Kommt die Säkularisierung?
In modernen westlichen Gesellschaften lässt sich vielerorts ein schwindender Einfluss der Religion im öffentlichen Leben konstatieren. Ist das wirklich so? Muss das so sein? Mit diesen Zusammenhängen befassen sich verschiedene und teilweise einander wiederstreitende Modelle im Bereich der Religionssoziologie. Charlotte Bornemann hat sie zusammengefasst.
Je nachdem welchem der drei nachfolgend beschriebenen religionssoziologischen Modelle man folgt, ergeben sich andere Folgerungen für die Zukunft der Religion und den Handlungsspielraum der religiösen Anbieter.
1. Säkularisierung
Die Säkularisierungstheorie geht davon aus, dass die Religion in sich modernisierenden Gesellschaften einen sozialen Bedeutungsverlust hinnehmen muss. Dieser führt in einem generationenübergreifenden Prozess auch zu einem Glaubensverlust. Die Vertreter dieser Theorie vermuten nicht ein völliges Verschwinden der Religion. Vielmehr erwarten sie als potenziellen Endpunkt dieses Prozesses ein niedriges Niveau religiöser Vitalität, das sich über eine größere Zahl religiöser Anbieter verteilt.
Dahinter stehe ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen Religion und Modernisierung: Vernunftorientierung und soziale bzw. funktionale Aufteilung der Lebensbereiche untergraben die bisherige Deutungsmacht der Religion. Dies wird von weiteren Prozessen wie Pluralisierung, Individualisierung, Technisierung etc. noch gestützt.
Gerade das Auftreten des Protestantismus wird bei verschiedenen Säkularisierungstheoretikern als Hauptausgangspunkt dafür identifiziert. Durch die verschiedenen Spaltungen der christlichen Kirche sorgte er für wachsende Pluralisierung und die entmystifizierende Denkweise des Protestantismus beförderte einen stärkeren Rationalismus.
Neuere Theoretiker nehmen auf solche so genannte „Pfadabhängigkeiten“ Rücksicht, d.h. sie lassen in ihre Berechnungen historisch-kulturelle Eigenheiten wie z.B. erlebte politische Repression der Religion oder eine bestimmte konfessionelle Prägung eines Untersuchungsgebietes mit einfließen.
Die Säkularisierungstheorie geht davon aus, dass sich ein Bedeutungsverlust innerhalb der Gesellschaft über kurz oder lang auch negativ auf die subjektive Religiosität auswirkt. Wo weniger religiöse Handlungen praktiziert werden und damit auch die Einbindung in die sozialen Netzwerke der Religion nachlässt, führt dies in der zweiten oder dritten Generation zu einem Glaubensverlust.
2. Individualisierung
Die Anhänger der Individualisierungsthese widersprechen dieser Auffassung. Für sie ist eine gleichbleibende oder gar steigende subjektive Religiosität möglich, auch wenn sich ein Individuum aus der Kirchlichkeit verabschiedet. Dass es sich nicht länger binden wird, ist im Rahmen der Individualisierungsthese genauso wahrscheinlich wie bei der Säkularisierungstheorie, denn beide betrachten die Entwicklungen der Moderne in etwa gleich. Der Unterschied besteht darin, dass Privatisierung und Individualisierung von Religion nun eher positiv bewertet werden. Mit der möglichen Herauslösung des Individuums aus der Sozialform der Religion (=Kirche), habe es nun die Chance, eine eigene Religiosität zu entwickeln bzw. sich ein subjektiv sinnvolles System letzter Bedeutungen als Antwort auf seine letzten Fragen zusammenzustellen. Dieses „Zusammenbasteln“ könne auf vielfältige Weise geschehen und driftet teilweise in ein Terrain ab, was sich empirisch nicht mehr nachprüfen lässt (Sport, Körperpflege, Psychokulte, etc.). Die Kirchlichkeit werde also zurückgehen, aber nicht die Religiosität, denn diese gehört laut Individualisierungsthese zum Menschsein dazu. Einen Menschen, der sich keine letzten Fragen stellt oder irgendwie eine Transzendenz sucht, gäbe es letztlich nicht.
3. Religiöser Markt
Dieser Annahme einer anthropologischen Grundkonstante des Religiösen stimmt auch das Marktmodell des Religiösen zu. Es ist vor allem in den USA verbreitet. In Anlehnung an die Rational-Choice-Theorie (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Rational-Choice-Theorie) geht es davon aus, dass es einen religiösen Markt mit verschiedenen Anbietern bzw. Religionen gibt. Je weniger dieser Markt von Seiten des Staates reguliert wird, desto besser. Denn dann kann sich eine Pluralität und somit auch eine Konkurrenz entwickeln, die dazu führt, dass die immerwährende Nachfrage der Menschen nach Religion optimal bedient werden kann. Der Service der Religionsgemeinschaft und die Vermittlung von religiösem Nutzen können der Nachfrage angepasst werden. Monopolkirchen haben es nach diesem Modell besonders schwer, da sie zur Trägheit neigen und es ihnen nicht mehr möglich ist, ihren Nutzen optimal an die Masse der Gläubigen zu bringen. Diese sehen ihre Bedürfnisse nicht mehr befriedigt und wenden sich einem anderen Anbieter zu. Nur wenn die Regulierung dieses Marktes zu stark ist, werden sich die Nachfrager keinen Anbieter suchen können und dann käme es zu den Prozessen der Säkularisierung, die mit einer Lockerung des Marktes aber auch wieder umkehrbar wären.
Empirie
Welches dieser Modelle nun mehr zutrifft, lässt sich letztlich nur empirisch herausfinden. Sinnvolle Untersuchungen können aber nur mit hohem Aufwand betrieben werden, schließlich müssen politische und kulturell-historische Bedingungen genauso beleuchtet werden, wie die tatsächliche Gläubigkeit im Unterschied zu Mitgliederzahlen einer Religion und das möglichst in vielen Ländern. Es stellen sich Fragen nach einer Möglichkeit, den Grad der religiösen Pluralität zu berechnen oder ob und wie man das individuelle Religionsverständnis der Individualisierungsthese erfassen soll.
Untersuchungen, die sich dennoch an die empirische Prüfung herangewagt haben, konnten zumindest festhalten, dass das Marktmodell auf den europäischen Raum nicht zutrifft, da trotz der zugenommenen „Befreiung“ des religiösen Marktes, keine höhere Nachfrage zu verzeichnen ist. Es sind die bereits kirchlich Engagierten, die ein Interesse an religiösen Angeboten haben, nicht die, die sich abgewandt haben. Auf dem Feld der religiös Indifferenten oder gar Nichtreligiösen ließ sich kein Wachstum ausmachen. Das spricht gegen die Annahme, dass dem Menschen grundsätzlich die Nachfrage innewohnt und eher dafür, dass nur diejenigen, die religiös sozialisiert wurden, auch ein religiöses Bedürfnis haben.
Am Ende
Die Säkularisierungstheorie liefert gegenwärtig für Europa die überzeugendsten Antworten. Dies macht es wahrscheinlich, dass die offizielle Religion weiter an sozialer Bedeutung verlieren wird und die Mitgliederzahlen religiöser Organisationen weiterhin sinken werden. Das kann bei dem einen oder anderen sicher zu Verzweiflung führen. Ist es noch wahr, wenn immer weniger glauben, dass es wahr ist?
Andererseits liegt der Gewinn einer solchen Theoriebildung in der Erkenntnis, dass eben nicht pauschal eine postulierte „inkompetente Pfarrerschaft“ oder falsche Konzepte für den Mitgliederrückgang verantwortlich sind, sondern die Strukturen der Moderne.
Charlotte Bornemann