Die soziale Verantwortung der Kirchen
Die Evangelisch-methodistische Kirche hat es vorgemacht: Bereits vor 100 Jahren beschloss sie ein soziales Bekenntnis, welches in seiner Konkretion und seiner deutlichen Sprache bis heute seinesgleichen sucht. Das Tragische daran ist: Die Forderungen der Bischöflichen Methodistenkirche aus dem Jahr 1908 sind fast alle auch noch heute, 100 Jahre später, genauso brennend aktuell. An der sozialen Situation, an der Not der Menschen, welche die geistliche Leitung der methodistischen Kirche zu diesem eindringlichen Text motivierte, hat sich trotz vieler Bemühungen im Grundsatz kaum etwas gebessert. Auch wenn der Lebensstandard insgesamt für viele Menschen durchaus höher ist, als vor 100 Jahren, ist das soziale Gefälle und die damit verbundene ungerechte Ausbeutung nicht grundlegend anders.
Marktfundamentalismus
Die Feuilletons der Zeitungen thematisieren immer wieder, dass die Schere zwischen Armen und Reichen sich weiter öffnet, dass die Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft zunehmen, dass die sozialen Sicherungssysteme an ihre Grenzen stoßen. Die Globalisierung ist in diesem Zusammenhang oft zu einem Schreckwort geworden, weil die neuen wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten, die neu erschlossenen Märkte und die Entgrenzung der Finanzströme nach den bisherigen Erfahrungen nur wenige Gewinner, aber viele Verlierer hervorgebracht haben.
Eine wesentliche Rolle scheint dabei der Marktfundamentalismus zu spielen. dieser Begriff bezeichnet das Streben nach einer Beseitigung möglichst aller Steuerungs- und Kontrollfunktionen des Marktes (oft beschönigend als „Liberalisierung“ bezeichnet) und beruht auf dem mit dogmatischer Gewissheit verkündeten Glaubensbekenntnis, dass der Markt sich selbst reguliere. Dieses Grunddogma eines ungebremsten Kapitalismus behauptet, dass dem Gemeinwohl am besten gedient werde, wenn alle Beteiligten ihren Eigeninteressen folgen. Allerdings hat die Praxis gerade in jüngster Zeit wieder mit großer Deutlichkeit gezeigt, dass es so schlicht eben doch nicht funktioniert und dass mehr persönlicher Wohlstand Einzelner nicht zwangsläufig mit einem besseren Gemeinwohl gekoppelt ist, sondern oft zu dessen Lasten erwirtschaftet wurde. Mangelnde Nachhaltigkeit und mangelnde Verantwortung wirken sich gleichermaßen verheerend aus.
Dahinter liegen komplexe gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse und Verflechtungen. Wo es keine einfachen Ursachen gibt, helfen auch keine einfachen Lösungen. Das bedeutet aber nicht, dass es gar keine Lösungen gäbe und man die absehbaren höchst konfliktreichen Entwicklungen widerspruchslos als gleichsam unvermeidlich hinnehmen müsste. Statt dessen ist Engagement auf den verschiedenen Ebenen der bürgerschaftlichen und demokratischen Mitbestimmung nötig und möglich. Das Niveau einer Zivilisation entscheidet sich nicht zuletzt daran, ob die geltenden Mechanismen und Regularien es schaffen, die produktive Entfaltung möglichst aller ihrer Mitglieder zu gewährleisten. Auch eine Horde Raubtiere hat ihre Struktur und Regeln, wobei aber Macht und Einflussmöglichkeiten sehr ungleich verteilt sind und die Stärke über das Recht bestimmt. Eine zivilisierte Gesellschaft, die dem Gemeinwohl dient, ist daran erkennbar, dass das Recht die Stärke hat, auch den (wirtschaftlich) Starken zu binden. Diese Einflussmöglichkeiten der Politik auf die Mechanismen des Wirtschaftslebens scheinen gegenwärtig immer mehr im Schwinden begriffen. Namhafte Wissenschaftler erheben warnend ihre Stimmen und weisen auf die Konsequenzen hin, welche die gegenwärtigen Entwicklungen haben.
Zukunftszenarien
Das Konfliktpotenzial der Zukunft, welches die Welt bei einem ungebremsten Fortschreiten der gegenwärtigen Entwicklung erwartet, hat Prof. Franz Josef Radermacher, Mitglied des Club of Rome, bei einem Diskussionsforum der CDU-Fraktion des sächsischen Landtages am 14. 5. 2008 in Dresden eindrücklich skizziert. Das Anwachsen der Weltbevölkerung und das Hineinwachsen von Millionen Menschen in ressourcenintensive Lebensstile ist unverkennbar. Damit gehen gewaltige Umweltbelastungen einher, weil ökologisch nachhaltiges Handeln bislang als Luxus der reichen Länder erschien. Als größtes Problem schilderte er die Entgrenzung des Finanzsektors, wo Macht nicht mehr mit Verantwortung gekoppelt ist und Geld unkontrolliert um den Globus vagabundiert. Auf der Suche nach immer höheren Renditen kommt zu einer Ausplünderung des Mittelstandes, dem Rückbau der Sozialsysteme in den reichen Ländern durch die rückläufigen Steuereinnahmen und letztlich zu einer „Brasilianisierung“ der Gesellschaft (Verarmung von 80% der Bevölkerung zugunsten einer kleinen Luxusklasse). Diese Entwicklungen erzeugen massiven Hass, verstärken global die Bedrohung durch Terror und Gegenterror und führen zu einem Ausfransen der Demokratie an ihren Rändern. Große Teile der Humanpotenziale auf dem Globus werden nicht voll entwickelt und viele Menschen und Kulturen werden in die Zweitklassigkeit gebracht und dort eingemauert. Für die Zukunft ergeben sich drei mögliche Szenarien:
a) Weiter wie bisher: dann wird schon in 20-30 Jahren wird dieses System die ultimativen Grenzen der Naturbelastbarkeit erreichen und zum Kollaps führen, weil die Kämpfe um die verbliebenen Ressourcen exorbitante Kosten verursachen.
b) Ressourcendiktatorische Sicherheitsregime: Wahrscheinlicher wird bei sich zuspitzender Lage die „reiche Welt“ die Ressourcennutzung deutlich begrenzen, indem durch den Einsatz massiver militärischer und anderer Macht der ärmeren Welt die Entwicklung erschwert wird. Dies führt zwangsläufig zu einem Verlust an demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten auch der Menschen in den reichen Ländern, denn diese asymmetrische Struktur erzeugt Ablehnung, Hass und Terror. Zu deren „Abwehr“ kommt es zum Rückbau der Bürgerechte und zu immensen Kosten für den „Heimatschutz“.
c) Ökosoziale Marktwirtschaft: Als Ausweg beschrieb Prof. Radermacher das Konzept einer ökosozialen Marktwirtschaft. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Global Marshall Plan Initiative, die ein tragfähiges Programm für einen neuen Anfang auf weltpolitischer Ebene darstellen soll (www.globalmarshallplan.org). Diese Initiative setzt sich für ein verbessertes und verbindliches globales Rahmenwerk für die Weltwirtschaft ein, das die Wirtschaft mit Umwelt, Gesellschaft und Kultur in Einklang bringt. Sie ist auch nach Ansicht ihrer Kritiker derzeit der ambitionierteste Versuch, eine soziale Balance auf weltweiter Ebene herzustellen. Dabei ist die Global Marshall Plan Initiative keine völlige Neuerfindung, sondern in erster Linie ein konkretes Bemühen darum, dass die Milleniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern in die Realität umgesetzt werden. Diese Ziele wurden im Jahr 2000 beschlossen und von 191 Staaten unterzeichnet:
- Extreme Armut und Hunger beseitigen
- Grundschulbildung für alle Kinder gewährleisten
- Gleichstellung der Frauen fördern
- Kindersterblichkeit senken
- Gesundheit der Mütter verbessern
- HIV/Aids, Malaria und andere Krankheiten bekämpfen
- Ökologische Nachhaltigkeit gewährleisten
- Eine globale Partnerschaft für Entwicklung aufbauen
Der Global Marshall Plan befasst sich damit, wie diese Ziele erreicht und der Weg dahin finanziert werden kann, denn er geht davon aus, dass faire Wettbewerbsbedingungen auf dem ganzen Globus langfristig zu einem insgesamt besseren Lebensstandard führen können - auch in den jetzigen Industrienationen. Das Ziel ist nicht das Bekämpfen der Globalisierung, sondern ihre aktive Gestaltung im Sinne eines besseren Lebens für alle Menschen.
Methoden und Aktivitäten
Die Initiative des Global Marshall Plans arbeitet zeitgleich in zwei Richtungen. Auf der unteren Ebene geht es darum, möglichst vielen Menschen diese Perspektive für eine gerechtere Welt bekannt zu machen. Auf diese Weise kann ein politischer Wille zur Veränderung in der Mitte der Gesellschaft entstehen. Eine solche Bewusstseinsbildung braucht vor allem viele Unterstützer, die in ihrem Umfeld auf die Probleme und ihre möglichen Lösungen hinweisen. Parallel dazu werden Entscheidungsträger auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene in direkter Ansprache für die Unterstützung gewonnen.
Rolle der Kirchen
Die Evangelisch-methodistische Kirche hat mit ihrem sozialen Bekenntnis bereits vor 100 Jahren demonstriert, dass wirtschaftliche Fragen ein Anliegen der Kirchen sein können und müssen. Das Engagement für die Not des Nächsten hat Jesus selbst als Prüfstein für die Gottesliebe bezeichnet. Die Kirchen haben darum die Aufgabe, auf verschiedenen Ebenen die sozialen Belange der Menschen immer wieder zur Sprache zu bringen. Dies geschieht einerseits individuell in dem Appell an das Gewissen derjenigen, die Entscheidungsprozessen vorstehen. Dies geschieht ferner indem die Kirchen Hinweise und Normen für unternehmerisches Handeln vorgeben, das sich an der Botschaft des Evangeliums orientiert. In diesem Zusammenhang hat die EKD kürzlich in einer eigenen Denkschrift über „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ ihr Verständnis von der Verantwortung der Wirtschaftsunternehmen für die Gestaltung der Gesellschaft formuliert. Dort argumentiert auch die EKD dafür, die Leitlinien der Sozialen Marktwirtschaft Schritt für Schritt weltweit tragfähig zu machen und damit eine gerechte Teilhabe aller zu ermöglichen. Die Einhaltung von nachhaltigen Sozial- und Umweltstandards wird als wesentliche gesellschaftliche Aufgabe für die Unternehmen beschrieben, welche damit langfristig auch ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern.
Fazit
Die sozialen Verwerfungen der Gegenwart sind eine tickende Zeitbombe. Die Empfänglichkeit für rechtsextreme Propaganda kann man zum Teil auch als einen Versuch verstehen, dieser gefühlten Hoffnungslosigkeit zu entkommen. Es ist ein Weg in die falsche Richtung, aber Jugendliche brauchen Aktionen, sie wollen nicht tatenlos zusehen, wie alles schlimmer wird. Wenn „das System“ auf den Abgrund zurast, dann wollen sie wenigstens nicht im Wagen sitzen, sondern der Karre von außen noch einen Tritt verpassen.
Das praktische Engagement für veränderte politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen im Sinne einer ökosozialen Marktwirtschaft ist in jedem Fall die bessere Alternative. Der christliche Glaube fordert Engagement für den Nächsten. Hier gibt es eine Perspektive mit realistischer Hoffnung auf eine bessere Zukunft.