Türkei und die Religionsfreiheit
In zwei Urteilen hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ausführlich mit der Religionsfreiheit in der Türkei auseinandergesetzt und grundlegende Verbesserungen angemahnt. Geklagt hatten zum einen die Aleviten und zum anderen Jehovas Zeugen.
Aleviten
Im Urteil vom 26. April 2016 (Izzettin Dogan and Others v. Turkey; Nr. 62649/10) stellte der EGMR eine Verletzung der Religionsfreiheit der klagenden Aleviten fest, weil ihnen der Zugang zu öffentlichen Leistungen verweigert worden war, so der Zugang zu staatlicher Förderung und die Zuerkennung des Beamtenstatus für ihre religiösen Führer.
Das Amt für Religiöse Angelegenheiten (RAD) der Türkei ist offiziell eine Behörde des säkularen Staates, um die Religion der Bürger zu fördern. Faktisch sind deren Aktivitäten aber auf die Förderung des sunnitischen Islam beschränkt. Die Aleviten forderten, dass ihr Gottesdienst als öffentlicher Gottesdienst anerkannt werde, ihren Gotteshäusern „Cemevi“ der Status eines Gottesdienstortes zuerkannt werde, die religiösen Führer als öffentliche Beamte angestellt und für die alevitische Gemeinschaft Regelungen im öffentlichen Haushalt vorgesehen würden. Das wurde u.a. deshalb abgelehnt, weil das Alevitentum staatlicherseits nicht als eigenständige Religionsform, sondern als (verbotener) Sufi-Orden klassifiziert wurde. Demgegenüber betonte das Gericht das Prinzip der Selbstbestimmung religiöser Gemeinschaften. Nur den höchsten geistlichen Führern einer Religionsgemeinschaft und nicht dem Staat oder den Gerichten stehe es zu, den eigenen Glauben der Gemeinschaft zu definieren. Das in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerte Recht auf Religionsfreiheit wäre höchst theoretisch und illusorisch, wenn dem Staat zugestanden würde, den Begriff der Religionsgemeinschaften so eng zu interpretieren, dass nicht traditionelle und religiöse Minderheiten ihren rechtlichen Schutz verlieren würden. Darüber hinaus sei Art. 14 der EMRK (Diskriminierungsverbot) durch die Art und Weise verletzt, wie die staatliche Religionsbehörde den sunnitischen Islam fast vollständig vom Staat subventioniert, während die Aleviten fast vollkommen von einem vergleichbaren Status und den damit verbundenen Vorteilen ausgeschlossen seien. Dem die religiösen Konfessionen betreffende Rechtsrahmen in der Türkei fehle es an neutralen Kriterien und er sei für den alevitischen Glauben unzugänglich und daher diskriminierend.
Jehovas Zeugen
In einem anderen Verfahren hatte die „Vereinigung für Solidarität mit Jehovas Zeugen und Anderen“ gegen die Türkei geklagt. Zwei Gemeinden der Zeugen Jehovas war zunächst die Durchführung des Gottesdienstes in privaten Räumlichkeiten untersagt worden. Sodann konnten sie keine angemessenen Gebets- und Gottesdiensträume als Ersatz erhalten.
In der Türkei ist per Gesetz geregelt, dass die Eröffnung von Gottesdienstplätzen nur an Standorten erfolgen darf, die hierfür gewidmet sind. Gleichzeitig müssen Gebäude, die für Gottesdienste genutzt werden sollen, bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die faktisch von kleinen Gemeinschaften nicht erreicht werden können. Mit Urteil vom 24. Mai 2016 (Nr. 36915/10, 8606/13) sah das EGMR auch in dieser Praxis eine unzulässige Verletzung der Religionsfreiheit.
HL / EKD Brüssel, Julia Maria Eichler