Vom Märtyrer zum Seligen

Das Verfahren zur Seligsprechung von Alois Andritzki

Deutschland, Herbst 1942. Die Nationalsozialisten wollen den alleinigen Zugriff auf die Jugend. Der junge röm.-kath. Kaplan an der Dresdner Hofkirche betreibt eine aktive Jugendarbeit. Zu dem sportlichen Typ mit künstlerischer Ader kommen die Jugendlichen gern. Er hat großen Zulauf – und damit ist er den Nazis im Weg. In einem fiktiven Verfahren kommt er zusammen mit anderen Jugendseelsorgern der Kirchen in das Konzentrationslager Dachau. Dort erkrankt er an Typhus. Es wird überliefert, dass ein Lagerverantwortlicher auf den Wunsch nach einem Seelsorger geäußert habe „A Pfaffn will er? A Spritzn kriegt er!“ Mit nur 29 Jahren stirbt er dort, wobei geschichtlich nicht mit letzter Sicherheit zu erheben ist, ob an den Lagerbedingungen oder an einer Giftspritze. Aus dem Bistum Dresden-Meißen kamen in dieser Zeit drei Priester in Dachau zu Tode: neben Alois Andritzki noch der Jugendseelsorger Bernhard Wensch und der Leutersdorfer Pfarrer Alois Scholze. Ihre Urnen werden nach Dresden überführt und auf dem alten katholischen Friedhof beigesetzt.

Nach dem Krieg war Bernhard Wensch in Dresden in hoher Verehrung. Die Sorben behielten hingegen Alois Andritzki als einen der Ihren in besonderer Erinnerung. Seit den 1980er Jahren wird von sorbischer Seite aus ein Verfahren zur Seligsprechung von Andritzki angeschoben. Es wurden in Dachau Nachforschungen angestellt und 1988 das offizielle Verfahren eröffnet. 2009 fiel das Urteil der Theologenkommission, die über Seligsprechungen zu befinden hat: Der Tod von Alois Andritzki war ein Martyrium für den Glauben. Damit ist der Weg zur Seligsprechung frei, sofern Kardinalskollegium und Papst dem zustimmen.

Ein möglicher Reliquenkult um die Überreste steht vor dem Problem, dass die Asche aus Dachau nicht individualisierbar ist. In der Priestergruft des Dresdner Friedhofes waren die Urnen zwar mit einer vierstelligen Nummer versehen, allerdings ist das Verzeichnis der Nummern in Dachau verschollen. Darum müssen die Urnen gleichbehandelt werden. Es ist geplant, sie am 6. Februar 2011 in einer Prozession in die Katholische Hofkirche in Dresden zu überführen. Die eigentliche Seligsprechung ist für den Pfingstmontag 2011 vorgesehen. Diese Vorgänge waren für die AG Catholica des Evangelischen Bundes Sachsen ein Anlass, sich näher mit dem Verfahren der Selig- und Heiligsprechung und der daraus folgenden Bedeutung für die evangelische Kirche zu befassen.

Bedingungen

Wenn eine Person zum Seligen oder Heiligen erklärt werden soll, so sind eine Reihe von Bedingungen zu erfüllen.

Das Leben der Person soll in besonderer Weise zeigen können, wie Gott in ihm gewirkt hat. Dazu gehört in der Regel der Nachweis eines Wunders. Bei Märtyrern gilt das Lebenszeugnis, dass ein Mensch die Kraft hatte, den Glauben mit dem eigenen Tod bezeugt zu haben, als Wunder. Ferner gehört zumindest bei Heiligen der Nachweis einer Gebetserhörung dazu.

Seit dem Tod der Person muss es eine wenigstens regionale ununterbrochene Verehrung gegeben haben.

Bedeutung

In Bezug auf die theologische Bedeutung Selig- und Heiligsprechungen gibt es durch verschiedene Ausschmückungen der Volksfrömmigkeit zahlreiche Missverständnisse. Grundsätzlich ist es so, dass mit der Selig- bzw. Heiligsprechung Glauben Ausdruck verliehen wird, dass diese Person von Gott in Gnaden angenommen wurde. Das bedeutet nicht, dass sie ein völlig makelloses Leben geführt haben muss, wohl aber, dass ihrem Leben besondere Zeichen des Glaubens erkennbar sind. In diesem Sinn hat die erste Seligsprechung bereits Jesus am Kreuz vorgenommen, indem er dem mit ihm gekreuzigten Verbrecher auf seinen Glauben hin die Aufnahme ins Paradies zusagte (Lukas 23,43). Ein Seliger gilt als sofort beim himmlischen Vater aufgenommen und nicht im Fegefeuer oder anderswo noch darauf wartend.

Daraus folgt als wichtigste Erkenntnis, dass die Heiligsprechung nicht den Heiligen erst erzeugt, sondern lediglich feststellt, dass die betreffende Person nach Meinung der kirchlichen Autorität diesen Status bereits besitzt. Es kann also bei Gott in der Gemeinschaft der Heiligen durchaus noch zahlreiche andere Heilige geben, bei denen es im Leben nur niemandem aufgefallen ist. Aber bei den Heiliggesprochenen ist sich die Kirche sicher, dass sie es sind. Die Wirkung dieses kirchlichen Rechtsaktes bezieht sich folglich nicht auf die jenseitige, sondern allein auf die diesseitige Ebene. Die Selig- bzw. Heiligsprechung erhebt die betreffenden Personen „zur Ehre der Altäre“. Das bedeutet, dass sie nach röm.-kath. Lehre von den Gläubigen auch um Fürbitte angerufen werden dürfen.

Verfahren gegen den Wildwuchs

Jahrtausendelang ging dies auch ohne ein solches Verfahren und geschah durch die faktische Verehrung des Volkes. Das Verfahren hat den Sinn, diese Verehrung zu ordnen und damit in bestimmten Fällen eine solche Anerkennung eben auch zu verweigern. Einer übergroßen und unkritischen Verehrung von Personen problematischer Wirkung soll damit ein Riegel vorgeschoben werden können. Darum gehören die Auflagen und Prüfungen unverzichtbar zum Verfahren dazu. Von evangelischer Seite wäre zu fragen, ob die Kriterien dafür angemessen sind und was z.B. die zwanghafte Forderung nach einem Wunder bringt. Wunder sind kein Maß für Heiligkeit. Es kann wundersame Ereignisse auch bei unheiligen Personen geben und Heilige ohne Wunder. Das krampfhafte Suchen nach einem Wunder z.B. bei Papst Johannes Paul II. kann zu peinlichen Situationen führen.

Selige und Heilige

Zwischen einem Seligen und einem Heiligen besteht dabei kein Unterschied in dem Maß der Heiligkeit. Auch wenn eine vorangegangene Seligsprechung die Voraussetzung einer späteren Heiligsprechung ist, so sind diese nicht Heilige erster und zweiter Klasse. Der Unterschied besteht vielmehr in dem Radius ihrer Verehrung: Während Heilige in der gesamten Weltkirche verehrt und um Fürbitte angerufen werden dürfen, gilt dies bei Seligen nur in dem jeweiligen Bistum. Deshalb werden Heiligsprechungen auch vom Papst selbst, die Seligsprechungen jedoch normalerweise vom zuständigen Ortsbischof vorgenommen.

Vorbild und Anrufung

Die evangelische Kirche hat sich in der Reformation gegen die wild ausufernde Heiligenverehrung gewendet. Daraus folgt gelegentlich der falsche Eindruck, in der evangelischen Kirche könne und dürfe es gar keine Rede von „Heiligen“ geben. Allerdings wollten die Reformatoren keineswegs das Gedenken an die Heiligen generell abschaffen, sondern lediglich den Missbrauch beseitigen, dass sich Heiligenverehrung vor Christus geschoben hat.

In dem Augsburger Bekenntnis von 1530, Artikel 21, heißt es über die Heiligen:

„Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf. Aus der Hl. Schrift kann man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. ‚Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus‘ (1.Tim 2,5)“. […]

Wie der Umgang mit der Rede von Heiligen erfolgt, entscheidet demnach über die Beurteilung aus evangelischer Sicht: Es spricht nichts gegen das erinnernde Gedenken an das beispielhafte Leben und Glauben der Heiligen. Als solche können sie auch für evangelische Christen zur Stärkung des Glaubens dienen.

Mittlergestalten?

Schieben sich die Heiligen vor Christus? Vergrößern oder verkürzen sie den Weg zu Jesus? Darüber wurde kontrovers diskutiert. Immer dann, wenn Gott, wenn Christus als zu weit entfernt, als zu erhaben vorgestellt wird, steigt der Bedarf nach Vermittlern. Ausufernde Heiligenverehrung ist ein Indikator für ein Bild des fernen Gottes. Wenn Heilige benötigt werden, um zwischen dem Gläubigen und Christus zu vermitteln, dann ist etwas Entscheidendes verloren gegangen. Schließlich ist ja die Kernbotschaft von Weihnachten, dass in Jesus Gott selbst Mensch geworden ist und damit von sich aus die große Trennung überwunden hat. Christus ist der Mittler zu Gott – nicht die Heiligen.

Auf der anderen Seite ist unbestritten, dass für Menschen auch Vorbilder und Beispiele hilfreich sind – je näher, desto besser. Seligsprechungen stellen fest: Hier hat ein Mensch - bei aller menschlichen Unzulänglichkeit - versucht Jesus nachzufolgen. Dies kann Ansporn für die eigene Lebenssituation werden.

Umstrittene Heilige

Schwierigkeiten bereitet das Konzept der Heiligsprechungen auch angesichts mancher sehr umstrittener Entscheidungen. Sie zeigen, dass das Verfahren der Heiligsprechung oft als ein Mittel der Kirchenpolitik eingesetzt wurde und wird. Wessen Leben wird als für Christen vorbildlich dargestellt? Über welche dunkle Punkte in einer Biografie ist man bereit hinwegzusehen?

Die Selig- und spätere Heiligsprechung des Opus-Dei-Gründers Josemaria Escriba zählt zu diesen umstrittenen Verfahren. Viele Christen vermögen in dem von Unterordnung und Zwang geprägten System des Opus Dei und dem ebenfalls davon bestimmten Denken seines Gründers wenig Vorbildliches erkennen.

Ähnlich umstritten ist derzeit das Andenken von Papst Pius XII. Sein Schweigen zur Judenverfolgung der Nazis, seine Verträge mit Hitlerdeutschland haben einen dunklen Schatten auf sein Pontifikat geworfen. Zugleich gibt es Kreise von Verehrern, die seine Heiligsprechung fordern. An Pius stellt sich die Frage, wie die Judenvernichtung stattfinden konnte, ohne dass alle Christen geschrien haben. Warum haben sie geschwiegen? Im Grunde hat die gesamte Christenheit versagt. Aber an Pius lässt es sich aufgrund seines besonderen Amtes in besonderer Weise festmachen.

In anderen Konfessionen?

Spannend sind die Fragen nach der Anerkennung von Heiligen in anderen Konfessionen. Widerspruch entzündet sich mitunter daran, dass Rom nur Mitglieder der eigenen Kirche zu Seligen bzw. Heiligen erklärt. So stehen in Bremen Seligsprechungen von Märtyrern der Nazizeit an, die gemeinsam mit einem evangelischen Amtsbruder umgebracht wurden. Sollen diejenigen, deren Glaubenszeugnis sie im Tod geeint hat, nun nachträglich wieder konfessionell getrennt werden? Das Glaubenszeugnis eines evangelischen Martyriums wiegt nicht weniger als das eines Katholiken. Von daher müsste die Zusage der Seligkeit alle drei gemeinsam betreffen. Andererseits entspräche eine Erhebung zur Anrufung um Fürbitte nicht dem evangelischen Verständnis. Egal wie man es wendet – bei diesem Vorgang wird Unbehagen bleiben.

Finanziellen Gewinn wird das Bistum nicht aus der Seligsprechung von Alois Andritzki ziehen können. Während die Heiligsprechung von Bischof Benno zur Reformationszeit noch dazu führte, viele Pilger nach Meißen zu ziehen und damit auch die kirchlichen Kassen klingeln zu lassen, ist es heute so, dass ein solches Verfahren vor allem Geld kostet.

Evangelische Heilige

Auch evangelische Christen haben ihre Heilige. Freilich entstehen diese nicht durch ein geordnetes Verfahren, sondern durch die faktische Verehrung. Damit sind die Grenzen naturgemäß unschärfer. Gleichwohl gibt es sehr ähnliche Phänomene. Bekanntester „evangelischer Heiliger“ ist Dietrich Bonhoeffer. Aber auch Martin Luther, der Liederdichter Paul Gerhardt oder Johann Sebastian Bach erfahren eine besondere Verehrung. Ein Indikator für solche faktische Heiligsprechung ist es, wenn Kirchen und Gemeinden nach diesen Personen benannt werden. Entscheidender Unterschied ist und bleibt, dass kein Heiliger von evangelischen Christen um Fürbitte angerufen wird. Vorbilder des Glaubens – ja, das sind sie, und das gilt konfessionsübergreifend. Aber jenseitige Vermittler zu Gott – das sind sie nicht.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/262

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 6/2010 ab Seite 16