Glaube im Stadion
Am 15. Juli, eine Woche nach dem Endspiel der Fußball-WM, fand im Berliner Olympiastadion das statt, was das Pfingstereignis des Jahres 2006 werden sollte: „Calling All Nations“, ein ganztägiges Lobpreis- und Anbetungskonzert mit über 50 Bands und Künstlern aus Europa, Afrika und den USA. Als „himmlische Loveparade“ sollte damit der zeitgleich in Berlin stattfindenden Loveparade Konkurrenz erwachsen. Die Besucherzahlen waren allerdings für die Veranstalter enttäuschend. Statt ursprünglich anvisierter 80 000 waren nur 22000 Teilnehmer angereist.
Vision und Anliegen
Calling All Nations (CAN) versteht sich als eine überkonfessionelle Bewegung. Der Gründer und Initiator Noel Richards, ein englischer Lobpreis-Musiker, berichtet von einer ihm zuteil gewordenen Vision, in allen europäischen Hauptstädten große Anbetungskonzerte in Fußballstadien zu organisieren. An dem ersten Konzert dieser Art nahmen in London im Jahr 1997 etwa 43 000 Besucher teil. Anliegen der Veranstalter ist es, Stadien mit Lobpreis zur Ehre Gottes zu füllen, wie es Geschäftsführer Gerhard Kehl formulierte. Es solle deutlich werden, so die Veranstalter in einer Pressemeldung, dass die Gegenwart Gottes auf öffentlichen Plätzen erlebt werden kann, denn Gott ist überall zu Hause.
Einschätzung
Grundsätzlich ist das Anliegen auch aus evangelisch-lutherischer Sicht positiv zu bewerten. Die Anbetung Gottes kennt viele Formen und auch pfingstlich geprägte Lobpreiskonzerte haben ihren legitimen Platz im Reich Gottes.
Kritische Einwände im Zusammenhang mit diesem Konzert sind grundsätzlicher Art und beziehen sich vor allem auf zwei Aspekte, die beide bei CAN sehr stark deutlich wurden:
Die Bezeichnung von eigenem Wunschdenken als Gottes Vision. Dies verleitet immer wieder zu schweren Fehlkalkulationen - insbesondere in Verbindung mit dem pfingstlichen Gefühl, an der Herrschaft Gottes schon unmittelbar beteiligt zu sein.
Die Schwierigkeit zum Umgang mit (berechtigter) Kritik. Aus der z.T. extremen Harmoniebedürftigkeit resultiert eine nicht tragfähige Vorstellung Vogel-Strauß-Ökumene: Kopf in den Sand und keine Unterschiede ansehen.
Beide Aspekte sollen im Folgenden noch etwas näher betrachtet werden.
Gottes Vision?
Visionen zur Begründung und Rechtfertigung von Aktionen sind in der Pfingstbewegung schon fast Standard. Dennoch - oder gerade darum - verdienen sie eine kritische Prüfung. Die Vision, vor ausverkauften Stadien zu spielen, ist für einen Musiker naheliegend. Wer, der je ein Instrument in der Hand hatte, hat nicht schon einmal davon geträumt? Nun soll Noel Richards damit nicht unterstellt werden, es wäre ihm um persönlichen Ruhm gegangen. Der Wunsch, etwas Großartiges zur Anbetung Gottes zu organisieren, war ohne Frage vorrangig. Dennoch wird man diese menschliche Komponente nicht komplett ignorieren können. Das Ergebnis von Berlin lässt dann doch eher an einen menschlichen Wunschtraum denken. Ein halb leeres Stadion und ein großes Defizit im Budget - sah „Gottes“ Vision nicht anders aus, wenn man die Einladungs-Flyer betrachtet?
Größenwahn?
Nun ist eine fehlkalkulierte Veranstaltung kein Privileg der Pfingstbewegung. Solche Dinge kommen leider auch im landeskirchlichen Kontext gelegentlich vor. Beobachter der Pfingstbewegung können allerdings immer wieder feststellen, dass so etwas kein Einzelfall ist. Große Visionen werden verkündet, Prophetien bemüht, umgreifende Erweckungen vorausgesagt, um Begeisterung und Aktivität für eine Veranstaltung zu wecken. Dass die Realitäten den großen Ansprüchen oft weit hinterher hinken, führt nur in seltenen Fällen zum Eingeständnis von Irrtum, oft jedoch zur Produktion neuer Visionen.
Evangelikale Kritik
In diesem Sinn war bereits im Vorfeld der Veranstaltung erstaunlich deutliche Kritik aus dem evangelikalen Lager laut geworden. Pfr. Dr. Theo Lehmann und Jugendevangelist Lutz Scheufler erklärten gegenüber der Idea-Nachrichtenagentur, dass die Veranstaltung für einen Gottesdienst viel zu teuer sei. Ca. 50 EUR Eintritt pro Person zuzüglich der Kosten für Übernachtung, Verpflegung und Anreise sind in der Tat kein Pappenstiel. Dieses Geld wäre in der Mission besser angelegt, meinten Lehmann und Scheufler. Zudem wiesen sie darauf hin, dass unter den Veranstaltern auch Gruppen sind, die ein Wohlstandsevangelium predigen und darum theologisch zu kritisieren sind. Auch dieses Argument ist sachlich zutreffend, wobei in der Veranstaltung dieser Aspekt weniger problematisch in Erscheinung trat.
Kritikverbot
Schwerer als die üblichen Übertreibungen wiegt ein anderes Problem, das im Umfeld von CAN besonders deutlich wurde: eine verbreitete Unfähigkeit zum Umgang mit Kritik. Bereits Wochen vor der Veranstaltung wurde in einem Kommentar auf Jesus.de „Wider den christlichen Kritikismus“ gewettert. Der Autor beklagt sich, dass „gestöhnt und gekrittelt, gemeckert und gezweifelt“ werde, obwohl das Ziel doch von allen Christen geteilt werden müsste: „Es geht hier darum, dass Jesus Christus - der Herr dieser Welt, der Schöpfer, der Retter - die Ehre bekommt, die ihm gebührt. Punkt. Wie können wir da theologische oder musikalische Haarspaltereien in den Topf werfen?“ Die von verschiedener Seite vorgebrachten Kritikpunkte werden aufgezählt: „Zu teuer sei »Calling all Nations«, zu charismatisch, zu masseneventmäßig, zu wenig missionarisch, zu lobpreislastig, zu amerikanisch und was man sonst nicht so hinter den verstaubten Kommoden deutsch-christlicher Beschaulichkeit alles heraus graben konnte.“ Eine inhaltliche Beschäftigung damit findet aber nicht statt. Statt dessen wird Kritik an sich von vornherein verboten: „Wir Christen müssen aufhören, den Verlockungen des ständigen Kritisierens nachzugeben. Wenn wir nicht eins werden, dann kann auch nichts passieren. Wenn wir nicht an einem Strang ziehen, dann lässt sich die Karre eben nicht aus dem Morast ziehen.“ 1
Einheit ohne Einigung?
In analoger Weise wurde auch nach der Veranstaltung immer wieder in etwas wehleidigem Ton die Kritik an sich beklagt - oft verbunden mit der Erwartung, dass ohne solche das Stadion vielleicht voller geworden wäre. Nun ist es ja durchaus richtig, dass man mitunter Differenzen zurückstellen muss, um eine gemeinsame Sache zu erreichen. Allerdings muss man sich nicht wundern, wenn ein übergreifendes Ziel nicht automatisch alle verschiedenen Zugänge beseitigt. Gott loben - ja, aber dafür gibt es (zum Glück) unzählige verschiedene Möglichkeiten und Formen. Die immer wieder geäußerte selbstverständliche Erwartung, dass Christen aller Denominationen ihre konfessionelle und frömmigkeitstypische Prägung plötzlich ignorieren sollten, um zu einem anders konfessionell und frömmigkeitstypisch geprägten Event zusammen zu strömen, erscheint reichlich naiv. Welcher orthodoxe Priester äußert sich ähnlich enttäuscht, dass nicht Christen aller Denominationen einmal ihre jeweiligen Auffassungen bei Seite lassen und sich in seiner Kirche zur Feier der göttlichen Liturgie einfinden und gemeinsam die Ikonen küssen? Auch hier steht schließlich das Lob Gottes an erster Stelle.
Ökumene ist anders
Ökumene bedeutet etwas anderes, als „Charismatiker aller Konfessionen, vereinigt euch!“ Wenn evangelische Pfingstler und katholische Pfingstler und freikirchliche Pfingstler gemeinsam eine pfingstlerische Veranstaltung besuchen, kostet das für keinen wirklich Überwindung. Echte Ökumene sieht aber anders aus. Sie beinhaltet ein Miteinander verschiedener Frömmigkeitsstile, ein Aushalten und Annehmen der Verschiedenheit christlicher Lebensäußerungen. Und sie lebt nicht davon, die Augen vor den Unterschieden zu verschließen, sondern von der theologischen Arbeit an diesen Unterschieden. Die manchmal extreme Harmoniesucht in pfingstlich-charismatischen Kreisen in Verbindung mit der pauschalen Vermeidung von Kritik verhindert damit nicht nur wirkliche Ökumene, sondern auch die notwendige Abgrenzung von problematischen Auswüchsen innerhalb der Pfingstbewegung wie z.B. dem erwähnten Wohlstandsevangelium.
Fazit
Positiv zu würdigen ist die ehrliche Begeisterung von 22 000 Menschen für Gott, die in dieser Veranstaltung zum Ausdruck kam, ebenso wie die große Opferbereitschaft der Beteiligten. Die Musiker hatten zur Reduzierung des Defizits auf ihre Gage verzichtet. Von den Teilnehmern wurde noch eine zusätzliche Kollekte gesammelt. Diese hätten in der Waldbühne sicherlich mehr für ihr Geld bekommen: weniger Mietkosten als die knapp 500 000 EUR für das Stadion hätten günstigere Eintrittspreise bewirkt, diese wiederum mehr Besucher ermöglicht, bessere Stimmung und auf jeden Fall eine dichtere Bühne gebracht, auf der man auch ohne Fernglas einzelne Menschen unterscheiden kann - aber das war ja nicht die „Vision“ der Veranstalter.
Gott braucht keinen Größenwahn. Er kam als Kind auf die Welt, und wirkt stets auch im Kleinen Großes.