Missverständnisse bei Maischberger

Wie man beim Thema „Sekten“ aneinander vorbei reden kann

Es ist gar nicht mehr so häufig, dass im deutschen Fernsehen das Thema „Sekten“ behandelt wird. In der Sendung vom 3. Januar 2006 traf eine offensichtlich gut vorbereitete Sandra Maischberger auf eine interessante Auswahl an Persönlichkeiten: Drei prominente Aussteiger, die auf langjährige Karrieren bei Scientology, den Zeugen Jehovas und den Volkstemplern zurückblicken konnten, bildeten die Fraktion der Betroffenen. Als Verteidiger der gescholtenen Sekten stieg Prof. Dr. Gerhard Besier in den Ring und seinen Contrapart übernahm der Sektenbeauftragte der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz, Pfr. Thomas Gandow.

Schlagabtausch

Gleich zu Beginn der Diskussion entbrannte die heftige Kontroverse zwischen Gerhard Besier und Thomas Gandow. Der Vorwurf an Besier lautete, dass dieser sich als neutralen Religionswissenschaftler darstellt, statt dessen hat er lautstark und deutlich Partei ergriffen, unter anderem, als er in Brüssel zur Eröffnung des dortigen EU-Lobbybüros eine warmherzige Begrüßungsrede hielt und den Kampf von Scientology um Anerkennung gelobt hat.

Besier selbst sieht seine Rolle natürlich völlig anders. Er habe lediglich als Wissenschaftler basale Fragen neu zu stellen gewagt (nämlich ob die Sekten wirklich so schlimm seien, wie es oft behauptet wird). Das sei aber in Deutschland offensichtlich nicht erlaubt, zumindest nicht bei dem Thema „kleine Religionsgemeinschaften“.

Aneinander vorbei geredet

Diese letztgenannte Formulierung von Gerhard Besier scheint eine Schlüsselrolle zum Verständnis dieser Kontroverse zu spielen. Denn ganz offensichtlich waren beide, Gandow und Besier zusammengetroffen, um über „Sekten“ zu debattieren, sprachen faktisch dabei aber jeweils über völlig verschiedene Dinge.

Pfr. Thomas Gandow argumentierte in dieser Sendung nahezu ausschließlich auf der ethischen Ebene. Es ging ihm um die Unterdrückung und Versklavung, den Verlust an Freiheit und die sozialen Folgen für das Individuum und die Gesellschaft, die von radikalisierten Gruppen wie z.B. Scientology ausgehen. Religiöse Fragen hat er dabei nicht angesprochen. Diese freiwillige Beschränkung der Argumentationsweise ist für eine Fernsehsendung im heutigen religiös pluralen Deutschland durchaus angemessen. Sie kann sowohl die authentisch berichteten und sehr realen Erfahrungen der anderen Studiogäste aufnehmen, entspricht zudem der vielfältigen Erfahrung aus Beratungssituationen in der Praxis des Sektenbeauftragten und belästigt die Fernsehzuschauer nicht mit theologischen Streitfragen, die nur innerkirchliche Bedeutung hätten.

Prof. Gerhard Besier hingegen betrachtete das Thema „Sekten“ ausschließlich religiös. Er plädierte nachdrücklich dafür, „kleine Glaubensgemeinschaften“ nicht zu diskriminieren. Wo Thomas Gandow von den Taten von Scientology sprach, sprach er ausschließlich von der Lehre. Diese empfinde er zwar als „skurril“, aber letztlich von einem rationalen Standpunkt aus nicht weniger sonderbar als die christliche Vorstellung von einem stellvertretenden Sühneopfer eines Gottessohnes. Mit dieser Argumentation verteidigte er nachdrücklich das Recht der Menschen, das zu glauben, was sie für gut und richtig halten. Das Thema der Ethik wurde bei ihm, dem Totalitarismusforscher, der - wie er in der Sendung sagte, zu „Freiheitsthemen“ schreibt, - vollständig ausgeblendet.

Worum geht es?

Auch Prof. Besier hat völlig recht, wenn er sagt, dass kleine Religionsgemeinschaften nicht diskriminiert werden dürfen, nur weil sie eben kleine Religionsgemeinschaften sind, die etwas anderes glauben als die Mehrheit. In diesem Punkt hat er sogar die Unterstützung der Kirchen, die sich öffentlich und deutlich immer wieder für Religionsfreiheit einsetzen. Wo dies in der Vergangenheit oder Gegenwart nicht ausreichend der Fall war, ist Herrn Besier durchaus beizupflichten. Nur war dies nicht das Thema der Sendung. Es ging nicht um das Schicksal der kleinen Religionsgemeinschaften der Quäker oder der Mennoniten, der Zen-Meditierenden oder der Ufo-gläubigen - wenn man diese denn mit dazu zählen will. Diese haben es genau genommen auch recht gut in Deutschland und können sich frei entfalten. In der Sendung ging es nicht um „kleine Religionsgemeinschaften“, sondern um Gruppen, die für ihre Mitglieder zur Fessel werden, egal ob religiös (Zeugen Jehovas) oder nicht (Scientology).

Was ist eine Sekte?

Umgangssprachlich definiert sich das Wort „Sekte“ nun einmal über die Abweichungen vom ethischen Wertekonsens der Gesellschaft. Das bedeutet, dass in erster Linie die Einschränkungen der modernen bürgerlichen und individuellen Freiheiten als „sektiererisch“ empfunden werden. Da hilft es nichts, wenn Thomas Gandow den Begriff „Sekte“ da heraushalten und ganz traditionell nur für innerchristliche Kontroversen um die rechte Lehre reservieren möchte. Ebensowenig hilft es, wenn Gerhard Besier für die ethischen Konsequenzen der von ihm so wacker verteidigten skurrilen Weltanschauungen völlig blind zu sein scheint. Dies ist um so verwunderlicher, da solche Freiheitseinschränkungen in totalitären Systemen eigentlich sein Forschungsschwerpunkt am Hannah-Arendt-Institut in Dresden darstellen und er selbst in der Sendung noch das Bundesverfassungsgericht mit seiner Aussage zu zitieren versuchte, dass es für die staatliche Beurteilung von Religionsgemeinschaften ausschließlich auf deren Handeln ankomme.

Unterscheidung der Ebenen

Um ein solches Chaos zu vermeiden, das aus der unklaren Begrifflichkeit in diesem Feld resultiert, ist es empfehlenswert, auf eine saubere Unterscheidung der Ebenen zu achten:

Wenn Vertreter der Kirchen begründete Kritik an dem allgemeinen Beliebigkeitspluralismus der Postmoderne üben, dann folgen sie darin ihrem ureigenen Auftrag und sollten dies auch mutig und bewusst von ihrem spezifischen religiösen Standpunkt aus tun - wohl wissend, dass dieser nicht für alle Bürger als verbindlich vorausgesetzt werden kann.

Wenn sie hingegen aus ethischer Verantwortung auf die Missstände in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen und Gruppierungen hinweisen, dann betrifft dies die ganze Gesellschaft. Dabei handelt es sich nicht um „Glaubensneid“ oder die Unterdrückung von religiösen Minderheiten, wie die von den Betroffenen regelmäßig erhobenen Vorwürfe lauten. Vielmehr zeigt sich immer wieder, dass solche Vorwürfe in der Regel dazu dienen sollen, von eben diesen kritikwürdigen Punkten und Praktiken abzulenken. Das sollte sich eine aufmerksame Gesellschaft nicht gefallen lassen.

Harald Lamprecht

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/120

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 1/2006 ab Seite 04