Dresden nazifrei?
Der 13. Februar ist für Dresden ein wichtiges Datum – und zunehmend nicht nur für diese Stadt, sondern auch für viele Menschen anderswo. Zum Beispiel für die ca. 5700 Polizisten aus dem gesamten Bundesgebiet, die gekommen waren, damit der Jahrestag der Zerstörung Dresdens 1945 ohne gewaltsame Auseinandersetzungen abläuft. Der 13. Februar ist inzwischen auch ein Datum, das grundsätzliche Fragen zum Funktionieren unserer Demokratie, zur Rolle der Polizei und zur Aufgabe und den Grenzen bürgerschaftlichen Engagements stellt.
Trauermärsche
Seit etlichen Jahren benutzen Rechtsextremisten den 13. Februar, um sogenannte „Trauermärsche“ abzuhalten. Dabei wollen sie nur an die deutschen Opfer erinnern, der Ausgangspunkt des Krieges wird hingegen ausgeblendet. Solche Demonstrationszüge haben für die Szene eine enorm große Bedeutung – und zwar in zwei Richtungen:
Nach außen hin demonstrieren sie Stärke und Selbstbewusstsein einer extremistischen Bewegung, die sich nicht mehr nur in Hinterzimmern versteckt, sondern offen auf der Straße marschiert. Es werden Parolen gerufen, Transparente geschwenkt und die eigene Deutung der Geschichte lautstark vorgetragen. Entsprechend aufgeregte Medienberichterstattung ist ihnen sicher.
Noch wichtiger als die Außenwirkung ist aber die stabilisierende und motivierende Wirkung solcher Massenveranstaltungen nach innen. Mit vielen gleichgesinnten Kameraden in einer Reihe zu marschieren, eskortiert von der Polizei die eigene Ideologie zur Schau stellen zu können und sich dabei in der Masse geborgen fühlen zu können – das hat für viele Teilnehmer eine sehr ergreifende Wirkung. Ein solcher emotionaler Kick ist oft die Basis für künftiges Engagement in der Szene. Er ist der Durchlauferhitzer für Jungnazis und eine Bestätigung für die alten Kämpfer. Selbst wenn sie niemand sehen und der Demonstrationszug abseits vom Stadtzentrum durch einsame Straßen marschieren würde, blieben solche Events doch für den inneren Zusammenhalt der Szene enorm wichtig.
Die Rechtslage
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland gestattet es auch Minderheiten, ihre Meinung öffentlich kundzutun. Das Demonstrationsrecht darf vom Staat nicht willkürlich eingeschränkt werden, denn damit steht und fällt die Demokratie. Gilt damit die Versammlungsfreiheit auch für Rechtsextremisten? Diese Frage ist umstritten.
Die Städte und Kommunen bemühen sich in vielen Fällen, rechtsextreme Demonstrationszüge nicht zuzulassen. Oft werden diese Verfügungen aber von den Verwaltungsgerichten wieder einkassiert. Folglich dürfen dann die Rechtsextremisten dort marschieren. Die Polizei bekommt die undankbare Aufgabe, diese Demonstrationen zu schützen.
Das Dilemma des Staates
In dieser Situation zeigt sich ein Dilemma. Die Demokratie erfordert es, dass der Staat seinen Bürgern Freiheiten zugesteht, sonst würde er zur Diktatur. Wie weit geht diese Freiheit gegenüber den erklärten Feinden der Demokratie? Rechtsextremisten nutzen die ihnen zustehenden demokratischen Rechte und Freiheiten regelmäßig bis an die Schmerzgrenze aus, um sie im Falle eines eigenen Machtgewinnes sofort abzuschaffen. Das muss eine wehrhafte Demokratie verhindern. Allerdings kann dies der Staat nicht selbst tun, denn dann würde er selbst die Demokratie einschränken. Das Grundgesetz sieht zwar diese Möglichkeit prinzipiell vor (Art. 18) und weist damit in die Richtung einer wehrhaften Demokratie. Allerdings ist das Verfassungsgericht extrem zurückhaltend in der Anwendung dieses Artikels.[1] Aus dieser Perspektive handeln die Verwaltungsgerichte folgerichtig, wenn sie auch Nazidemos erlauben. Damit ist aber noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Die Aufgabe der Bürger
Das Wort „Demokratie“ bekommt hier nämlich einen besonderen Aspekt zurückgegeben: die Bürger selbst sind gefordert. Wenn sie auf die Straße gehen, um der braunen Ideologie unübersehbar zu widersprechen, dann ist das ein wichtiges Zeichen. Wenn sie dies aber so zahlreich tun, dass die Straßen derart mit engagierten Bürgern gefüllt sind, dass der Demonstrationszug der Rechtsextremisten dort nicht hin kann, dann verteidigen diese Bürger aktiv die Demokratie. Sie handeln dabei – obwohl sie eine gerichtlich erlaubte Demonstration faktisch verhindern – zutiefst demokratisch, denn es ist das Volk selbst, welches sich dem Missbrauch der Meinungsfreiheit entschlossen entgegenstellt. Es wäre auch kein Widerspruch, sondern innerlich folgerichtig, wenn z. B. ein Verwaltungsrichter, der in seinem Amt als Überwacher staatlichen Handelns den Demonstrationszug erlaubt hat, in seiner Person als Bürger der Stadt an einer Sitzblockade zur Verhinderung eben dieser Demonstration mitwirkt. Demokratische Rechte sind vielfach Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Der Staat kann den Bürgern diesen Einsatz nicht abnehmen. Staatliches und couragiertes bürgerschaftliches Handeln sind darum – obwohl scheinbar gegensätzlich ausgerichtet – doch in diesem Sinne subsidiär und gegenseitig ergänzend aufeinander angewiesen. Das Bundesverfassungsgericht selbst fordert geradezu solches Engagement, wenn es in dem erst kürzlich (November 2009) ergangenen Wunsiedel-Urteil ausführt „Den damit [mit der Verbreitung nationalsozialistischem Gedankengutes] verbundenen Gefahren entgegenzutreten, weist die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär bürgerschaftlichem Engagement im freien politischen Diskurs zu.“[2]
Das große und das kleinere Übel
Es gehört zu den Gegebenheiten dieser Welt jenseits des Paradieses, dass man das reine Gute oft nicht tun kann, sondern zwischen einem kleinen und einem größeren Übel wählen muss. Das gewaltfreie Stören eines genehmigten Demonstrationszuges ist eine Ordnungswidrigkeit, ebenso wie Falschparken. Wer so etwas tut, lädt Schuld auf sich. Es gibt aber Situationen, in denen man nicht umhin kommt, im Kleinen schuldig zu werden, um ein weitaus größeres Unheil zu verhindern. Wer sein Auto falsch abstellt, um ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, verdient einen Orden, obwohl er vielleicht auch von einem übereifrigen Polizisten einen Strafzettel ausgestellt bekommt.
Dies bedeutet keine generelle Abschaffung der öffentlichen Ordnung, die alle Regeln in die individuelle Beliebigkeit überführt nach dem Motto „der Zweck heiligt die Mittel“. Wohl aber bedeutet dies, dass eine Güterabwägung notwendig ist und die Entscheidung des individuellen Gewissens nicht mit Verweis auf staatliche Ordnungsgesetzgebung suspendiert werden darf. Die Gewissensentscheidung ist in ihrer Ernsthaftigkeit daran erkennbar, dass sie persönliche Nachteile in Kauf nimmt.
Ziviler Ungehorsam ist in bestimmten Situationen notwendig – auch weil die Rechtsordnung in einer Demokratie prinzipiell nicht unveränderbar abgeschlossen ist, sondern stets neu an die Gegebenheiten angepasst werden muss.[3] Das weiß auch das Bundesverfassungsgericht, das solches bürgerschaftliches Engagement zum Anstoß gesellschaftlicher Diskurse als Lebenszeichen der Demokratie stets gefördert hat. In der Beurteilung der Strafwürdigkeit der Übertretung von Vorschriften bei solchen Aktionen wurden darum den Gerichten strenge Normen auferlegt, das Gesamtbild einschließlich der Motivation der Handelnden in die Beurteilung einzubeziehen. Wesentlich ist auch, ob die Versammlung zur Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist.[4] Das Vordringen von Neonazis in wachsendem Ausmaß ist ohne Zweifel eine Situation, auf die durch die Gesellschaft reagiert werden muss.
Der schmale Grat des Bundesverfassungsgerichtes
Das Bundesverfassungsgericht hat verschiedentlich zu diesen Fragen Stellung genommen, zuletzt in einem wichtigen Urteil vom November 2009. Der inzwischen verstorbene Anwalt und NPD-Vorstandsmitglied Jürgen Rieger hatte in Wunsiedel „Rudolf-Hess Gedenkmärsche“ angemeldet und gegen ein Verbot dieser Veranstaltungen Verfassungsbeschwerde unter Verweis auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit eingelegt.
In seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht zunächst die bisherige Linie festgehalten:
„Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. Dementsprechend fällt selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus.“
Die Auseinandersetzung damit sei – wie bereits erwähnt – Aufgabe des bürgerschaftlichen Engagements.
Im weiteren Verlauf des Urteils stellt es aber heraus, dass die glorifizierende Verherrlichung des Nationalsozialismus anders zu bewerten ist, als irgend eine „Meinung“.
„Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann. […] Vor diesem Hintergrund entfaltet die propagandistische Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft mit all dem schrecklichen tatsächlich Geschehenen, das sie zu verantworten hat, Wirkungen, die über die allgemeinen Spannungslagen des öffentlichen Meinungskampfes weit hinausgehen und allein auf der Grundlage der allgemeinen Regeln zu den Grenzen der Meinungsfreiheit nicht erfasst werden können. Die Befürwortung dieser Herrschaft ist in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential. Insofern ist sie mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar und kann nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung auslösen.“[5]
Diese Tatsachen rechtfertigen – so das Bundesverfassungsgericht – das Verbot der Rudolf-Hess Gedenkmärsche.
Dresden auf zwei Elbseiten
Gegenseitig ergänzt haben sich die vielen Veranstaltungen am 13. Februar in Dresden. Auf der Altstädter Elbseite hatte die Oberbürgermeisterin zu einer Menschenkette aufgerufen. Die Kirchen und die jüdische Gemeinde unterstützten diesen Aufruf und organisierten ein Friedensgebet an verschiedenen Stationen, dessen Teilnehmerzahl von 200 auf weit über 2000 anschwoll. Am Ende sollen es rund 15 000 Bürger gewesen sein, die mit ihrer Präsenz ein deutliches Zeichen gegen rechtsextreme Vereinnahmung des Gedenkens an die Zerstörung der Stadt gesetzt haben.
Auf der Neustädter Elbseite hatten sich ebenfalls viele Dresdner und Gäste versammelt, um gegen den Naziaufmarsch zu demonstrieren. Das waren keinesfalls nur extreme linke Chaoten, sondern ein breites Spektrum engagierter Bürger, unter denen die auch vorhandenen Linksautonomen in der Minderheit waren. Dabei waren auch ältere Menschen, Frauen und Kinder, die es nicht zulassen wollten, dass ein rechtsextremer Demonstrationszug durch die Stadt marschiert. Die Teilnehmer des von der „Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland“ (JLO) angemeldeten Trauermarsches hatten sich hinter dem Neustädter Bahnhof versammelt – ca. 6400 Neonazis aus ganze Europa – und kamen kaum einen Schritt voran. Obwohl sich die Polizei darum bemühte, den Neonazis den Weg frei zu räumen, konnte sie keine Route für den Zug der Rechtsextremen freilegen. Auch für die Polizei gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: 20 Autonome können sie wegtragen, aber nicht 4000 friedliche Bürger. Die in den Medien gezeigten brennenden Mülltonnen und einzelnen Steinewerfer waren glücklicherweise Randerscheinungen. Insgesamt blieb es in Dresden friedlich. Nur 27 leichte Verletzungen, keine Schwerverletzten und 29 vorläufige Festnahmen bei rund 35 000 Menschen auf der Straße sind eine positive Bilanz. In Pirna und in Gera randalierten ca. 300 bzw. 183 Rechsextreme auf der Rückreise.
Auf diese Weise haben die Bürger von Dresden und ihre Gäste auf beiden Elbseiten in je unterschiedlicher Weise, aber in der Summe doch gemeinsam Zivilcourage gezeigt und den Aufmarsch der Rechtsextremisten verhindert. Hätte es die Blockade nicht gegeben, wäre die Menschenkette ein zwar eindrucksvolles aber kaum wirkungsvolles Symbol geblieben. Hätte es die Menschenkette nicht gegeben, dann hätten die Gerichte und die Stadt nicht den Aufzug der JLO in die Neustadt verlegen und die Dauer auf 17:00 Uhr begrenzen können.
Was ist der richtige Umgang?
Der Streit um den richtigen Umgang mit rechtsextremen Demonstrationszügen ist damit nicht ausgestanden. Verschiedene deutsche Städte haben durch diese Form des friedlichen bürgerschaftlichen Widerstandes Nazidemonstrationen verhindern können. In Jena gab es früher auch regelmäßig große Neonazi-Aufmärsche. Dort hat sich ein breites bürgerschaftliches Aktionsbündnis gebildet, welches immer wieder durch friedliche Sitzblockaden diese Aufmärsche verhindert hat. Der Oberbürgermeister saß dort mitten unter den Bürgern mit auf der Straße.
In Dresden war die Polizeitaktik der vergangenen Jahre vorrangig auf die Vermeidung von Zwischenfällen und folglich auf die Trennung der Demonstrationszüge ausgerichtet. Das hatte den Nebeneffekt, dass hier die Demonstrationszüge der Rechtsextremen von Jahr zu Jahr anschwollen, weil es sich unter Dresdner Polizeigeleit bislang besonders gut marschieren ließ.
Nazifrei?
Am 13. Februar 2010 war es anders. Ist die Stadt damit „nazifrei“? Leider nicht, denn jenseits der Straße gehen die wichtigen Auseinandersetzungen weiter. Die NPD-Fraktion ist weiterhin im Landtag. Rechtsextreme Gesinnungen, Fremdenfeindlichkeit, übersteigerter Nationalismus, Ideologien der Ungleichheit von Menschen und neuheidnisch-religiös verbrämte Christentumsfeindschaft artikulieren sich auch an anderen Tagen und an anderen Orten in Sachsen.
Linksextrem
Am 13. Februar konnte man in Dresden auch linksextreme Propagandisten treffen. Ein aufgesammeltes Flugblatt der „Revolutionären kommunistischen Partei Deutschlands“ rückt sogar die Linkspartei in die Nähe des Faschismus. Die MLPD wird ebenfalls in Verfassungsschutzberichten erwähnt. Den radikalen Positionen dieser Extremisten muss deutlich widersprochen werden. Bedeutet dies auch, dass der bürgerschaftliche Protest gegen Rechtsextremisten nicht erfolgen darf, wenn solche Kräfte sich auch daran beteiligen? Keineswegs, sondern im Gegenteil: es kommt darauf an, auch diesen Extremisten nicht die Straße zu überlassen. Es braucht die breite bürgerliche Mitte, die öffentlich sichtbar engagiert und couragiert für demokratische Werte eintritt.
[1] In der Geschichte der Bundesrepublik gab es bislang vier Verfahren unter Bezug auf Art. 18 GG, die alle nicht zum Entzug von Grundrechten führten sondern z.T. wegen überlanger Verfahrensdauer eingestellt wurden.
[2] http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg09-129.html
[3] Darauf hat der Jenaer Oberkirchenrat i.R. Peter Zimmermann hingewiesen: http://www.aktionsnetzwerk.de/cms/images/stories/Material/netzwerk/ziviler_ungehorsam.pdf
[4] 1 BvR 1190/90, ebenfalls bedeutsam: Der Straftatbestand der Nötigung mit Gewalt (StGB §240Abs.1) ist bei einer reinen Sitzblockade (ohne physische Barrieren) nicht gegeben. 1 BvR 322/90
[5] http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20091104_1bvr215008.html, Absatz 66.
Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 18
Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 20, Abs. 4