Fragen an die Christengemeinschaft
Nachfolgender Text ist ein Ausschnitt eines Berichtes über eine Tagung der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin zum Thema Anthroposophie, an der auch viele Vertreter der Anthroposophie und der Christengemeinschaft teilgenommen hatten.
Christengemeinschaft außerhalb der Gemeinschaft der Christen?
Von besonderem Interesse in einem Dialog zwischen Anthroposophie und Kirche ist naturgemäß die Christengemeinschaft. Als Versuch von Rudolf Steiner, auf Einladung von evangelischen Theologen den Lehren der Anthroposopie Ausdruck in einem christlichen Kultus zu verschaffen, steht sie zwischen anthroposophischer Weltanschauung und kirchlichem Glaubensvollzug. Angetreten ist sie als „Bewegung für religiöse Erneuerung“. Wieviel konnte von diesem Anspruch bisher eingelöst werden und was leistet die Christengemeinschaft in dieser Hinsicht heute? Diese kritischen Anfragen in dem Vortrag von EZW-Referent Dr. Andreas Fincke haben ihren Ausgangspunkt in der Beobachtung, dass die Christengemeinschaft zu den intellektuell anspruchsvollsten kleineren Religionsgemeinschaften gehört. Dabei sollte der Name Christengemeinschaft ursprünglich verdeutlichen, dass für das neue Bewusstsein die alten Kirchen keine Gemeinschaft von Christen mehr seien. So erhob sich die Christengemeinschaft über Katholizismus und Protestantismus als dritte Kirche. Aber was ist davon übrig? Unbefangene Religionswissenschaftler würden wohl an die Pfingstbewegung, aber kaum an die Christengemeinschaft denken, wenn man sie nach einer heutigen religiösen Erneuerungbewegung fragt.
Spannend und auf der Tagung immer wieder diskutiert ist die Frage nach der ökumenischen Stellung der Christengemeinschaft. Sie ist deshalb ungewöhnlich, weil Fremd- und Selbstwahrnehmung beträchtlich auseinanderlaufen. Nach ihrem Selbstverständnis sieht sich die Christengemeinschaft als Teil der Ökumene und nicht als exklusiven Heilsweg. Die Basisformel des ÖRK wird bedingungslos anerkannt, wie Pfr. Hörtreiter von der Christengemeinschaft in Hamburg nachdrücklich betonte. Die Trennung geht in diesem Fall von den in der Ökumene vertretenen Kirchen aus. Diese sind der Meinung, dass die theosophische und anthroposophische Prägung der geistigen Grundlagen der Christengemeinschaft so dominant ist, dass sie den ökumenischen Konsens verlassen. Äußerlich sichtbar wird dieser Dissens an der Nichtanerkennung der Taufe der Christengemeinschaft als christliche Taufe, weil sie nicht die übliche trinitarische Formel verwenden und in der Taufintention von der christlichen Linie abweichen.
Fragen an die Christengemeinschaft
Die Fragen, die in diesem Zusammenhang mit der Christengemeinschaft diskutiert werden (müssen) sind:
- Welche Rolle spielen die Lehren Rudolf Steiners in der Christengemeinschaft wirklich? In Dialogsituationen wird mitunter die Lehrfreiheit und Unabhängigkeit der Pfarrer der Christengemeinschaft betont und damit versucht, Steiners Einfluss zu relativieren. Aber steht Steiners Weltauffassung nicht als hermeneutischer Schlüssel hinter allen Lebensäußerungen und biblischen Textauslegungen der Christengemeinschaft? Faktisch ist die Christengemeinschaft trotz Lehrfreiheit viel homogener als ein beliebiger evangelischer Pfarrkonvent mit Bekenntnisbindung.
- Welchen Charakter haben die Ritualtexte? In den Gesprächen auf der Tagung wurde erneut deutlich, dass diese quasi das unverrückbare Fundament der Christengemeinschaft darstellen und als nicht von Steiner selbst stammend sondern unmittelbar aus der geistigen Welt geschöpft gelten. (In analoger Weise meinen z.B. auch fromme Muslime, dass der Koran nicht von Mohammed stamme, sondern als Urbuch im Himmel aufbewahrt werde.) Diese Festlegung hat Konsequenzen. Praktisch verhindert sie eine Anpassung der Taufformel an die ökumenischen Gegebenheiten. Theoretisch steht sie in einer unübersehbaren Spannung zu der oft betonten Darstellung der Anthroposophie, Steiner sei kein Prophet. Wenn er aber in hellsichtiger Schau unverrückbare „heilige“ Texte übermittelt, ist er in seiner Funktion eben kein „wissenschaftlicher“ Geistesforscher mehr, sondern bekommt unverkennbar prophetische Züge.
- Welche Rolle spielt die abgeschlossene Offenbarung im Alten und Neuen Testament für die Christengemeinschaft? Die während der Tagung von anthroposophischer Seite mehrfach erhobene Forderung, die Kanonsgrenzen zu öffnen und die Offenbarung nicht als abgeschlossen zu betrachten, geht in die gleiche Richtung. Diese Impulse können als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass Steiners Weltanschauung unterschwellig eben doch als neue Offenbarung betrachtet wird, welche die biblischen Quellen überbietet. Steiner selbst meinte jedenfalls explizit, sich nicht mehr auf die „historischen Urkunden“ beziehen zu müssen (GA 114,20).
- Wer ist Christus? Der starke Christusbezug ist ein wesentliches verbindendes Element zwischen den christlichen Kirchen und der Christengemeinschaft. Aber meinen wir auch dasselbe, wenn wir „Christus“ sagen? Überdecken die Steinerschen Interpretationen vom Christusgeist als hohes Sonnenwesen das biblische Zeugnis, oder kann es sich dagegen behaupten?
Diese Fragen verdienen es, in einem offenen und ehrlichen Dialog mit Vertretern der Christengemeinschaft weiter bedacht zu werden. In das Gespräch mit dem Erzoberlenker der Christengemeinschaft, Vicke von Behr, der an fast der gesamten Tagung teilgenommen hat, haben sie nicht alle hinein gepasst.