Evanglikale und Fundamentalisten
Die Veranstaltung „Pro Christ“ 2009 war ein Medienevent. Die Veranstaltungen wurden aus Chemnitz in über 1000 andere Orte übertragen. Die Medien haben darüber berichtet – wenngleich nicht immer im Sinn der Veranstalter. Einige Beiträge im Vorfeld nahmen Pro Christ zum Anlass, um sich in kritischer Perspektive mit dem Verhältnis von Evangelikalismus und Fundamentalismus zu befassen.
Falsche Gleichsetzung
Immer wieder kommt es in der Medienberichterstattung zu pauschalen Gleichsetzungen: „Evangelikale“ sind „Fundamentalisten“. In der Regel wird diese Behauptung begleitet von einer sorgenvollen Stimmung, die einen wachsenden Einfluss dieser „fundamentalistischen Evangelikalen“ auf die deutsche Gesellschaft zu beobachten meint und vor amerikanischen Verhältnissen warnt. Diese sieht man gekennzeichnet durch einen spürbaren Einfluss religiös-fundamentalistischer Gruppen auf die Politik, was zu einer Politisierung der Religion und zu einer religiösen Aufladung der Politik führt.
Eine solche pauschale Gleichsetzung von evangelikaler Bewegung und Fundamentalismus ist falsch. Auch der Bezug auf die USA ist nur sehr bedingt richtig, denn die Wurzeln der evangelikalen Bewegung liegen im deutschen Pietismus.
Pietistische Wurzeln
Die Mehrzahl der sogenannten „Evangelikalen“ in Deutschland sind eigentlich Pietisten und entstammen einer europäischen Frömmigkeitstradition, die in Deutschland beheimatet und folglich zutiefst mit dieser Kultur verwoben ist. Aus dem Pietismus sind viele Impulse hervorgegangen, welche nicht nur die europäische Geistesgeschichte geprägt und integraler Bestandteil evangelischer Glaubensweise geworden sind, sondern auch viele bis heute wegweisende soziale Projekte initiiert haben: Der norddeutsche Pietist Johann Hinrich Wichern (1808-1881) gründete Waisenhäuser und den Central-Ausschuss für Innere Mission, aus dem die Diakonie als Sozialwerk der Evangelischen Kirche hervorgegangen ist. In Halle gründete August Hermann Francke das Waisenhaus, welches sich zu den Franckeschen Stiftungen weiter entwickelte und soziale Verantwortung mit Bildungsprogrammen verknüpfte. In Herrnhut gründete Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf die Herrnhuter Brüdergemeine, die nicht nur mit der Herausgabe der Losungen das Gebetsleben von Millionen Christen bereicherte, sondern auch mit der Entsendung von Missionaren den Grundstein für die Entstehung vieler einheimischer Kirchen in Afrika und Asien legte. All diese Impulse sind durchdrungen von einer tiefen inneren Christusbeziehung, die aber nicht als engstirnige Rechthaberei, sondern als soziale Verantwortung für die Gesellschaft nach außen tritt. Diese gesellschaftliche Verantwortung ist nicht unpolitisch. Francke hat in Halle das Paedagogium Regium als Fürstenschule eingerichtet, um durch Erziehung der künftig Regierenden die gesellschaftlichen Verhältnisse zu bessern. Aber es geht diesen Impulsen nicht um eine vordergründige Meinungsführerschaft, sondern um Besserung des sozialen Elends durch eine Erneuerung der Gesellschaft von innen aus christlichem Geist.
Amerikanischer Baptismus und Pfingstbewegung
Die gegenwärtige evangelikale Bewegung in Deutschland lebt aus diesen pietistischen Wurzeln. Zu dieser Verwurzelung gehört auch, dass sie ihrem Wesen nach innerhalb der evangelischen Kirche angesiedelt ist. Es ist eine neuere Entwicklung und ein Abstandnehmen von den pietistischen Wurzeln, dass sich evangelikales Selbstverständnis zunehmend auch freikirchlich artikuliert und mit einer absetzenden Kritik an den Landeskirchen verbindet.
Darin könnte man nun in der Tat gewisse Einflüsse des amerikanischen Baptismus erblicken, vor allem der „Südlichen Baptisten“, die in ihrer extrem konservativen Prägung sogar die Gemeinschaft im Baptistischen Weltbund aufgekündigt haben. Auch aus der Pfingstbewegung kommen manche Einflüsse in die evangelikale Bewegung und überwinden den durch die Berliner Erklärung (1909) gezogenen Graben (vgl. Confessio 1/2009, 4-9).
Glücklicherweise betreffen separatistische Tendenzen aber eher Randbereiche. Die breite Masse ist nach wie vor dem pietistischen Erbe verpflichtet und lebt aus ihm – und das in großer Freiheit und Vielfalt. Die evangelikale Bewegung ist vielgestaltiger, als das ihre Wortführer gelegentlich suggerieren. Mit den angstverzerrten Bildern einer geschlossen fundamentalistisch geprägten und auf politischen Einfluss zielenden Organisation hat die gegenwärtige evangelikale Bewegung in Wirklichkeit wenig zu tun.
Definitionsversuche
Klar abgrenzende Definitionen sind deshalb schwierig, weil es verschiedene Überschneidungen zu berücksichtigen gibt.
Der Pietismus ist davon geprägt, dass christlicher Glaube in erster Linie von einer innerlichen persönlichen Beziehung zu Jesus Christus als Erlöser lebt. Diese persönliche Frömmigkeit erscheint wichtiger als dogmatische Rechtgläubigkeit, denn es nützt nichts, formal das richtige Bekenntnis zu haben, wenn der Glaube nicht persönlich gelebt wird.
Dieses pietistische Erbe ist wie beschrieben in gleicher Weise Basis der evangelikalen Bewegung, weshalb die Begriffe gelegentlich auch synonym verwendet werden. Als weiterer Aspekt tritt bei der evangelikalen Bewegung noch die Betonung einer besonderen Bibeltreue in Absetzung von liberalen theologischen Interpretationen hinzu. Der Bezug auf die Bibel als Grundlage des Glaubens ist selbstverständlich auch beim Pietismus grundlegend, lediglich die Spitze gegen liberale Auffassungen ist dort nicht so stark ausgeprägt.
Die Pfingstbewegung wiederum ist in weiten Teilen eine Verbindung mit evangelikalen Positionen eingegangen und übernimmt die Betonung der persönlichen Glaubensentscheidung sowie ein antiliberales Bibelverständnis, kommt in Bezug auf den Heiligen Geist aber zu stark abweichenden Aussagen, welche dann auch die Lebenswirklichkeit in Pfingstgemeinden anders prägen.
Gefahr des Fundamentalismus
Teile der evangelikalen Bewegung und der Pfingstbewegung sind in unterschiedlicher Weise gefährdet, in einen negativ verstandenen Fundamentalismus zu kippen. Die Beziehung auf die Bibel als Fundament des Glaubens macht noch keinen Fundamentalismus aus, denn dies verbindet alle Kirchen. Auch die Auffassung, dass die durch Christus erworbene Erlösung für alle Menschen gilt und folglich auch Angehörigen anderer Religionen verkündigt werden soll, ist kein Kennzeichen des Fundamentalismus, wie man es gelegentlich fälschlich lesen oder hören kann, sondern ein Anliegen der Kirche von Anfang an (Mt. 28. 19).
Fundamentalismus entsteht dort, wo die Vielfalt der Auslegungsmöglichkeiten der Bibel geleugnet wird. In reduktionistischer Weise soll die Eindeutigkeit religiöser Grundentscheidungen auf den Bereich der Ethik, der Moral, der Wissenschaft, der Politik etc. ausgedehnt werden. Die Folge davon ist, dass die Vielfalt und Mehrdeutigkeit des Lebens auf im Extremfall nur noch einen möglichen Entwurf reduziert wird. Dieser wird dann mit vermeintlich göttlicher Autorität als verbindlich propagiert. Dass viele Aussagen im Bereich von Ethik, Wissenschaft und Politik immer nur relativ wahr sind und Veränderungen unterliegen, wird nicht ausgehalten. Fundamentalisten suchen auch dort nach Eindeutigkeit und göttlich verbürgter ewiger Gültigkeit für ihre Überzeugungen. Diese finden sie vermeintlich in der Bibel (= evangelikal), dem kirchlichen Lehramt/der Tradition (= katholikal), dem Heiligen Geist (= pfingstlich) oder dem Koran (= islamistisch) bestätigt. Das weltweite Anwachsen des Fundamentalismus ist in diesem Sinn als Reaktion und Begleiterscheinung der postmodernen Ausdifferenzierungsprozesse zu verstehen, welche große Verunsicherungen und damit eine neue Suche nach Sicherheit auslöst.[1]
Ursachen der Kritik
Falsch ist eine pauschale Aburteilung aus solcher Ferne, welche die inneren Unterschiede nicht zu sehen vermag. Wo die Evangelische Allianz für die theologischen Auswüchse höchst konfliktträchtiger Pfingstgemeinden in Sippenhaft genommen werden soll, hat die journalistische Sorgfalt versagt. Manche Kritik resultiert aus solchem mangelnden Unterscheidungsvermögen. Aber gilt das für alles? Gibt es nicht auch berechtigte Anliegen und Sorgen, die sich in diesen Berichten äußern? Haben nicht manche Vertreter der evangelikalen Bewegung nicht doch zumindest insofern eine Mitschuld an der Kritik, dass sie sich nicht erkennbar genug von manchen problematischen Tendenzen in den eigenen Reihen abgrenzen?
Themen der Kritik
In Chemnitz wurden die Bürgermeisterin und die Sparkasse von der Linksfraktion im Stadtrat für ihre Unterstützung von Pro Christ öffentlich kritisiert.[2] Die Argumente betrafen nicht direkt Pro Christ, sondern drei Themenfelder aus dem Grenzbereich zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus, die in diesen Diskussionen immer wieder in ähnlicher Weise genannt werden. Folglich wäre es lohnend, auch von evangelikaler Seite insbesondere den Umgang mit diesen Themen selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen.
a) Homosexualität: Die Ablehnung von Homosexualität als „Sünde“ führt in evangelikalen Kreisen oft zu einem stark Druck ausübenden Verhalten gegenüber Menschen mit homosexueller Orientierung. Von der Organisation „Wüstenstrom“ angebotene Seminare zur sexuellen Identitätsfindung werden von Medien und Homosexuellenverbänden als grundgesetzwidriger Angriff auf die Freiheit der Individualität hochgepuscht. Nach dem Streit um das Wüstenstrom-Seminar beim Christival werden nun auch Veranstaltungen wie Pro Christ, die nichts mit dem Thema zu tun haben, mit solchen Argumenten angegriffen.
Für die evangelikale Bewegung und alle ihr nahestehenden Christen wäre es wichtig zu fragen, ob die eigenen Prioritäten in diesem Bereich richtig verteilt sind. Jesus selbst hat nie über Homosexualität gesprochen, aber - um nur ein Beispiel zu nennen - mehrfach über die Gefahren des Reichtums. Die individuellen und gesellschaftlichen Folgen mangelnder Verantwortung („Sünde“) in diesen Bereichen stehen uns mit der Wirtschaftskrise erschreckend deutlich vor Augen. Es entspricht in keiner Weise dem biblischen Vorbild, individuelle Sexualmoral stärker zu thematisieren als die soziale Verantwortung, die aus Macht und Besitz erwächst. Zudem muss gefragt werden, ob die Vorrangstellung der bedingungslosen Liebe, welche das Herzstück des Evangeliums darstellt, nicht in dieser Frage oft sträflich vernachlässigt wird.
b) Mission und interreligiöser Dialog: Missionsabsicht und missionarische Unternehmungen an sich sind kein Merkmal des Fundamentalismus, sondern eines jeden lebendigen Glaubens. Wo die an sich legitime Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Religion aber dahin mündet, dass man andere Religionen nur noch in angstverzerrter und polemisch überzeichneter Perspektive wahrnehmen kann, zeigt sich ein mangelndes Zutrauen in die Überzeugungskraft des eigenen Glaubens. Die undifferenzierte und ausgrenzende Islamfeindschaft in manchen evangelikalen Kreisen ist nicht nur sachlich unangemessen, sondern wirft auch ein schlechtes Licht auf das Christentum. Dass auch gerade pietistisch geprägte Christen aus der Grundlage ihres Glaubens heraus einen offenen und gewinnenden Umgang mit Vertretern anderer Religionen haben können, beweist die Geschichte der Herrnhuter und der Hallischen Mission sehr eindrücklich.
c) Kreationismus und Evolution: Mit Staunen und Sorge betrachtet mancher gerade im „Darwinjahr“ 2009 den wieder neu erwachten Kulturkampf um den Biologieunterricht. Alle christlichen Kirchen glauben und bekennen nachdrücklich, dass diese Welt und alles in ihr die Schöpfung Gottes ist. Das Missverständnis des ersten Schöpfungsberichtes in 1. Mose 1,1-2,4 als Festlegung dieses Geschehens auf ein Werk in buchstäblichen 7 Erdentagen (= „Kurzzeit-Kreationismus“) im Sinne eines naturwissenschaftlichen Berichtes verkennt den Charakter des biblischen Textes und wird blind für seine theologischen Aussagen. Bereits der zweite Bericht 1. Mose 2, 5-25 weiß nichts von den sieben Tagen. Diese dienen im Text selbst nicht der Begründung einer Alternative zur Evolutionstheorie, sondern des Sabbats. Wo evangelikale Christen ihre Energie in den Einsatz für die Erhaltung des Sonntages als Feier- und Ruhetag investieren, sind sie wahrhaftiger „bibeltreu“, als wenn sie kreationistische Kampagnen starten, die kaum etwas anderes erreichen, als viele nachdenkliche Menschen vom christlichen Glauben fern zu halten.
Die beste Reaktion auf Kritik ist es, sie konstruktiv aufzunehmen und nach Möglichkeit ihre Ursachen abzustellen. Eine unduldsame Rechthaberei, welche sich aus fundamentalistischer Engstirnigkeit speist, passt nicht zu der Freiheit eröffnenden Begegnung mit Jesus Christus.
[1] Ausführlicher dazu: Hansjörg Hemminger: Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart 1991
[2] Freie Presse vom 31. 3. 2009