Zerschlagenes Kindeswohl
In den Selbstdarstellungen sieht es aus wie eine Idylle aus einer anderen Zeit: Die Anhänger der christlichen Gemeinschaft „Zwölf Stämme“ leben in friedlicher Gemeinschaft im Einklang mit der Natur. Abgeschottet von der Hektik und dem stressigen Getriebe des modernen Lebens, weitgehend frei von Fernsehtoten, sexualisierter Werbung und Handygeklingel wollen sie ihr Leben nach den Geboten Gottes organisieren. Regelmäßige gemeinsame Gebetszeiten gehören ebenso dazu wie fröhliche Feiern mit Fidel und Kreistänzen. Die Frauen tragen lange Baumwollkleider oder weite Hosen, die Männer tragen Bärte und langes Haar. Es besteht Gütergemeinschaft und die Absicht, die biblische Urgemeinde in ihren Prinzipien nachzubilden. In Klosterzimmern in Bayern, wo in einem ehemaligen Zisterzienserinnenkloster das größte deutsche Zentrum besteht, konnte sich die Gemeinschaft bislang weitgehend ungestört nach ihren Vorstellungen entfalten.
Böse Welt
Diese scheinbare Idylle ist aber nur die eine Seite der Medaille. Erkauft ist sie durch eine mehr oder weniger harte Abgrenzung von der als gottlos und oftmals feindlich empfundenen „Welt“ da draußen.
In solchen Gemeinschaftsgründungen ist oft die Versuchung stark, den inneren Zusammenhalt zu festigen und das Licht der eigenen Gruppe heller strahlen zu lassen, indem die Außenwelt in dunkleren Farben gemalt wird. Das führt meist dazu, dass insbesondere langjährige Mitglieder sich ein Leben außerhalb der Gruppe kaum noch vorstellen können und sich ohne diese enge soziale Gemeinschaft haltlos vorkommen würden. Die Angst vor der bösen und gefahrvollen Welt da draußen, vor der die eigene Organisation so wirksam beschützt, zieht sich dann durch viele Lebensbereiche.
Diese Angst wird auch an die nachfolgende Generation weitergegeben. Ihre Kinder an eine normale Schule in der „Welt da draußen“ zu schicken, kommt für die Mitglieder der „Zwölf Stämme“ nicht in Frage. Zu verderblich scheinen ihnen die Einflüsse von außen. Dort wird die Evolutionslehre unterrichtet, und nicht allein die biblische Schöpfungslehre. Dort wird im Biologieunterricht auch Sexualaufklärung betrieben, was offenbar jenseits der Schamgrenzen dieser ursprünglich aus Amerika stammenden Gemeinschaft liegt.
Schulverweigerung
Die Angst vor der Außenwelt ist so stark, dass sie kein ausreichendes Zutrauen zu ihrer eigenen Erziehung haben, um so etwas ausgleichen zu können. Bereits der Kontakt zu und der Austausch mit der Welt da draußen erscheint ihnen offenbar zu gefährlich. Dafür riskierten sie seit Jahren ein Kräftemessen mit dem deutschen Staat. Das Ergebnis offenbarte eine gewisse Machtlosigkeit der Behörden gegenüber solchem religiösen Fanatismus. Sämtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Schulpflicht verpufften vor dem Zusammenhalt und der Leidensbereitschaft der Gruppe. Strafgeld brachte keine Änderung. Als 2004 nacheinander die Eltern in Erzwingungshaft genommen wurden, wuchsen sie zu Märtyrern und die Gemeinschaft gab singend und fiedelnd vor dem Gefängnis tagelang moralische Unterstützung für die Inhaftierten. Dem Kindeswohl war damit nicht geholfen. Als die Kinder einige Wochen lang jeden Morgen von der Polizei in die örtliche Schule gebracht wurden, saßen sie dort schweigend ihre Zeit ab. Das war auch keine Lösung. Für einen kompletten Entzug des Sorgerechts ist eine Schulverweigerung kein ausreichender Grund – schließlich besteht das Leben aus mehr als Schule und eine Eltern-Kind-Beziehung ist für das Kindeswohl von entscheidender Bedeutung.
Privatschule
Unter dem Druck der Umstände suchte die Verwaltung nach einem Kompromiss und genehmigte schließlich 2006 unter Auflagen eine von den „Zwölf Stämmen“ betriebene Privatschule im Klostergelände. Der Kompromiss stand auf wackeligen Füßen, dennoch ermöglichte er einige Jahre lang einen halbwegs offiziellen Schulbetrieb innerhalb der „Zwölf Stämme“. Doch dessen Tage waren gezählt: Das Kultusministerium die Genehmigung zum Schulbetrieb 2013 wieder aufgehoben, weil keine nach deutschem Recht qualifizierten Lehrkräfte mehr in der Schule unterrichteten. In den Medien wurde bereits spekuliert, ob die Kinder jetzt von den Familien nach Tschechien gebracht werden, um der deutschen Schulpflicht zu entgehen.
Prügelstrafen
Irgendwie hat man auch im zuständigen Jugendamt schon lange geahnt, dass auch an anderen Stellen die deutschen Gesetze ignoriert werden und das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung innerhalb der Klostermauern nicht zu gelten scheint. Immer mal wieder gab es einzelne Berichte von Züchtigungen. Das Jugendamt stellte Nachforschungen an. Es wurden die Kinder befragt - auch einzeln. Aber es ergaben sich daraus keine ausreichenden Beweise für eine systematische Anwendung der Prügelstrafe. Einem verdeckt agierenden RTL-Reporter gelang es zu erforschen, in welchen Räumen die Kinder geschlagen wurden und dort versteckte Kameras anzubringen.
Die Bilder, die diese lieferten, waren erschütternd. Schon kleinste Kinder wurden in Kellerräumen wegen vergleichsweise nichtiger Anlässe systematisch mit Rohrstöcken auf den nackten Hintern geschlagen, um ihren Willen zu brechen - auch in der Schule. Anfang September 2013 wurden daraufhin mit einer großen Polizeiaktion 40 Kinder ihren Eltern entzogen und in Pflegefamilien untergebracht. Zahlreiche Medien berichteten darüber.
Liebe? Christlich?
Warum lassen Eltern zu, dass ihre Kinder so misshandelt werden? Dass sie ihre Kinder nicht geliebt hätten, wird man kaum behaupten können. Sicherlich wollten sie auch nur das Beste für ihre Kinder. Aber sie waren offenbar verblendet von der Angst. Sie meinten, das Böse, der Widerspruchsgeist müsse rechtzeitig ausgetrieben werden, bevor er das Kind ins Verderben führe. Mit dem christlichen Geist, den sie eigentlich verkörpern wollten, hat das nichts mehr zu tun. Dass christliche Liebe Vergebung und Annahme bedeuted, und dass ein Christ keine Angst vor der „Welt“ haben muss, sondern sie mit Gottes Hilfe gestalten kann und soll, das können die Kinder nun vielleicht in ihren Pflegefamilien lernen. Hoffentlich können sie es dann auch ihren Eltern vermitteln.