Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen - aber wie?
Um den Begriff und Inhalt des Gender Mainstreaming ist ein Weltanschauungskampf entbrannt – mit teilweise merkwürdigen Allianzen. Offenbar eignet sich dieser Begriff wegen seiner unmittelbaren Unverständlichkeit aufgrund seiner englischen Herkunft besonders gut, um je nach Intention mit verschiedenen Inhalten aufgeladen zu werden. Das führt dann wiederum zu energischem Anstreben einerseits oder radikaler Ablehnung andererseits.
Worum geht es?
Gender Mainstreaming befasst sich mit den gesellschaftlich geprägten Rollenvorstellungen von Männern und Frauen und prüft diese auf ihre sachliche Berechtigung. Es geht dabei darum, der biologischen Unterschiedlichkeit von Frauen und Männern dadurch gerecht zu werden, dass man diesen Aspekt im Blick behält. Entscheidungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen betreffen Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise. Dass die Entscheidungsträger sich dies bewusst machen und dass es dabei gerecht zugeht, das ist das eigentliche Anliegen von „Gender Mainstreaming“. Der Begriff hat sich unübersetzt als Fachbegriff etabliert, weil er schwer übersetzbar ist, da das englische „Gender“ kein deutsches Äquivalent besitzt.
Manches an den gesellschaftlichen Rollenverteilungen resultiert unmittelbar aus den biologischen Unterschieden, etwa was z.B. die Fähigkeit zu schwerer körperlicher Arbeit betrifft. Davon sind Zuschreibungen zu unterscheiden, die aus bestimmten Kulturtraditionen ererbt sind, aber keine begründete Grundlage besitzen. Ich kenne einige Frauen, die viel besser einparken können, als ich. Diese Fähigkeit hat nichts mit dem biologischen Geschlecht, sondern mit Übung und vielleicht auch etwas individueller Begabung zu tun. Die Prozesse des Gender Mainstreaming sollen helfen, das eine von dem anderen zu unterscheiden und nach Ausgleich für Benachteiligungen aufgrund des biologischen Geschlechtes zu suchen.
Eine pauschale Aufteilung nach dem Motto: „Der Mann geht auf die Arbeit, die Frau gehört an den Herd.“ entspricht weder der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch dem christlichen Ideal. Islamischen Ländern wird oft vorgeworfen, an überkommenen Rollenaufteilungen zum Nachteil der Frauen festzuhalten. Das Wegschließen türkischer Frauen in den Häusern auch in Deutschland ist nicht nur Ausdruck mangelnder Integration, sondern ebenso eine große Ungerechtigkeit, gegen die sich zu Recht Widerstand erhebt.
Wichtig ist: Es geht bei Gender Mainstreaming gerade nicht darum, die Unterschiedlichkeit der Geschlechter restlos aufzulösen, sondern diese als bleibende Gegebenheit in die Betrachtung aller gesellschaftlichen Prozesse mit einzubeziehen. Erhellend dafür ist eine Übersetzungsvariante des Begriffes, wie er in den Dokumenten der Europäischen Union verwendet wird: „geschlechtersensible Folgenabschätzung“. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Männer und Frauen nicht gleich sind und es auch nie sein werden. Sie haben unterschiedliche Lebenssituationen, Interessen und Ausgangspunkte. Das bedeutet aber keine Rechtfertigung für gegenseitige Unterdrückung, sondern die Verpflichtung zur Suche nach einem gerechten Umgang miteinander, der keinen benachteiligt. Ein solcher gerechter Umgang ist weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart selbstverständlich.
Kirchliches Engagement
Der Einsatz für gerechte Verhältnisse und Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen ist schon seit einigen Jahrzehnten ein wachsendes Anliegen der Kirchen. Der Ökumenische Rat der Kirchen organisierte 1975 ein Studienprogramm „Die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche“. Dabei wurde deutlich, dass die theologische Grundlage für die Suche nach Chancengleichheit in der biblischen Aussage begründet ist, dass Gott die Menschen als Mann und Frau zu seinem Ebenbild geschaffen hat (1. Mose 1, 27). 1989 verabschiedete die Synode der EKD Leitlinien für eine geschlechtergerechte Zukunft der Kirche. Ebenso verabschiedete die Leipziger Synode des Bundes Evangelischer Kirchen (BEK) 1990 entsprechende Beschlüsse. Die EKD hat ein Referat für Chancengerechtigkeit eingerichtet, um diesen Erkenntnissen Geltung zu verschaffen.[1] Auch in der sächsischen Landeskirche gibt es seit längerem entsprechende Bestrebungen.
Gegenwind von Rechtsaußen
Ungerechte Strukturen haben Gewinner und Verlierer. Die Beseitigung von Ungerechtigkeit ist kein Prozess, der völlig konfliktfrei ablaufen kann, denn er ändert Verhältnisse. Die bisherigen Gewinner verlieren ihre Vorteile. Solches trifft verständlicherweise auf Widerstand.
Im Bereich rechtsextremer Gruppierungen dominiert ein Familienbild, welches von klaren gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen geprägt ist. Das Bild der „deutschen Mutter“ wie es beispielhaft von der „Gemeinschaft deutscher Frauen (GDF)“ vertreten wird, geht von einer klaren Rollenteilung aus: Bestimmung der Frau ist es, sich bei Haus und Herd um die Erhaltung der Art zu sorgen, während der Mann als Ernährer, Krieger und Beschützer fungiert. Das passt in ein romantisch verklärtes neuheidnisches Konzept. Zwar gibt es auch in der rechtsextremen Szene Frauen, die aktiv mitentscheiden wollen und als Teil der „kämpfenden Front“ gewaltbereit sind („Renees“), doch bilden die Anhänger des „nationalen Feminismus“ eine Minderheit. So verwundert es nicht, dass die NPD dem Gender Mainstreaming den Kampf erklärt hat.
NPD für „biologisch bestimmte Rollenverteilung“
In der Ausgabe Nr. 20 der Zeitschrift der NPD-Landtagsfraktion „Klartext“ heißt es in einer Überschrift „null Euro für Gender-Wahn“. Interessant ist nun, mit welchen Argumenten dies geschieht. In dem Text tritt die NPD für eine ersatzlose Streichung von Haushaltsmitteln zur Umsetzung von Gender Mainstreaming ein, „da es sich bei den sogenannten „Gender“-Programmen nach Ansicht der Nationaldemokraten um eine gefährliche Ideologie handelt, die die Existenz von Männern und Frauen zu einer repressiven gesellschaftlichen Erfindung erklärt.“ Der NPD-Abgeordnete Stefan Köster erklärt dies so:
„Allmählich spricht sich doch herum, was mit dem wohl klingenden Gender-Mainstreaming tatsächlich gemeint ist. Es geht nicht um Gleichberechtigung oder Gleichstellung, sondern um die Leugnung und Abschaffung der Geschlechterunterschiede. Wofür man noch vor zwanzig oder dreißig Jahren in psychiatrische Behandlung überwiesen worden wäre, genießt heute nicht nur den Schutz der handelnden Politik. Staatliche Programme finanzieren diesen zwanghaften Irrsinn auch noch großzügig...“.[2]
Noch deutlicher wird das von der NPD gezeichnete Zerrbild des Gender Mainstreaming in einem NPD-Antrag des Schweriner Landtages, wo es heißt:
„Von der irrigen Vorstellung ausgehend, dass die biologisch bestimmte Rollenverteilung willkürlich, zufällig und somit änderbar sei, wird ein nebulöses ‚soziales Geschlecht‘ als Ersatz für das biologische Geschlecht in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns gestellt. Jeder soll dabei ein neues, ein soziales Geschlecht erhalten, das er - völlig unabhängig von seinem biologischen Geschlecht - selbst bestimmen kann. Schon in der Annahme der Existenz von Geschlecht liege eine gewaltsame Zuweisung von Identität („Heterosexuelle Matrix“). Verbrämt mit Positiv-Worten wie „Familienpolitik“ und „Erziehung“ wird - nicht zuletzt infolge der propagierten offenen Geschlechtsidentität - die Gleichwertigkeit jeder Form sexueller Praxis gefordert. „GM“ liegt die der Milieutheorie entlehnte Vorstellung von der beliebigen Programmierbarkeit des Menschen zugrunde. Tatsächlich erfolgt in der GM-Praxis keinerlei positive Vorbereitung auf Elternschaft und Familie. Sexualität, mithin die Reduktion auf bloße Körperlichkeit, reinen Spaß und „Selbstverwirklichung“, belegt in der Gender-Wertehierarchie Platz 1. In deutlichen Ansätzen wird überdies der Pädophilie Vorschub geleistet....“
Die NPD behauptet also, Ziel von Gender Mainstreaming sei eine „Umprogrammierung“ der Menschen, weg von ihren „natürlichen“ (im Jargon sonst auch: „artgemäßen“) Lebensformen hin zu einer „Abschaffung der Geschlechterunterschiede“.
Das ist nicht nur eine Übertreibung, sondern im Ergebnis das krasse Gegenteil von dem, worum es bei Gender Mainstreaming wirklich geht. Nicht die Abschaffung des Geschlechtes, sondern gerade die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenssituationen ist Hauptanliegen von Gender Mainstreaming. Nicht eine „Umprogrammierung“ weg von der Natur, sondern die Hinterfragung unangemessener traditioneller gesellschaftlicher Festlegungen, welche eine natürliche Lebensweise verstellen, ein Mittel auf dem Weg dazu.
Weil diese Verdrehungen der NPD noch nicht reichen, wird ein weiteres Thema hinzugemengt, das zwar mit Gender Mainstreaming im eigentlichen Sinn nichts zu tun hat, aber immer wieder für emotional geführte Debatten gut ist: Die Frage der Bewertung von Homosexualität zusammen mit der Behauptung, eigentliches heimliches Ziel des Gender Mainstreaming sei es, die Geschlechtsunterschiede aufzuheben.
Merkwürdige Allianzen
Dass von der NPD derartige Verdrehungen zur politischen Meinungsmache benutzt werden, ist auch in anderen Zusammenhängen bekannt und nicht weiter verwunderlich. Auch vor dem oft dezidiert neuheidnischen weltanschaulichen Hintergrund vieler Rechtsextremisten passt die Argumentation gegen Gender Mainstreaming ins Bild, wird dort doch insgesamt eine Ideologie der Ungleichheit vertreten. Erschreckend ist aber, dass ganz ähnliche Argumentationsmuster mitunter auch bei Christen anzutreffen sind.
Die U-Boot-Theorie
Das zur Pfingstbewegung gehörende Glaubenszentrum Bad Gandersheim brachte in der Ausgabe 1/2010 des Mitgliedermagazins GZ aktuell einen Artikel über „Den Wert des Lebens“ und das Problem von Schwangerschaftsabbrüchen. Nach einer Reihe sachlicher Ausführungen wird plötzlich „Gender Mainstreaming“ als Ursache für Abtreibungen ausgemacht und behauptet, dabei handele es sich um ein „U-Boot, das keiner genau kennen soll.“ Ziele dieses Konzeptes seien demnach: „Auswechselbarkeit von Mann und Frau, Auflösung von Ehe und Familie sowie Vorantreiben der Legalisierung von Abtreibung.“ Man reibt sich verwundert die Augen und fragt sich, woher die Autorin, eine Hebamme und ehemalige Mitarbeiterin im Glaubenszentrum, derartige falsche Unterstellungen wohl bezogen hat. Gender Mainstreaming will keine Ehe und Familie auflösen, sondern im Gegenteil unterstützen, denn ein gerechter, partnerschaftlicher Umgang der Ehepartner miteinander stabilisiert die Beziehung. Die Berücksichtigung der jeweiligen Lebenssituation befördert nicht Abtreibungen, sondern im Gegenteil, es entlastet die betroffenen Frauen, wenn Erziehung auch als eine gemeinsame Aufgabe von Müttern und Vätern verstanden wird und gesellschaftliche Rahmenbedingungen dies angemessen würdigen. Kann es sein, dass hier einfach ein unverstandenes Schlagwort mit negativen Assoziationen überzogen wird? Auf dieser Linie liegt offensichtlich auch eine Vortrags-CD im Medienshop zum Thema „Gender Mainstreaming – schleichender Werteverfall.“
Deutungsbrille: Homosexualität
Nicht nur in Hessen, auch in Sachsen lassen sich ähnliche Beobachtungen machen. Im Evangelisationsteam Sachsen ist die pensionierte Psychiaterin Dr. Christa Maria Steinberg angestellt. Sie war mit einem Vortrag über „Die Familie im Gender-Zeitalter“ in sächsischen Gemeinden unterwegs. Darin bemühte sie ebenso die U-Boot-Theorie, der zufolge Gender Mainstreaming in Wahrheit ganz andere, üblere Ziele verfolge, als in den öffentlichen Dokumenten ersichtlich. Hier finden wir dann ein ähnliches Arsenal an Unterstellungen, wie bei der NPD: Die Gender-Perspektive wolle die Geschlechtlichkeit generell auflösen, die Kategorie „Geschlecht“ solle aufgeweicht, die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen abgeschafft werden. Das Geschlecht solle beliebig wählbar werden. Das zersetze die Familien, fördere Abtreibung und Homosexualität. Ihre Quellen und Gewährsleute sind in erster Linie Christl Ruth Vonholdt, Leiterin des „Deutschen Institutes für Jugend und Gesellschaft“ (www.dijg.de), sowie die Publizistin Gabriele Kuby.
Das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft ist ein Arbeitszweig der „Offensive Junger Christen“ (OJC) und hat primär Fragen der Familienpolitik zu seinem Arbeitsschwerpunkt. In den vergangenen Jahren hat sich dies sehr auf das Verhältnis zur Homosexualität konzentriert. Über diese Auseinandersetzung kam als neueste Entwicklung eine radikale Gegnerschaft zum Konzept des Gender Mainstreaming mit in das Themenspektrum des Institutes (www.gender-kritik.com). Diese Genese bestimmt entscheidend die Perspektive auf das Thema: Gender Mainstreaming wird in erster Linie als angebliche Politik zu Normalisierung von Homosexualität missverstanden und entsprechend bekämpft.
Okkultangst und Homophobie
Die Publizistin Gabriele Kuby machte nach ihrer Konversion zum Katholizismus als Vorkämpferin für ein konservatives katholisches Familienbild von sich reden. Bei ihr vermischen sich grundlegende Kritik an staatlicher Sexualaufklärung mit Ablehnung von Homosexualität und Okkultangst. Ein gewisser Hang zur dramatisierenden Übertreibung wurde schon bei ihren Büchern zu Harry Potter deutlich. 2002 veröffentlichte Sie „Harry Potter – Der globale Schub in okkultes Heidentum“ und im darauffolgenden Jahr „Harry Potter - gut oder böse?“. Die Darstellung zeigt ihr Unvermögen, zwischen der dem phantastischen Rahmen der Einkleidung in eine Zaubererwelt und der Sachhälfte der Harry-Potter Erzählung zu unterscheiden, in der die moralische Reifung der Persönlichkeit eindrücklich beschrieben wird. Statt dessen übernimmt sie die Argumente protestantischer fundamentalistischer Gruppen, die Harry Potter als Eingangstor in Magie und Teufelskult wähnen. Dass es ihr gelungen ist, von dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger einen zustimmenden Satz in der Antwort auf ihre Buchzusendung zu erhalten, verschaffte ihr nach dessen Wahl zum Papst Bendikt XVI. plötzlich große Popularität. Im Frühjahr 2010 war sie mit Vorträgen in Chemnitz unterwegs, deren Titel für sich sprechen: „Gender Mainstreaming - Angriffe auf die Schöpfungsordnung“ (22.3.), „Gender-Mainstreaming – Totalitarismus im neuen Gewand“ (23. 3.), „Gender Mainstreaming – Staatlicher Eingriff in die Geschlechtsidentität“ (24. 3). In der Einladung wird ihr Verständnis deutlich formuliert: „Der neue Gender-Mensch soll geschaffen werden, der selbst bestimmt, ob er Mann oder Frau sein will, ob hetero, lesbisch, bi, schwul oder trans.“ Wieder begegnet uns die Verbindung aus unsachgemäßer polemischer Verzerrung bezüglich der Ziele von Gender Mainstreaming mit der Verknüpfung der Bewertung sexueller Identitäten. Auf ihrer Homepage www.gabriele-kuby.de kann man sich ein ausführlicheres Bild von ihren Anschauungen machen. Sie sieht „Gender–Ideologie“ als Ergebnis der sexuellen Revolution und einer „Diktatur des Relativismus“, welche das Wertfundament unserer Gesellschaft zerstöre. Mit einer solchen Brille betrachtet wird man schnell blind für das zentrale Anliegen der Gerechtigkeit unter den Geschlechtern – es kommt in ihren Ausführungen nicht vor.
Sächsischer Landtag: NPD lobt CDU
Dessenungeachtet wurde Gabriele Kuby am 15. März 2010 vom Sächsischen Landtag als „Sachverständige“ in einer Anhörung zum Thema Gender Mainstreaming eingeladen. Die NPD jubelte und zollte der CDU dafür Anerkennung. Die familienpolitische Sprecherin der NPD-Fraktion, Gitta Schüßler, erklärte hierzu:
„Frau Kuby ist für ihre ebenso klaren wie wahren Worte zum Thema ‚Gender Mainstreaming’ zu danken. […] Wir Nationaldemokraten lehnen im Gegensatz zu den anderen Landtagsparteien die neomarxistische Gender-Idologie kategorisch ab und fordern statt dessen eine umfassende Förderung traditioneller Familien in Sachsen. Wenn Frau Kuby sich in ihren Ausführungen auf Ergebnisse der Verhaltens- und Hirnforschung bezieht, argumentiert sie im Sinne dessen, was die NPD als ‚lebensrichtiges Menschenbild’ bezeichnet und was im Gegensatz zu den längst widerlegten milieutheoretischen Vorstellungen linker ‚Gesellschaftsdesigner’ steht.“
Evangelikale und konservative Katholiken und CDU im Schulterschluss mit der NPD? Wie passt das zusammen?
(Zu) einfache Erklärungen
Wie kommt es, dass auch engagierte Christen sich zu solchen vergröbernden Falschdarstellungen verleiten lassen? Es wäre sicherlich falsch, dem Evangelisationsteam Sachsen, der Offensive Junger Christen oder auch Gabriele Kuby Sympathie mit Rechtsextremisten zu unterstellen. Die Brücke liegt in diesem Fall „lediglich“ in der gemeinsamen Ablehnung der Homosexualität. Gemeinsam ist aber auch die Sehnsucht nach einfachen Erklärungen und klaren Lösungen für komplexe Probleme der Gesellschaft. Darin liegt der Kern des Problems. Denn dies führt dazu, sich mit Schlagworten zu befassen und die eigentlichen Diskurse nicht ausreichend zur Kenntnis zu nehmen. Damit wird an den Sachfragen vorbei argumentiert. Statt dessen dominieren Verzeichnung und Übertreibung. Weil man sich nicht intensiv genug damit befasst, werden Gender Mainstreaming Absichten unterstellt, die keineswegs zu den Zielen gehören. Diese Überzeichnungen werden dann mit aller Inbrunst bekämpft. Dass damit auch die berechtigten Anliegen von Gender Mainstreaming mit hinweggespült werden, ist für die einen ein Kollateralschaden, für die anderen Kalkül.
Es steht Christen nicht gut an, in solcher Weise Lügen zu verbreiten. Wir kommen um die Diskussion der Inhalte nicht herum. Sonst besteht die Gefahr, dass in der Diskussion um die Schlagworte an den falschen Stellen die Gräben gezogen werden – und sich an den falschen Stellen plötzlich Allianzen auftun.
Gender ist nicht Sex
Ausgangspunkt von Gender Mainstreaming ist und bleibt die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht (englisch: „Sex“) und entsprechenden sozialen Rollen (englisch: „Gender“). Die christlichen Kritiker missverstehen diese Unterscheidung und die Hinterfragung der antrainierten Rollenmuster im Sinne einer Auflösung der biologischen Unterscheidung und wittern dahinter die Auflösung von Ehe und Familie zugunsten von Homosexualität. Aber zum einen ist Homosexualität nicht einfach eine Differenz zwischen biologischem und empfundenem Geschlecht. Zum anderen handelt Gender Mainstreaming überhaupt nicht von Sexualität, sondern von Gender, dem sozialen Rollenverhalten. Scheinbar steht dahinter die irrationale Sorge, wenn Männer sich nicht mehr typisch männlich benehmen, sondern „verweichlichen“ und Frauenrollen übernehmen, würde Homosexualität gefördert – die in manchen Kreisen offenbar mehr gefürchtet wird als die Ungerechtigkeit.
Sensibilität für Begabungen
In Saudi-Arabien dürfen Frauen nicht Auto fahren. Warum? Ist dies Ausdruck ihrer natürlichen Rolle als Frau und Mutter? Oder ist dies Gestalt einer Unterdrückung? Es gibt Partnerschaften, in denen sind die Väter die besseren Mütter. Sicher – das gilt nicht für jede Beziehung und man kann dies nicht erzwingen. Aber man kann darauf achten, ob es strukturelle Vorgaben gibt, welche z.B. Männer daran hindern, zu ihren Kindern eine intensive Beziehung zu gewinnen – etwa, dass sie nur schwer Teilzeit-Stellen bekommen. Ziel des Gender Mainstreaming ist es, darauf zu achten und eine Sensibilität dafür zu entwickeln, ob unsere sozialen Rollen und Konventionen den tatsächlichen Begabungen im Wege stehen. Gott ist nicht so eintönig wie menschliche Lebensgewohnheiten. Er verteilt Begabungen nicht immer entsprechend traditionellen Rollenmustern. Auch Gabriele Kuby profitiert vom Gender Mainstreaming, indem sie Bücher schreiben und Vorträge halten kann – noch vor 100 Jahren keineswegs anerkannte Beschäftigungen für Frauen.
Aufgaben
Die unsachlichen Polemiken gegen Gender Mainstreaming sind auch deshalb fehl am Platz, weil es durchaus sinnvoll wäre, über bestimmte Aspekte in der konkreten Ausgestaltung des Gender Mainstreaming zu diskutieren. Zum Beispiel wäre zu fragen, wie die beiden Teilaspekte sinnvoll aufeinander bezogen werden können, und nicht unverbunden und selbstwidersprüchlich nebeneinander stehen bleiben: Auf der einen Seite die Auflösung unangemessener und behindernder sozialer Rollen und Konditionierungen, auf der anderen Seite die Berücksichtigung der trotzdem bleibend unterschiedlichen Lebenssituationen. In der konkreten Ausgestaltung bleibt viel zu tun – auch in der Eindämmung mancher Übertreibungen, die zugegebenermaßen auch auf Seiten der Befürworter von Gender Mainstreaming gefunden werden können. Aber diese entstehen ja gerade, weil in unserer Gesellschaft die Geschlechterrollen so stark mit ungerechten Stereotypen aufgeladen sind, dass diese die Grundlage für Diskriminierung bilden können. Die daraus folgende Aufgabe ist folglich nicht, Gender Mainstreaming zu bekämpfen, sondern zu fördern. Wenn die geschlechtsspezifischen Diskriminierungen reduziert sind, ist es nicht mehr nötig, gegen Geschlechtsunterschiede zu polemisieren. Gerade an dieser Stelle können Christen mit ihrem besonderen Profil wichtig sein, denn sie verbinden beides: das Wissen um die schöpfungsgemäße Existenz des Menschen als Mann und Frau, und das Anliegen der Gerechtigkeit, die eine Frucht der Liebe und somit höchstes Gebot für alle Christen ist. (Mk 12,28ff.)