Ein Krankenhaus in anthroposophischer Trägerschaft unterscheidet sich in gewisser Hinsicht von einem solchen in christlicher Trägerschaft. Gemeinsam ist beiden – auch wenn dies bei der anthroposophischen Seite nicht jedem bewusst ist – eine bestimmte, religiös–weltanschauliche Prägung, die als Grundorientierung sich natürlich auch auf den Umgang mit den Patienten auswirken soll. Ein anthroposophisches Krankenhaus bedeutet aber mehr als dies, denn es beinhaltet ein spezielles Therapiekonzept: die anthroposophisch erweiterte Heilkunst.
Erweiterung?
Der Ausdruck "erweiterte" Heilkunst drückt aus, dass die anthroposophische Medizin auf der Schulmedizin aufbaut (anthroposophische Ärzte haben ein normales Medizinstudium absolviert), dass aber eine Erweiterung und Ergänzung auf der Grundlage der besonderen Erkenntnisse aus Rudolf Steiners geistiger Schau möglich und nötig sei.
Die Krankenhausinitiative beschreibt in einem Faltblatt ihr Verständnis folgendermaßen: "In der gegenwärtigen Lehrmedizin kennt das Krankheitsverständnis hauptsächlich physikalische und biochemische Faktoren. Diesen Blickwinkel erweitert die anthroposophische Medizin. [...] Die um die anthroposophische Medizin erweiterte Betrachtungsweise bezieht sich auf das Geistig–seelische im Menschen, wie sich die naturwissenschaftliche Erkenntnis auf das Physische bezieht."
An anderer Stelle wird gesagt, die materialistische Weltanschauung, die der naturwissenschaftlichen Medizin immanent ist, werde durch die Erkenntnis der geistigen Grundlagen der Welt ergänzt. Die analoge Konstruktion kann (und soll) den Eindruck erwecken, bei der anthroposophischen Schau handele es sich um ähnlich sicheres Wissen, wie im Bereich der Naturwissenschaft. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese "Erweiterungen" auf völlig eigenen weltanschaulichen Grundlagen beruhen, die ausserhalb des Gedankengebäudes der Anthroposophie nur sehr begrenzt Gültigkeit beanspruchen können. Auch wenn durch die Vorstellung der "Erweiterung" ein Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis vermieden werden soll, so muss bei ernsthafter Betrachtung festgestellt werden, dass dies nicht gelingen kann. Im Zweifelsfall steht die anthroposophische Erkenntnis dann doch gegen die naturwissenschaftliche Erkenntnis bzw. ist, da sie den naturwissenschaftlichen Bereich "übersteigt", eben nicht mehr "wissenschaftlich" zu nennen. Die Einwirkungen kosmischer Wesenheiten auf die Gestalt des Ätherkörpers entziehen sich (zu Recht) einer naturwissenschaftlichen Beschreibung. Über die Möglichkeit solcher Vorgänge ist damit noch kein Urteil abgegeben, aber auf die Verschiedenartigkeit der Bereiche hingewiesen. Wenn ich die Ursachen gegenwärtiger Krankheit in Erlebnissen während vergangener Erdenleben suche, erweitere ich nicht den wissenschaftlichen Bereich, sondern verlasse ihn und begebe mich in grundlegend andere Begründungszusammenhänge. Insofern wäre es redlicher, die weltanschauliche Prägung nicht hinter einer scheinbaren Wissenschaftlichkeit zu verstecken und durch die Rede einer "Erweiterung" zu verschleiern.
Erkenntnisgrundlagen
Die Grundlagen anthroposophischer Erkenntnis – auf denen auch die anthroposophische Medizin basiert – liegen in Rudolf Steiners Schau geistiger Welten.
Der Gründer der Anthroposophie, Dr. Rudolf Steiner (1861–1925) war um die Jahrhundertwende vom einstigen Gegner zu einem Anhänger der Theosophischen Gesellschaft geworden. Als Theosoph nahm er für sich in Anspruch, unmittelbaren Einblick in geistige Welten nehmen zu können. In seinen "geisteswissenschaftlichen Grundwerken" "Die Geheimwissenschaft im Umriß", "Theosophie" und "Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten" publizierte er seine gewonnenen Einsichten und stellte – in weiten Teilen der theosophischen Doktrin folgend – in einer gewaltigen Geschichtsschau die gemeinsame Entwicklungsgeschichte von Weltall, Erde und Mensch dar. Als Grundlage der umfangreichen Mitteilungen galt Steiners Fähigkeit, in der sog. "Akasha–Chronik" lesen zu können, jenem der indischen Vorstellung entlehnten "Weltgedächtnis", das gewissermaßen als feinstoffliche Einprägung ein Abbild aller jemals auf Erden gedachten und geschehenen Dinge enthalten soll. Geistes"wissenschaft" wurden diese Erkenntnisse genannt, da behauptet wurde und wird, jeder Mensch könne im anthroposophischen Schulungsweg selbst die inneren Organe zur eigenen unmittelbaren Schau der geistigen Welten ausbilden und dann die Erkenntnisse Steiners bestätigen. Die Erfüllung dieses Anspruches ist allerdings weithin ein Problem für die Anthroposophie. Funktional (nicht im Selbstverständnis!) haben Steiners Mitteilungen darum den Charakter von Offenbarungen, die ein neues Welt– und Menschenbild begründen.
Menschenbild
Fundamental für die anthroposophische Medizin ist die Aufteilung des Menschen in physischen Körper, Ätherkörper, Astralkörper und "Ich".
Der physische Körper besteht aus chemischen Substanzen und verbindet den Menschen mit dem Mineralreich. Er wird durchdrungen und geringfügig überragt vom Ätherkörper, der für die Lebensäußerungen (Verdauung, Stoffwechsel etc.) zuständig und auch bei Pflanzen zu finden ist. Noch feiner und größer ist der Astralkörper, der der Sitz der Empfindungen und Gefühle ist und den der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat. Von jenen unterscheidet er sich durch den Besitz eines individuellen Verstandes, den Steiner als "Ich" bezeichnete und als den eigentlichen Kern der Individualität ansah.
Krankheiten werden in der anthroposophischen Medizin in starkem Maß auf ein gestörtes Zusammenspiel dieser höheren Träger der Menschennatur zurückgeführt.
Entwick(e)lung
Als treibende Kraft hinter allen Abläufen im Kosmos und im menschlichen Organismus gilt die Vorstellung von einer konsequenten Höherentwicklung in spiralförmigen Zyklen. Dies beinhaltet nicht nur die Reinkarnation, d. h. wiederholte Erdenleben für jeden Menschen, sondern auch die Erde selbst habe verschiedene planetarische Entwicklungszustände hinter und vor sich. Da die Menschen nicht die einzigen Lebewesen in diesem Geschehen sind, wirken zahlreiche höher entwickelte Hierarchien von Geistwesenheiten auf die menschliche Entwicklung ein, ebenso wie der Mensch auch eine Verantwortung für die nach ihm kommenden Lebensbereiche hat.
Würdigung
Anthroposophische Medizin baut auf diesen skizzierten Grundzügen auf und entwickelt daraus eigene diagnostische und therapeutische Ansätze. Dabei gelingt es ihr durchaus, manche Einseitigkeiten der Schulmedizin überwinden. Insbesondere die Betrachtung der größeren biographischen und psychosozialen Zusammenhänge ist dort oft noch unterentwickelt.
Der Dialog mit der anthroposophisch orientierten Medizin wird die verschiedenen Erkenntnisgründe und Gewissheiten nicht stets thematisieren, wohl aber im Gedächtnis behalten müssen.
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