
Erkenntnisarbeit in Himmelblau
Wer in Kassel-Wilhelmshöhe aus dem Zug steigt und ein Stück in Richtung Herkules wandert, sieht recht bald auf der linken Straßenseite ein großes blaues Haus, das mit ungewöhnlichen Fensterformen etwas aus der Reihe fällt. Im Erdgeschoss befinden sich ein Fahrradladen und weitere Geschäfte. Über dem Haupteingang steht in charakteristischen Lettern: „Anthroposophisches Zentrum“. Im Rahmen der Jahrestagung der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen hat eine Gruppe von Weltanschauungsbeauftragten im Mai 2024 das Haus besucht und mit verschiedenen Vertretern der Anthroposophie gesprochen.
Räubertochter mit Eurhythmie
In dem Haus haben verschiedene anthroposophische Einrichtungen ihren Sitz. Im ersten Stockwerk befindet sich das Rudolf-Steiner-Institut für Sozialpädagogik. Das ist eine staatlich anerkannte Fachschule für Sozialpädagogik und Heilpädagogik sowie eine Berufsfachschule für Sozialassistenz. Dort werden ca. 120-140 junge Menschen ausgebildet, die dafür kein Abitur benötigen. Die spezifische Ausbildung für Waldorflehrkräfte ist in das Kurssystem integriert. Wie bei anthroposophischen Einrichtungen üblich gehören zum Curriculum auch künstlerische und handwerkliche Anteile. In einem Klassenraum befanden sich zahlreiche Kostüme von einer Aufführung von „Ronja Räubertochter“. Dass dort neben den rivalisierenden Räuberbanden auch Graugnome, Rumpelwichte und Wilddruden mit vorkommen, trifft sich mit der anthroposophischen Überzeugung der tatsächlichen Existenz diverser Naturgeister, Feen, Elfen und Gnome. Auch anthroposophische Eurythmie-Darbietungen werden in die Inszenierung integriert. An einer der Wandzeitungen hingen kunstvolle farbige Zeichnungen der Kostümentwürfe für das Theaterstück. Im Untergeschoss befinden sich Werkräume für die Handwerklich-künstlerische Ausdrucksarbeit. Ausgewählte Exponate dieses Schaffens sind in Vitrinen präsentiert.
Bibliothek und Theater
Das Treppenhaus und die Räume sind in unterschiedlichen Pastellfarben gehalten. Die Flure und das Foyer beherbergen eine beachtliche Ausstellung moderner abstrakter Kunstwerke, die auch immer mal wechseln, wie die Managerin des Hauses mit durchaus berechtigtem Stolz versichert. Im zweiten Stock ist die Anthroposophische Gesellschaft Kassel und das Anthroposophische Zentrum Kassel e.V. sowie die Kulturinitiative Kassel GbR mit Sekratariat, Besprechung- und Veranstaltungsräumen zu finden. Die gut sortierte Bibliothek enthält Werke zu Anthroposophie, Politik, Pädagogik, Literatur, Kunst, Kultur, Naturwissenschaft u.a.m. Dass im Regal zur Pädagogik esoterische Titel wie die „Indigo-Kinder“ von Lee Carroll unterschiedslos neben Fachpublikationen stehen, gehört auch zum besonderen Charakter dieser Bibliothek. Die Werke der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe sind in einem extra Regal im Nachbarraum untergebracht. Die Herausgabe sämtlicher Schriften des Gründers Dr. Rudolf Steiner steht kurz vor ihrem Abschluss.
Ein weiteres Stockwerk darüber befindet sich das Herzstück des Hauses: Ein Theatersaal mit 600 Sitzplätzen, großer Bühne und hervorragender Akustik. Zwar haben dort in der Vergangenheit durchaus schon interessante Konzerte und Aufführungen namhafter Künstlerinnen und Künstler stattgefunden. Gegenwärtig könnte die Auslastung der Räume allerdings besser sein. Mit verschiedenen Aktivitäten soll der Veranstaltungsort der Kasseler Stadtbevölkerung bewusster gemacht werden. Bislang scheint es aber für fremde Veranstalter eine Hürde zu sein, ihre Gäste in das Haus der Anthroposophen zu schicken. Es gebe da Vorbehalte, bedauert die Managerin. Aber das will sie ändern und mit mehr kulturellen Veranstaltungen das Haus bekannter machen. An die Aufführung der Carmina Burana durch den Uni-Chor im Haus erinnert man sich noch gern.
Erkenntnisarbeit statt Kultus
Nach dem interessanten Rundgang durch die Räumlichkeiten gibt es im Rahmen einer Gesprächsrunde die Möglichkeit, Fragen zu besprechen. Neben dem Vorstand des Zweiges Kassel (ca. 180 Mitglieder) ist auch der Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschland (AG, ca. 11000 Mitglieder) aus Stuttgart dabei. Die Anthroposophische Gesellschaft besitzt 10 regionale Arbeitszentren, bestehend aus „Zweigen“ mit regionaler Ausprägung und „Gruppen“ auf dem sachlichen Feld, die sich zeitgenössischen Fragestellungen vor dem Hintergrund der anthroposophischen Erkenntnis widmen. Daneben gibt es Organisationen, die auch von der Geisteswelt der Anthroposophie geprägt, aber organisatorisch von der Anthroposophischen Gesellschaft unabhängig sind: Waldofschulen, Demeter-Betriebe, anthroposophische Ärzte u.a.m. Man kann praktisch 100-prozentiger Anthroposoph sein, ohne Mitglied der AG zu werden. Auch wenn dies als die anthroposophische Freiheit verteidigt wird, schwingt doch etwas Bedauern in der Stimme.
Das Verhältnis zur ebenfalls in Kassel ansässigen Christengemeinschaft (ca. 300 Mitglieder) wirkt eher distanziert. Ja, es gibt natürlich einige Überschneidungen in der Mitgliedschaft, aber die Organisationen sind getrennt. Interessen sowie Arbeitsweise sind auch unterschiedlich. In der Christengemeinschaft dreht sich alles um den Kultus. Die Zusammenkünfte des Kasseler Zweiges hingegen dienen „der Erkenntnisarbeit“.
Philosophie oder Esoterik
Auffällig ist in Gesprächen mit führenden Anthroposophen (nicht nur in diesem), dass Steiners „Philosophie der Freiheit“ immer und immer wieder nach vorn gestellt wird. Man bekommt das Gefühl, dies sei das absolute Hauptwerk, aus dem sich alles Anthroposophische ableiten lasse. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Die Philosophie der Freiheit entstand vor Steiners Einstieg in die Theosophie und enthält darum kaum etwas von dem, was die Anthroposophie inhaltlich ausmacht. Lediglich die Ansätze einer monistischen Erkenntnistheorie sind darin zu finden. Die eigentlichen theosophischen Bücher Steiners, die dann erst das Gedankengebäude der Anthroposophie begründen, werden hingegen in den Gesprächen fast schon peinlich weggeschwiegen.
Noch schwieriger wird es mit Steiners Freimaurerischen und ritualmagischen Ambitionen innerhalb der Esoterischen Schule. Es braucht erfahrungsgemäß ein sehr gutes Vertrauensverhältnis und einen geschützen Rahmen, dass sich anthroposophische Gesprächspartner darauf einlassen, diese Facette von Steiners Wirken zu diskutieren. In Kassel ist das diesmal nicht geschehen. Angesichts des Charakters einer solchen punktuellen Begegnung ist das aber verständlich.
Übersinnlich wahrnehmen (üben)
Was macht den Anthroposophen aus? Eine Aufnahmeprüfung gibt es nicht. Auch keine Pflichtlektüre bestimmter Schriften. Die Antwort: Jeder, der sich explizit für die anthroposophische Angelegenheit interessiert. Verschiedene „Konfessionen“ innerhalb der Anthroposophie gebe es nicht. Die Suche nach dem größeren Ganzen wird stattdessen als Ziel genannt. Anthroposophen verstehen ihr Streben nicht als Religion, sondern bezeichnen es oft als „Geisteswissenschaft“. Keine Offenbarung, sondern gemeinsames Forschen in den höheren Welten – so wird es beschrieben. Können Anthroposophen, die den von Steiner gelehrten Schulungsweg beschreiten, dann auch selbst mit eigenen Augen das sehen, was Steiner in der Akasha-Chronik geschaut zu haben berichtet hat? Im Grunde schon – also im Prinzip. In der Praxis wohl eher nicht. Dazu müsse man auch viel üben – und das will nicht jeder. Außerdem war Steiner in seinen Fähigkeiten so überragend, da kommt so schnell keiner ran. Die Antwort auf die Frage bereitet Mühe und zeigt ein Dilemma. lmmerhin sitzen uns keine anthroposophischen Anfänger gegenüber, sondern die Spitze der Gesellschaft. Dennoch bleiben die Beschreibungen des selbst „Geschauten“ recht diffus und vage. Da ist die Rede von der Atmosphäre, die man spürt, wenn man einen Raum betritt oder in einen Wald kommt. Da ist der Anspruch, in der Betrachtung einer Pflanze nicht nur ihre physische Ausprägung zu sehen, sondern durch eingeübte Denkdisziplin auch deren inneren Zusammenhang mit höheren Welten wahrzunehmen. Eine der von Rudolf Steiner empfohlenen Übungen sei z.B., bei einem wolkenlos blauen Himmel sich in der Wahrnehmung ausschließlich in das Himmelsblau zu versenken. Im nächsten Schritt lässt man dann das Blau weg. Dann könne sich Erkenntnis einstellen.
Der Anti-Guru?
Darf man Steiner kritisieren? In dem Umgang mit der Person Rudolf Steiners und seinem Werk wiederholen sich diese im Blick auf den Schulungsweg zu beobachtenden Widersprüchlichkeiten. Sie sind Ausprägung des gleichen Dilemmas. Auf der einen Seite wird sehr betont, dass Steiner kein religiöser Offenbarer sei, sondern ein Geistesforscher. Also im Prinzip ein normaler Mensch, der für seine Mitteilungen gerade keinen Glauben fordere. Mehrfach betonen das unsere Gesprächspartner und zitieren entsprechende Aussagen Steiners: „Glaubt mir nicht, sondern überprüft das.“ Zwar sei er in seiner theosophischen Zeit für seine Anhänger(innen) zum Guru geworden. Doch habe er dieses als Anthroposoph dann abgelegt, sei geradezu ein „Anti-Guru“ geworden und habe alles in die Freiwilligkeit gestellt.
Faktisch ist aber Steiner dann doch so erhaben, solch „ein Gigant“, so „extrem überlegen“ in seiner Leistung, dass diese Prüfung offenbar nur ein Ergebnis haben kann: Steiner hat recht. In allem. Gibt es Widersprüche in Steiners Werk? Nur vermeintliche, wenn man etwas noch nicht ausreichend verstanden hat, oder wo er z.B. die polare Seite einer Sache beschreibt. Fehler? „Ich habe intensiv gesucht und keine gefunden.“ Die allenfalls akzeptierte Lösung scheint zu sein, dass man Steiner an bestimmten Stellen „liegen lasse“, wo man sich noch nicht ausreichend damit befasst habe – explizit ohne zu sagen, dass es „falsch“ sei. Da ist eine tief empfundene Steiner-Verehrung, welche die verbal viel beschworene individuelle Denkfreiheit faktisch sehr effektiv normiert und in den Gleisen der Steinerschen-Schriften und Vorträge belässt. Das war jedenfalls auch in diesem Gespräch nicht nur als Atmosphäre deutlich zu spüren.
Religion?
Ist die Anthroposophie eine Religionsgemeinschaft? Angesichts der deutlichen Ablehnung gemeinsamer ritueller Praxis wohl eher nicht. Aber eine Weltanschauungsgemeinschaft ist sie in jedem Fall. Die durch Rudolf Steiner vermittelte und anthroposophisch modifizierte theosophische Weltanschauung bildet das tragende Grundgerüst, aller anthroposophischen Unternehmungen, von Demeter bis Waldorfschulen. Die Fassaden mögen vielfältig sein. Stehen können diese Gebäude alle nur, soweit sie an diesen Stahlträgern hängen. Gleichwohl gehen in diesen Gebäuden viele Menschen ein und aus, die oftmals nicht das Ganze der anthroposophischen Weltanschauung für sich selbst verinnerlicht und akzeptiert haben, sondern lediglich einzelne Aspekte oder Ideen interessant finden. Das führt in der Praxis dazu, dass einerseits die Verbreitung anthroposophischer Ideen in der Gesellschaft um Dimensionen größer ist, als es die Mitgliederzahl der Anthroposophischen Gesellschaft vermuten lassen würde. Zugleich nehmen die meisten Menschen Anthroposophie nur in stark verdünnter Form wahr, was aber eine wesentliche Voraussetzung für ihre Akzeptanz zu sein scheint. Anthroposophie erinnert insofern an Sirup: In ausreichender Verdünnung findet ein solches Getränk viele Freunde, als Konzentrat ist es eher schwer genießbar.
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