die Glaubenssätze der Dogmatik hingegen sind lediglich Erklärungen und Deutungen dieser religiösen Erfahrung, die je nach der Situation und den Bedürfnissen der Zeit formuliert werden müssen. Verschiedene Formen der Glaubenssätze sind durch verschiedene Situationen bedingt.

Adolf von Harnack (1851–1930) ist im Rahmen seiner Dogmenkritik für die Freiheit des Glaubensausdruckes eingetreten. Wenn die religiös sinnstiftende Rede in alten Dogmen und Bekenntnissätzen nicht mehr zu finden ist, so sollten diese nicht mehr gelehrt werden, meinte v. Harnack. Statt dessen sollten mittels Dogmenkritik die religiösen Probleme rekonstruiert werden, auf welche die Dogmen in der Sprache ihrer Entstehungszeit Antworten geben wollten. Dann wäre eine der eigenen Zeit angemessene Neuformulierung möglich. Auch wenn Adolf v. Harnacks Sätze heute wiederum neuformulierungsbedürftig sind, bleibt festzuhalten, dass es ihm darum ging, die Glaubensgrundlagen in überzeugender Weise zu kommunizieren.

Ernst Troeltsch hat ebenfalls darum gerungen, die Inhalte des Glaubens so zur Sprache zu bringen, dass ihre vergewissernde und Orientierung stiftende Kraft hervortritt. Dazu ist die Kritik an bestimmten Überlieferungen unvermeidlich.

Karl Barth und die Dialektische Theologie

In seinem Hauptreferat bezeichnete Prof. Dr. Wilhelm Gräb Karl Barth als weiteren Vertreter liberaler Theologie, „der mit Entschiedenheit keiner sein wollte“. Er begründete diese (viel Widerspruch hervorrufende) Zuordnung damit, dass auch Karl Barth zwischen einem vorsprachlichen Glaubensgrund und dem sprachlichen Ausdruck des Glaubens unterscheide. Wie die liberalen Theologen argumentiere er mit der Selbständigkeit der Gotteserfahrung, die in der Offenbarung gründet, und setzt die theologische Reflexion davon ab. Lediglich diese reflektierende Glaubensbeschreibung sei bei ihm anders gefasst: nicht als Erhebung des Menschen zu Gott, sondern als Einbruch Gottes in die rettungslos verlorene Welt. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges sei seine „Dialektische Theologie“ als „Antiliberal“ akzentuiert worden. Aber auch die Dialektische Theologie ist kein neo-orthodoxes Unternehmen, welches Gottes Gebot als unmittelbar aus Buchstaben der Schrift und Bekenntnis der Kirche schlussfolgert. Auch sie versteht sich als menschlicher Versuch, auf das zu hören, was Gott durch das Zeugnis des biblischen Wortes Menschen in der Gegenwart zu sagen hat.

Im Kreuzfeuer der Kritik

Die liberale Theologie sieht sich seit ihrem Aufkommen immer wieder ähnlicher Kritik ausgesetzt. Der Hauptvorwurf lautet, dass die Anpassung an den Zeitgeist dazu führe, die Substanz des christlichen Glaubens aufzugeben. Übrig bleibe dann ein harmloses Christentum, das nur noch Humanität predigt. Maßstab ist nicht mehr Gott, sondern der Mensch. Daraus entsteht ein Christentum ohne Kultur, das widerspruchslos in die moderne Gesellschaft eingefügt ist. Glaube werde zu einem rationalistisch erklärbaren Kulturphänomen reduziert. Derartige Vorwürfe wurden bereits von Schleiermachers Kollegen Ernst Wilhelm Hengstenberg erhoben und begleiten die liberale Theologie über Karl Barth und Paul Tillich bis zur Gegenwart.

Ermutigung

Diese Kritik ist nur zum Teil berechtigt. Richtig ist, dass liberale Theologie das Christentum an die moderne Kultur und Gesellschaft anpassen will. Falsch ist aber, dass damit notwendig der Verlust der Substanz des Christentums verbunden sei. Im Gegenteil, es gehe darum, die Substanz angesichts zahlreicher vorhandener Angriffe auf die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens zu verteidigen, betonte Prof. Gräb. Der Glaube soll auch denkenden Menschen ermöglicht werden. Schleiermacher wollte einen „ewigen Vertrag“ zwischen Religion und Wissenschaft stiften und nicht die Substanz des Glaubens gefährden. Dieses Anliegen ist von den Kritikern der liberalen Theologie nicht ausreichend gewürdigt worden. Darum taugte die Bezeichnung „liberale Theologie“ meist nur zur Denunziation. Dennoch hat sich letztlich die liberale Theologie auf breiter Front sowohl an den theologischen Fakultäten als auch in der Gemeinde durchgesetzt. Zwar geschah dies ohne Programmatik und deshalb mitunter mit schlechtem Gewissen. Faktisch ist sie aber weithin die Normal-Theologie geworden. Das bleibende Erbe der liberalen Theologie ist eine dreifache Unterscheidung:

  1. zwischen persönlichem Glauben und reflektierender Theologie,
  2. zwischen in Gott begründetem Glaubensgrund und zeitbedingtem Glaubensausdruck, sowie
  3. zwischen dem existenziellen Gewicht des eigenen Glaubens, der nicht zur Disposition steht, und der Freiheit im Umgang mit dem Glaubensausdruck, was eine kritische Distanz zur eigenen Religion einschließt.

Nach der Klassifizierung von Prof. Gräb gibt es gewissermaßen zwei Typen von Religion: „Religion I“ als elementarer Lebensglaube, und „Religion II“ als Glaubensdeutung. Bei aller Kritik und Neukonstruktion des zeitbedingten Glaubensausdruckes (Religion II) geschieht dies stets mit dem Ziel der Bewahrung von Religion I. Es geht darum, den Glauben stets so zu formulieren, dass er auf die Herausforderungen der Gegenwart reagiert und sich als Zeugnis eines heute gelebten Glaubens erschließt.

Kasualien als missionarische Gelegenheiten

Ein Punkt, an dem elementarer Lebensglaube (Religion I) und deutende Auslegung (Religion II) aufeinandertreffen, sind die Kasualien. Bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen sind es oft mit der Kirche nur locker verbundene Menschen, welche dennoch innerlich eine Sehnsucht danach spüren, ihren meist unartikulierten persönlichen Glauben mit einem kirchlichen Ritual zu verbinden. Dort soll diese Glaubenserfahrung gedeutet, interpretiert und konkret für das eigene Leben ausgelegt werden. Dass dabei Bezug auf die biblische Glaubenstradition und kirchliche Lehrentwicklung genommen wird, ist sogar erwünscht, solange sich eine Anknüpfung und Passung zur spezifischen Lebenssituation mit ihren Fragen herstellen lässt. Viele dieser Menschen ziehen aus einer gelungenen Kasualie den Schluss, doch in der Kirche zu bleiben. Wer nur die schon Bekehrten bekehren möchte, braucht keine liberale Theologie – für alle anderen zeigt sich ihre Wichtigkeit besonders bei den Kasualien, so Prof. Gräb.

Anfragen

In den Diskussionen auf der Generalversammlung wurden auch Anfragen an das Konzept liberaler Theologie gestellt. Als folgenreich zeigte sich, wo die Bibel verortet wird: Gehört sie zum Grund des Glaubens oder zu ihrem Ausdruck? Nach den Grundlagen liberaler Theologie ist die Bibel durch und durch Glaubensausdruck, sonst landet man bei einem fundamentalistischen Bibelwortglauben. Der Glaube an die Bibel setzt immer schon diesen Glauben voraus, er wird nicht von ihr erzeugt, sondern die Bibel ist Ausdruck des Glaubens. Das hat eine starke Plausibilität für sich. Aber wie kann man bei solcher Betrachtung überhaupt nach religiöser Wahrheit fragen? Muss die Bibel nicht doch auch – obwohl sie in der Tat Zeugnis von menschlichem Nachdenken über Gott gibt – zugleich als Grund des Glaubens anerkannt werden, weil sie die wesentlichen Tatsachen des Heils formuliert? Ansonsten reduziert sich liberale Theologie auf eine spezielle Form der Religionswissenschaft, die keinerlei sachliche Aussagen über Gott wagen kann, welche die jeweils individuelle religiöse Erfahrung übersteigen.

Eine andere Anfrage richtete sich auf die Begründung liberaler Theologie in der persönlichen religiösen Erfahrung. Martin Luther hat nicht ohne Grund darauf Wert gelegt, dass der Glaube nicht allein von der Erfahrung begründet wird, sondern seine Begründung außerhalb des eigenen Selbst hat. Der Glaube befähigt, auf Christus zu vertrauen, auch und gerade wenn dies nicht der eigenen Erfahrung entspricht.

Wohin führt es, wenn das Prinzip der „Lebensdienlichkeit“ zum obersten Maßstab bei der Beurteilung religiöser Glaubensaussagen wird? Wie können bei solcher Ausrichtung an der theologischen Nützlichkeit auch verstörende Elemente wie z.B. die kritischen Einwürfe der Prophetie angemessen gewürdigt werden?

Dogmeninterpretation statt Dogmenkritik

PD Dr. Miriam Rose wies in der abschließenden Podiumsdiskussion darauf hin, dass die Begründer der liberalen Theologie von einer starken innerlichen Frömmigkeit getragen waren. (So wurde z.B. während der Tagung immer wieder darauf angespielt, dass Prof. Christoph Markschies in seinem Grußwort Adolf von Harnack als baltischen Pietisten bezeichnet hatte, weil dieser die schlichte Herzensbeziehung zu Jesus vor alle kirchliche Dogmatik stellte.) Eine solche Innerlichkeit muss immer auch ausgedrückt werden. Was sind spirituelle Formen der liberalen Theologie, die diesen Anspruch einlösen können?

Es entsteht der Eindruck, dass die Begründer der liberalen Theologie von Voraussetzungen lebten, die sie selbst für nachfolgende Generationen nicht mehr in gleicher Weise schaffen konnten. Ihr religiöses Erleben war nicht von der liberalen Theologie hervorgebracht worden. Nun gehört gewissermaßen zum Dogma der liberalen Theologie, dass Theologie selbst generell überhaupt kein religiöses Erleben hervorbringt. Dahinter steht die Erkenntnis, dass alles Deuten sekundär ist und das berechtigte Anliegen, niemals wieder die Theologie für die Religion selbst zu halten. Aber stimmt das? Haben nicht auch die theologische Reflexion und die Bilder und Deutungsangebote, die sie erzeugt, eine starke Rückwirkung auf das religiöse Erleben?

Gegenwärtig lässt sich nicht nur in Ostdeutschland erfahren, dass der Wegfall theologischer Deutung auch das religiöse Gefühl verkümmern lässt. Im 19. Jahrhundert war die evangelische Freiheit durch kirchlichen Dogmatismus gefährdet. Heute ist die evangelische Freiheit viel mehr durch Unkenntnis gefährdet. Dringende Aufgabe auch der liberalen Theologie der Gegenwart ist demzufolge weniger die klassische Dogmenkritik, sondern vielmehr die Dogmeninterpretation. Dazu gehört sowohl die grundlegende Information über Geschichte und Gründe kirchlicher Lehrbildung, als auch die Frage, welche theologischen Probleme darin ausgedrückt sind und wie diese heute angemessen zur Sprache gebracht werden können.

Liberale Theologie - liberal gehandhabt

Glücklicherweise sind manche Probleme der liberalen Theologie in der kirchlichen Praxis eher theoretischer Natur. Es zeigt sich, dass im kirchlichen Alltag, wie ihn z.B. der Hessen-Nassauische Propst Sigurd Rink auf dem Podium präsentierte, die liberale Theologie selbst auch liberal und nicht dogmatisch gehandhabt wird. Eine radikal verstandene liberale Theologie könnte keine kirchlichen Normen begründen. Eine Kirche ohne Normen ist für Rink aber unvorstellbar. In der Ordination wird auf die Heilige Schrift, die reformatorischen Bekenntnisschriften und u.a. in Hessen auch auf die Barmer theologische Erklärung eine Verpflichtung abgelegt.

Das Bemühen der liberalen Theologie um Anschlussfähigkeit zu den Menschen der Gegenwart ist auch ein kirchliches Anliegen. Aber es bedeutet keinen Aufbruch in absolute Beliebigkeit. Vielmehr bedeutet es, biblisches Zeugnis und kirchliche Lehre so zu interpretieren und verständlich zu machen, dass sie etwas mit dem Leben der Menschen zu tun bekommen und Antworten auf persönliche Lebensfragen geben können. Wo dies in der kirchlichen Arbeit geschieht, wird das positive Erbe der liberalen Theologie bewahrt.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/258

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 5/2010 ab Seite 16