Streitfall Religion

Ist Sektenkritik tabu? Zur Rolle des Staates in der Auseinandersetzung um religiöse Bewegungen und konflikttächtige Gruppierungen.

Religionsfreiheit ist ein wichtiges Grundrecht. Als Freiheit, von der Mehrheitsmeinung abweichende Glaubensauffassungen vertreten zu dürfen, ist sie keine Selbstverständlichkeit. Vielen Kulturen ist sie fremd. Abgesehen von einigen Ansätzen in der Reformationszeit hat sie sich in Europa erst im Gefolge der Aufklärung herausgebildet. Wer als Christ in der DDR aufgewachsen ist, kann sicherlich die Schutzwürdigkeit einer solchen individuellen Glaubens- und Gewissensfreiheit leichter nachvollziehen als jemand, der im wesentlichen stets im Einklang mit den Grundüberzeugungen seiner Gesellschaft lebte. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden1. Dies gilt es auch in der Auseinandersetzung mit neuen religiösen Bewegungen festzuhalten und zu bewahren.

Gleichwohl geht ein solches Zusammenleben verschiedener Auffassungen nicht ohne Konflikte aus. Religionsfreiheit gilt in zwei Richtungen: passiv und aktiv. Ich habe das Recht, meine Religion auszuüben und die Freiheit, nicht zu einer mir fremden Religionsausübung gezwungen werden zu dürfen. Im Zusammenleben verschiedener religiöser Überzeugungen können beide Rechte leicht miteinender in Konflikt geraten. Ist das Kreuz im Sitzungssaal als Ausdruck der aktiven Religionsfreiheit einer Gruppe oder als ein unzulässiger Eingriff in die passive Religionsfreiheit einzelner Sitzungsteilnehmer zu werten?

Grenzen der Religionsfreiheit gibt es auch an anderen Rechtsgütern mit Verfassungsrang: Zum Beispiel könnte sich kein Satanist darauf berufen, dass ein Menschenopfer zu seiner Religionsausübung gehöre. Wo die Grenzen verlaufen, die die Religionsfreiheit und andere Auseinandersetzungen im Konfliktfeld um neue religiöse Bewegungen und Psychogruppen berühren, müssen oft die Gerichte klären.

Interessanterweise entwickelte sich ein Podium des Ökumenischen Kirchentages in Berlin, in dem es um die Möglichkeit und Grenzen staatlicher Sektenaufklärung ging, zu einem Appell für Religionsfreiheit.

Positionen

Zunächst sah alles nach einer akademischen Fachdiskussion aus. Der Leipziger Religionswissenschaftler Prof. Hubert Seiwert mahnte eine Klärung des Sektenbegriffes an und forderte einen sauberen Umgang mit der Terminologie, damit nicht die negativen Erfahrungen des Esoterik- und Psychomarktes auf sämtliche kleineren Religionsgemeinschaften projiziert würden.

Prof. Dr. Hermann Weber, der als Jurist u. a. die Zeugen Jehovas in ihrem Prozess um die Anerkennung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts vertreten hatte, stellte deutlich heraus, dass der Staat kritisieren dürfe, sich dabei aber auf weltliche Kriterien beschränken müsse. Insbesondere der sog. Osho-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes2 klärte, dass der Staat durchaus befugt ist, sich mit den Zielen und Aktionen von Weltanschauungsgemeinschaften kritisch auseinanderzusetzen. Aber er muss sich auf die Beurteilung des tatsächlichen Verhaltens beschränken und darf im Religionsstreit nicht aktiv Partei ergreifen.

Als Vertreter des EKD-Kirchenamtes stellte Prof. Dr. Axel von Campenhausen klar, dass Abgrenzung zum selbstverständlichen Bestandteil jeder kirchlichen Lehre gehört. Die Aufgabe des Staates ist dabei, die Religionsgemeinschaften vor Angriffen und Behinderungen zu schützen. Diese wiederum müssen rechtstreu sein und dürfen die Grundrechte dritter nicht gefährden. Für die staatlichen Sektenbeauftragen erläuterte Frau Erika Dohrendorf-Seel von der Sekteninformationsstelle Mecklenburg-Vorpommern ihr Selbstverständnis und ihren Arbeitsalltag, der vom konkreten Eingehen auf die Sorgen und Nöte der Ratsuchenden geprägt ist. Horizont ihrer Ausführungen waren nicht theologische Lehrfragen, sondern Aspekte des praktischen Verbraucherschutzes.

Jede Sektenkritik bewegt sich in dem Spannungsfeld zwischen religiösem Verbraucherschutz und religiösem Minderheitenschutz, erklärte Dr. Hansjörg Hemminger, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Württemberger Evangelischen Landeskirche. Angeblicher Minderheitenschutz ist praktisch oft getarnte Kirchenkritik. Wer zählt denn, wie oft die Kirchen oder der christliche Glaube angegriffen und in den Schmutz gezogen werden? Wenn die Kirchen die gleiche Empfindlichkeit gegenüber Kritik an den Tag legen würden, wie manche kleinen Religionsgemeinschaften, würde sich manches anders darstellen.

Sekten sind gefährlich

Nachdem auf dem Podium eine gewisse Einmütigkeit in dem Anliegen eines differenzierten Umgangs mit den Problemen hergestellt war, erhob sich in der Diskussion „die Stimme des Volkes“ mit Macht und brachte kritische Lebenserfahrungen ein. „Sekten sind gefährlich!“ so der engagierte Ausruf der ersten Wortmeldung, dem die ganze Diskussion zu akademisch und die staatlichen Samthandschuhe für die Sekten falsch erschien. Immer wieder wurde aus dem Publikum die Forderung nach stärkerer Grenzziehung erhoben, auch die Verantwortung des Staates in der Fürsorge und in der Gefahrenabwehr eingefordert. Angesichts konfliktreicher Alltagsbegegnungen war es für die Teilnehmer offenbar schwierig, die mehrheitlich zurückhaltenden Voten des Podiums nachzuvollziehen.

Saubere Unterscheidung

Die Stimmen aus dem Publikum waren wichtig, denn sie machten deutlich, dass auch die staatlichen Stellen eine Verantwortung für das Wohl der Bürger haben. Darum braucht es Regelungen, um Täuschung und Betrug, Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen zum persönlichen Vorteil und andere unlautere Methoden wirksam zu unterbinden. Aufklärung und Verbraucherschutz sind in Deutschland im Lebensmittelbereich beispielhaft weit entwickelt, auf dem Psychomarkt aber fast nicht vorhanden. In dieser Beziehung besteht ein großer Nachholebedarf. Deutlich sprach sich auch Prof. Seiwert für die Einrichtung staatlicher Stellen für Verbraucherschutz in der Lebenshilfe aus. Ein Gesetz zur Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe, wie es die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu „Sog. Sekten und Psychogruppen“ angemahnt hatte, steht noch aus. Es ist aber sehr wichtig, um zu einer größeren Transparenz in diesem Bereich zu kommen. Wichtig ist: es geht bei diesen vorgeschlagenen Regelungen darum, den Bürgern die Möglichkeit zu einer wirklich freien Entscheidung zu geben, nicht darum, bestimmte Glaubensrichtungen oder Therapieformen zu verbieten. So richtig und wichtig wie Verbraucherschutz und Aufklärung auf diesem Gebiet sind, so zurückhaltend sollte man dennoch mit dem Ruf nach mehr staatlicher Gewalt sein. Jeder staatliche Eingriff bedeutet ein Einschreiten gegen seine Bürger. Ein freies Land ist dadurch gekennzeichnet, dass es seinen Bürgern auch unangepasste Lebensweisen gestattet. Dazu gehört unabdingbar auch die Freiheit des religiösen Bekenntnisses. Wer an dieser Stelle voreilig zu Einschränkungen bereit ist, kann auch selbst bald zu den Eingeschränkten gehören. Religionsfreiheit für alle kann es nur geben, wenn sie auch für alle gilt. Darin waren sich Religionswissenschaft (Prof. Seiwert) und EKD (Prof. v. Campenhausen) einig. Natürlich darf sie nicht missbraucht und als Feigenblatt zur Bemäntelung anderer Aktivitäten benutzt werden, wie es z. B. durch die Scientology-Organisation oft geschieht. Aber die Kritik am Missbrauch von Religion darf nicht dazu führen, Religion überhaupt als etwas suspektes und gefährliches anzusehen. Eine saubere Unterscheidung beider Ebenen ist darum extrem wichtig: die theologische Auseinandersetzung mit anderen Glaubensauffassungen, die Frage nach der Wahrheit in der Religion, ist für die Kirchen unverzichtbar. Bei der Aufklärung über die sozialen Folgen bestimmter - auch religiöser - Orientierungen, ist auch der Staat in der Pflicht.

Harald Lamprecht

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2003 ab Seite 11