Individuell und Hingebungsvoll
Die verbreiteten Vorstellungen über Wesen und Struktur von „Sekten“ sind maßgeblich durch Gemeinschaften geprägt worden, die vor allem in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts große missionarische Anstrengungen unternahmen und damit öffentliche Aufmerksamkeit erregten.
Zu den anhand der Erfahrungen dieser Zeit entwickelten Charakteristika gehören unter anderem:
- die dominante Stellung des Gründers/Gurus/Leiters, z. T. bis über dessen Tod hinaus
- eine oft internationale Verbreitung
- problematische Methoden der Mitgliedergewinnung,
- Abschottung von der Außenwelt und den bisherigen Sozialbeziehungen, damit verbunden oft Behinderung des Austritts.
Es wurden dabei die Gefährlichkeit bzw. das von einer Gruppierung ausgehende Bedrohungspotenzial für die Gesellschaft oft in Relation zu ihrer Größe und Verbreitung gesehen. Insofern erscheinen international agierende und durch ihre wirtschaftlichen Verflechtungen finanzstarke Gruppierungen als bedeutender und potenziell gefährlicher als solche, die lediglich lokale Verbereitung und geringe Mitgliederzahlen haben. So sind z. B. das Geschäftsgebaren der Scientology–Organisation und die undurchsichtigen Firmenbeteiligungen der Mun–Bewegung immer wieder Gegenstand öffentlicher Besorgnis und Kritik geworden.
Die meisten dieser Bewegungen existieren bis heute, haben nach wie vor zahlreiche Anhänger und sind darum auch nicht aus dem Blick zu verlieren. Allerdings haben sich seit den 70er und 80er Jahren wichtige Akzentverschiebungen ergeben, die mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammenhängen und dazu führen, dass das öffentliche „Sektenbild“ reformbedürftig geworden ist. Insbesondere die Konzentration auf Mitgliederstarke und international agierende Organisationen verstellt leicht den Blick für die veränderten Herausforderungen der Gegenwart.
Vergleichsweise wenig beachtet kam es zu einer Verschiebung des Problemschwerpunktes weg von den „klassischen“ Großorganisationen hin zu einem Meer aus zahlreichen verschiedenen kleineren und allenfalls lose miteinander verbundenen Anbietern auf dem Esoterik- und Psychomarkt. Diese „Neuen Psycho-Sekten“ (so die Titel-Story des Magazins „Stern“ vom 17. 10. 2002) unterscheiden sich in einigen wesentlichen Punkten von der eingangs skizzierten allgemeinen Sektenvorstellung und werden darum mitunter in ihrem konkreten Konfliktpotenzial unterschätzt. Zwei wichtige Unterschiede seien beispielhaft kurz benannt:
- Während zur klassischen Sektenvorstellung ein mit exklusivem Gültigkeitsanspruch vorgetragenes Weltdeutungskonzept gehört, gilt dies für die Esoterik-Szene gerade nicht. Deren Lehraussagen verstehen sich in der Regel nicht exklusiv, sonden kommen mit einem (nominell) begrenzten Wahrheitsanspruch daher: es gebe viele Wege zum Heil/zur Gesundung, dies hier sei lediglich einer von mehreren Möglichkeiten, die sich auch kombinieren ließen.
- Damit einher geht wiederum eine zunächst größere Offenheit der Strukturen. Es wird keine Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation gefordert, sondern lediglich die unverbindliche Teilnahme an Seminarveranstaltungen oder Therapiesitzungen angeboten. Mit der Bezahlung der damit verbundenen Gebühren ist die Verpflichtung abgegolten, weitere Ansprüche – etwa der Bindung an ein bestimmtes Bekenntnis – bestehen nicht.
Diese Veränderungen bewirken, dass der klassische Sektenbegriff nicht zur Beschreibung der problematischen Aspekte des Psychomarktes taugt. Die größere Offenheit führt dazu, dass die Konsumenten derartiger Angebote sich keineswegs in einer sektiererischen Gruppe oder Abhängigkeit fühlen, sondern als selbstbestimmte und freie Menschen gewerbliche Lebensbewältigungshilfe in Anspruch nehmen. Allerdings gelten die beiden genannten Punkte nur scheinbar. Was die begrenzten Wahrheitsansprüche angeht, so handelt es sich vor allem um einen Verzicht auf die Konsequenzen des eigenen Denkens. Die jeweiligen Auffassungen werden dabei in der Regel durchaus mit dem Anspruch universaler Gültigkeit vorgetragen, oft noch (pseudo)wissenschaftlich untermauert, so dass sie nicht als religiöse Überzeugung, sondern erwiesene Tatsache präsentiert werden. Zum Beispiel, dass der Mensch eine feinstofflich–farbige Aura hat, die sein Inneres widerspiegelt, gilt in Esoterikkreisen nicht als Glaubensgegenstand, sondern als Fakt. Dass sich diese gelehrten Überzeugungen in jedes andere System universell einfügen ließen, wie man es nicht selten hören kann, ist lediglich eine dem starken Harmoniebedürfnis entsprungene und weithin unzutreffende Behauptung. Faktisch hat jede Überzeugung auch ihre Grenzen und stößt damit auf Dinge, die sich mit ihr nicht vereinbaren lassen.
Die auf den ersten Blick größere formale Offenheit wird nicht selten durch eine viel intensivere Bindung auf der persönlichen Ebene kompensiert. Es ist ein Trugschluss zu meinen, mit der Bezahlung sei die Verbindlichkeit erledigt. Anbieter von Lebensbewältigungshilfe werden als Ratgeber in intimen persönlichen Problemsituationen in Anspruch genommen. Sie sind für ihre Klienten Vertrauenspersonen denen eine große Offenheit entgegengebracht wird. Dies schafft Bindung und Abhängigkeit – ob man es wahr haben will oder nicht. Um so mehr ist hier das Verantwortungsbewusstsein der Therapeuten gefordert, solche Abhängigkeitssituationen nicht künstlich zu verstärken und für eigene Zwecke (emotional, finanziell, sexuell) auszunutzen. Solches ist aber oft nur mangelhaft ausgeprägt.
Ein zentrales Problem hierbei besteht darin, dass auf diesem Sektor durchaus ehrliche und verantwortungsbewusste und hochproblematische Anbieter äußerlich nur schwer unterscheidbar nebeneinander stehen. Zu unterscheiden ist auch zwischen der Fragwürdigkeit einer angebotenen Methode und der Seriosität des Anbieters selbst. Auch wissenschaftlich nicht anerkannte Methoden können unter bestimmten Umständen bei einem verantwortungsbewussten Therapeuten, der auch die Grenzen kennt, durchaus hilfreich wirken. Andererseits können auch wissenschaftlich fundierte Methoden bei unsachgemäßer Anwendung durch mangelhaft ausgebildete Therapeuten oder skrupellose Geschäftemacher schwere Schäden anrichten.
In dieser Beziehung war es „früher“ leichter. Einige bedeutende weltweit agierende „Sekten“ kann man erforschen, ihre Namen, Zeichen, Glaubensüberzeugungen, Methoden und Erkennungsmerkmale durch Informationsveranstaltungen und Artikel in Handbüchern und Lexika bekannt machen. Den diffusen Versprechungen unzähliger moderner Therapeuten kann man nicht in gleicher Weise konkrete begleitende Informationen zur Seite stellen. Es bleibt – allein aufgrund der Fülle und oft regionalen Begrenzung der Anbieter – ein deutlich größerer Anteil der Forschung und Beurteilung für den einzelnen Betroffenen zu leisten. Die Literatur kann lediglich allgemeine Kriterien zu benennen versuchen. Deren jeweilige Anwendung auf den konkreten Einzelfall, die Prüfung eines Therapeuten und seines Angebotes, können eigentlich nur die Betroffenen selbst vornehmen – einfach weil andere gar nicht die genaue Kenntnis von dem konkreten Vorgehen der jeweiligen Person haben können. Diese sind aber wiederum oft am wenigsten dazu in der Lage, da sie aufgrund ihrer persönlichen Einbindung in das Betreuungsverhältnis nicht ausreichend Distanz zu einer sachlichen Beurteilung finden können. Diese Misere lässt sich nur schwer auflösen und führt dazu, dass nur ein Bruchteil der problematischen Fälle öffentlich bekannt werden und zu einem angemessenen Problembewusstsein beitragen können. Solches ist aber angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz esoterischer Vorstellungen und Angebote dringend nötig. Nur ein Beispiel: In der Novemberausgabe der in allen Fernzügen der Deutschen Bahn ausliegenden Illustrierten „DB Mobil“ wurde ohne erkennbare Kritik die Berliner Wahrsagerin Gabriele Hoffmann als „Fachfrau für Lebenskrisen“ vorgestellt, die „die einzige amtlich registrierte Wahrsagerin Deutschlands“ sei und auf deren Rat und Hilfe „auch viele Prominente nicht mehr verzichten“ wollten.
Die von der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages zu „Sogenannten Sekten und Psychogruppen“ geforderte gesetzliche Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe liegt bislang auf Eis. Der Gesetzentwurf wollte keineswegs derartige Tätigkeiten verbieten, wohl aber durch eine deutlichere Kennzeichnungspflicht der verwendeten Inhalte und Methoden wie der persönlichen Qualifikation der Anbieter zu mehr Verbraucherschutz beitragen. Jedes Stück Fleisch im Supermarkt und künftig jedes Ei ist für den Verbraucher erkennbar gekennzeichnet. Wem die Menschen jedoch ihre Psyche anvertrauen bleibt oft ein gut gehütetes Geheimnis.