Evolutionärer Humanismus
In dem Bereich des kämpferisch-kirchenkritischen Atheismus hat sich die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) in den letzten Jahren einen festen Platz erobert. Ihre Dresdner Regionalgruppe mit dem Namen „Gesellschaft zur Förderung von Aufklärung, Humanismus und Religions-Freiheit e. V.“ ist mit verschiedenen Aktivitäten hervorgetreten.
So gab es eine Aktion, bei der die Bibel mit Aufklebern versehen wurde, die ihren Inhalt als jugendgefährdend ausweisen sollte. Als Alternativprogramm zum Kirchentag 2011 in Dresden wurde eine „Religionsfreie Zone“ ausgerufen.
Mit dem Vorsitzenden dieser Gemeinschaft, Falko Pietsch, war die AG Religiöse Gemeinschaften des Evangelischen Bundes Sachsen im Gespräch.
Struktur und Organisation
Die Giordano-Bruno-Stiftung wurde 2004 gegründet. Entlang der Buskampagne von 2009 haben sich Regionalgruppen gebildet. Ihr Anliegen war es, ergänzend zum Humanistischen Verband Deutschland (HVD) eine pointierte Stimme für die Interessen konfessionsfreier Menschen zu bilden.
Derzeit gibt es ca. 50-60 Regional- und Hochschulgruppen der GBS in Deutschland, zu denen jeweils zwischen 10 und 100 aktive Personen gehören. Im Förderkreis der GBS sind noch einmal ca. 7000 Personen engagiert. Mit diesen Zahlen kann die GBS natürlich nicht den Anspruch einlösen, alle Konfessionsfreien zu vertreten. Aber sie hat unter ihren Mitgliedern normalerweise auch keine religiös indifferenten Menschen, die einfach aus Gewohnheit „gottlos glücklich“ sind.
In Dresden gehören 35 Mitglieder zur Regionalgruppe, von denen 10 aktiv sind. Alle Regionalgruppen arbeiten ehrenamtlich. Viel läuft über den Idealismus der Beteiligten, wenig über Finanzen. In der Altersstruktur zeigt sich ein gewisser Ost-West-Unterschied. Im Westen Deutschlands sind viele ehemalige Kirchenmitglieder im Altersbereich über 50 unter den Mitgliedern, während im Osten der Schwerpunkt in der Altersklasse 30-35 liegt und vor allem Mitglieder umfasst, die während ihres Studiums über die Hochschulgruppen zum Verein gekommen sind. Jährlich gibt es zwei bis drei Treffen am Stammsitz der Stiftung im „Haus Weitblick“ im Rheintal.
Kampagnen
Die Kampagnenarbeit der Stiftung teilt sich auf in zwei Bereiche:
a) Reaktive Kampagnen nehmen Themen auf, die durch gesellschaftspolitische Debatten oder legislative Prozesse aufkommen. Dazu gehören z.B. die Beschneidungsdebatte („Mein Körper gehört mir“), Sterbehilfe/assistierter Suizid („Mein Ende gehört mir“) u.a.m.
b) Proaktive Kampagnen versuchen selbst Themen zu setzen und in die gesellschaftliche Debatte einzubringen, was als vergleichsweise kleiner Verein allerdings nicht leicht ist und weitaus weniger wahrgenommen wird als Aktionen im reaktiven Segment. Beispiele für proaktive Kampagnen sind die „Evokids“, wo es darum geht, dass Evolution schon an den Grundschulen als Prinzip gelehrt werden solle, denn es sei nicht nur für den Biologieunterricht und die Artenentstehung, sondern z. B. auch für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften ein gutes Erklärungsmodell. Auf diese Weise solle ein naturalistisches und evidenzgestütztes Weltbild vermittelt werden.
Evolutionär
Das Evolutionsmodell gelte auch für die Entwicklung des menschlichen Wissens: Untaugliche Theorien werden aussortiert, die besseren überleben. Schon seit den 1930er-Jahren wurde diese evolutionäre Erkenntnistheorie u. a. von Karl R. Popper entwickelt. So sei auch das Programm der GBS in ständiger Bewegung und ist keineswegs mit den namensgebenden Vordenkern Giordano Bruno, Erasmus oder Figuren des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Immer neu gibt es die Veranlassung, darüber nachzudenken, wie wir sinnvoll zusammenleben wollen. Ein wichtiges Grundprinzip dabei ist die „Bedürfnisgerechtigkeit“. Weil dies für sämtliche leidensfähigen Individuen gelte, könne kein kategorischer Unterschied zwischen „menschlichen und nichtmenschlichen Tieren“ gemacht werden. Die Verantwortung bezieht sich darum auch nicht nur auf die „Um-welt“, sondern auf unsere „Mit-welt“
Was ist der Mensch?
Mit solchen Gedanken ist eine weitere proaktive Kampagne der GBS verbunden, an der sie seit acht Jahren beteiligt ist. Diese heißt „Great Ape Project“ (GAP) und befasst sich mit den großen Menschenaffen. Im Rahmen des Evolutionsdenkens verschwimmt die Grenze zwischen Mensch und Tier. Welche Würde messen wir uns als Mensch bei? Wo ziehen wir die Grenze? Und wie ist das wissenschaftlich zu rechtfertigen?
Eine zweite Linie läuft über die Ethik: Wonach bemisst sich, ob etwas gut oder schlecht ist? Wenn sich die Begründung einer Ethik bewusst nicht auf religiöse Texte stützen soll, hat sie es schwer, allgemeine Prinzipien zu benennen, die zur Basis ethischer Beurteilungen dienen können. Der Grundsatz der Leidensfähigkeit und daraus abgeleitet der Leidvermeidung könnte aus Sicht der GBS ein solches universelles Kriterium sein, das zudem einer empirischen Überprüfung zugänglich ist.1 Darin wird eine Kontinuität in der Ideengeschichte der Ethik gesehen, die von den Stoikern, über die Epikureer bis zu Jeremy Bentham und David Hume und mithin in die moderne Philosophie des ethischen Konsequentialismus hinein reicht, gleichzeitig aber auch vielen religiösen Weltanschauungen zu eigen ist.
Die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit seien folglich auch anderen Primaten zuzurechnen. Wenn das für die Menschenaffen gilt, wie ist es dann mit anderen Tieren? Dürfen diese folterähnliches Leid erleiden müssen – nur für unsere Gaumen oder Gürtel? Die GBS betreut die deutsche Sektion des Projektes und finanziert in diesem Zusammenhang eine umfangreiche ZOO-Studie zu den Haltungsbedingungen von Menschenaffen.
Übrigens führten solche Überlegungen unter anderem auch dazu, dass die Stiftungstreffen ihre Struktur veränderten. Der Speiseplan ist mittlerweile stark um pflanzliche Lebensmittel erweitert worden. Das ist u. a. dem Einfluss der jüngeren Regionalgruppen geschuldet, in denen sich nun auch viel mehr Frauen engagieren. Dahinter stehen grundsätzliche Erwägungen zur Leidvermeidung bei empfindenden Individuen. In den Bereichen Tierschutz und Veganismus ergeben sich auch interessante Allianzen etwa mit kirchlichen Umweltgruppen.
Theodizee und Ethik
Die Evolutionslehre führt für Falko Pietsch unmittelbar zur Theodizeefrage, denn Evolution ist ein grausamer Prozess, bei dem die meisten Individuen erbarmungslos um ihr Überleben kämpfen müssen. Insofern bringt Evolution nicht „gute“, sondern „funktionierende“ Ergebnisse hervor. Angesichts dieser Grausamkeiten aber an einen von einem liebenden Gott gelenkten Prozess zu glauben, ist ihm nicht möglich. Weil Evolution ethisch blind ist, versuchen evolutionäre Humanisten einzugreifen, um in einer Welt voller Leiden möglichst Leid zu vermeiden. In ethischen Grenzfragen führt das zu kontroversen Debatten. So hat sich die GBS in die Diskussionen zur Präimplantationsdiagnostik eingemischt und spricht sich dafür aus, auch außerhalb des Körpers Eizellen befruchten zu können.
Aus der Runde werden Fragen nach der Akzeptanz von Leid werden gestellt – und ob man unter dieser Prämisse ein behindertes Kind abtreiben müsse. Falko Pietsch erläutert, dass das unbedingte Lebensrecht ab der ersten Zellteilung ihn jedenfalls nicht überzeugt, vielmehr stellt sich die Frage, ab wann Empfindungsfähigkeit des Fötus gegeben ist. Eine Abtreibung dürfe nicht vorgeschrieben, aber auch keinem Paar vorenthalten werden, denn die Entscheidung für ein behindertes Kind sei eben auch eine Entscheidung gegen ein gesundes Kind, was ansonsten vielleicht hätte geboren werden können. In Deutschland können auch Menschen mit Behinderungen eine hohe Lebensqualität haben – in anderen Erdteilen weit weniger. In der Konsequenz wären dort Abtreibungen eher zu rechtfertigen – aber es bleibt in moralischen Abwägungen der Einzelfall zu berücksichtigen.
HVD
Das Verhältnis zum Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) wird auf Rückfrage hin als ergänzend beschrieben. Der HVD organisiert Jugendweihen und engagiert sich als Bildungsträger, ist aber nicht so stark in politischen Debatten involviert und tritt insgesamt auch deutlich gemäßigter auf, als die GBS, deren Vertreter sich auch gern mal auf einen Affront einlassen und bewusst provozieren, um den öffentlichen Diskurs anzuschieben. Es gibt eine Reihe von Doppelmitgliedschaften. So ist z. B. der Schatzmeister der Dresdner GBS zugleich Trauerredner unter dem Dach des Humanistischen Verbandes. Gemeinsame Kampagnen sind aber wegen dieser unterschiedlichen Herangehensweisen selten.
Kirche und Staat
Ein Gespräch zwischen Kirchenvertretern und der GBS ist schwer vorstellbar, ohne dass die Kritik an finanzieller Unterstützung der Kirchen durch den Staat geäußert würde. Die kirchlichen Loyalitätsrichtlinien, die Anstellungen in kirchlich getragenen Einrichtungen auf Christen beschränken, werden ebenso als Ärgernis wahrgenommen wie staatliche Unterstützung für Bischofsgehälter in Bayern oder die Einrichtung der Militärseelsorge und der konfessionelle Religionsunterricht. Die GBS engagiert sich für einen allgemeinen Ethikunterricht nach dem Berliner Modell. Vertieft wurden diese Fragen diesmal nicht, weil die Diskussion schnell zu den spannenden Fragen der Transzendenz weiterführte.
Glaubensfragen
In den Debatten erleben die Mitarbeiter des Evangelischen Bundes Sachsen einen klugen Menschen, der klar zu argumentieren vermag und sich in selbstloser Weise für die von ihm als richtig erkannten Prinzipien und seine Mitgeschöpfe, genauer: Mitlebewesen einzusetzen bereit ist. Mit ihm zu diskutieren ist eine Bereicherung und es gibt etliche Themen, bei denen sich große Übereinstimmungen zeigen. Aber der glaubende Zugang zur Religion fehlt ihm. Sein Denken ist so von Logik, Kausalitäten und Plausibilitäten bestimmt, dass es ihm als Selbstwiderspruch vorkäme, einen Bereich zuzulassen, der davon ausgenommen wäre. Die Methode der Empirie wird zum alleinig zulässigen Modell der Welterklärung überdehnt. Er lehnt es kategorisch ab, religiöse Mythen auf Augenhöhe mit wissenschaftlich gesichertem Wissen zu diskutieren. Folglich geht es zum Ende des Gespräches wieder um das Grundsätzliche, um die Gottesfrage. Für ihn erscheint es unzulässig, für Gott einen extra Raum zu reservieren, der sich allen intellektuellen Prüfungen entzieht. Es gibt für ihn keinen plausiblen Grund, an ein Jenseits zu glauben oder eine Existenz einer Seele unabhängig vom Körper. Auch im Kosmos steht der Mensch nicht im Mittelpunkt – wir sind eine unbedeutende Spezies in einem Seitenarm einer mittelkleinen Spiralgalaxie.
Die versammelten Pfarrer haben es nicht vermocht, an diesem Vormittag einen Gottesgläubigen aus unserem Gesprächspartner zu machen – das war auch nicht das Ziel der Veranstaltung. Es war trotz entsprechender Lebenszeugnisse nicht vermittelbar, dass die Erfahrung der Realität Gottes und wie man sich von ihm behütet und geborgen wissen kann, auf einer anderen Ebene liegt als naturwissenschaftliche Beweisführungen. Dass Gott nicht im naturwissenschaftlichen Sinn beweisbar ist, sagen auch die Theologen. Darin besteht gar kein Dissens. Wohl aber darin, ob es diese Realität außerhalb der Welt der vernunftlogischen Beweise als umfassendere Größe geben kann oder nicht. Die Erfahrung dieser Gewissheit, diese Form der Horizonterweiterung ist offenbar durch keine rationale Anstrengung zu gewinnen. Glauben zu können bleibt eben ein Geschenk, das freilich der überzeugte Atheist gar nicht vermisst. Er möchte mit seinem Leben und mit seinen Überzeugungen Spuren hinterlassen. Das auch ganz unmittelbar, wie die Botschaft auf den Sohlen seiner Schuhe mitteilt: „Ich bin Atheist.“
1 Vgl. dazu die „10 Angebote des evolutionären Humanismus" https://www.giordano-bruno-stiftung.de/sites/default/files/download/10angebote.pdf
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