Römisch-katholischer "Aufbruch 2011"
Nach römisch-katholischer Lehre kommt der wissenschaftlichen Theologie eine delegierte Aufgabe zu. Römisch-katholische Theologen empfangen ihren Auftrag vom Lehramt der Kirche. Sie haben die Aufgabe, das Gespräch mit dem Lehramt zu suchen und es bei seiner Meinungsbildung zu unterstützen. Wissenschaftliche Theologie und kirchliches Lehramt sollen demnach miteinander kooperieren und so die Kirche in die Zukunft führen.
Ungefragt aktiv
Wenn das kirchliche Lehramt also wissenschaftliche Vorarbeit von der Theologie erwartet, dann ist verständlich, dass es irritiert ist, wenn ein Memorandum von bislang 193 Professoren[1] der römisch-katholischen Theologie vorgelegt wird, das es gar nicht erbeten hat. Ungefragt treten diese sozusagen in Vorleistung, wenn sie einen Aufbruch der Kirche fordern. Sie fordern einen offenen Dialog mit der von Papst Benedikt XVI. oft als Diktatur des Relativismus verurteilten Moderne, diagnostizieren eine tiefe Krise ihrer Kirche und wollen „im freien und fairen Austausch von Argumenten nach Lösungen zu suchen, die die Kirche aus ihrer lähmenden Selbstbeschäftigung herausführen.“
Neben der Forderung nach Anerkennung auch homosexueller Partnerschaften dürfte dabei besonders folgendes Ansinnen der Professoren auf Ablehnung stoßen: „Die Kirche braucht auch verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt.“ Diese These knüpft an die Forderung verschiedener namhafter Politiker an, die die Zulassung von „viri probati“ zum Priesteramt gefordert hatten.
Innerkatholischer Konflikt
Offensichtlich zeichnet sich hier eine innerkatholische Frontstellung ab. Während auf der einen Seite der offizielle Kurs des Lehramtes immer konservativer zu werden scheint, vertreten auf der anderen Seite verschiedene katholische Gruppen eher liberal-moderne Positionen. Die Anstrengung, konservative Kreise entweder mit Rom zu versöhnen (Stichwort: Pius-Brüder) oder die Gewinnung von konservativen Anglikanern durch weit reichende Zugeständnisse (Stichwort: Anglicanorum Coetibus) belegen die konservative Tendenz des Lehramtes. Der Aufruf von Politikern der (konservativen!) CDU und das Memorandum der Professoren zeigen, dass die römisch-katholische Kirche zumindest in Deutschland weiter auf einen heftigen innerkirchlichen Konflikt zutreibt. Wenn sich demnach die Theologieprofessoren melden, ohne dass sie gefragt wurden, weil sie ihrem Empfinden nach „nicht länger schweigen dürfen“, und dabei eher liberale Züge einfordern, dann sind die inneren Kämpfe der römisch-katholischen Kirche nicht mehr zu übersehen.
Bischofskonferenz zwischen den Stühlen
Die Deutsche Bischofskonferenz reagierte prompt und bislang besonnen auf diesen „Aufbruch 2011“, indem sie darauf hinwies, dass die Bischöfe schließlich selbst einen offenen Dialog angekündigt und dazu eingeladen hätten. Sie macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass in vielen Fragen „das Memorandum in Spannung zu theologischen Überzeugungen und kirchlichen Festlegungen von hoher Verbindlichkeit“ stehe. Hier offenbart sich die theologische Ohnmacht der Bischöfe. Im Zweifel wird das Lehramt nämlich auch nicht durch sie ausgeübt, sondern durch den Papst. Theologisch mögen sie am Lehramt der Kirche partizipieren, praktisch tun sie es nur bedingt. Ein Dialog in Deutschland ist deshalb schwierig, weil faktisch nicht alle Gesprächspartner mit am Tisch sitzen.
Von daher ist dem Aufbruch der Professoren zwar mit großer Sympathie zu begegnen und ihm ist viel Erfolg zu wünschen, aber eine gewisse Skepsis hinsichtlich seiner Forderungen bleibt bestehen.
Dr. Paul Metzger
Konfessionskundliches Institut Bensheim
[1] Stand: 7. Februar 2011, mittlerweile sind weitere Unterzeichner hinzugekommen. Der jeweils aktuelle Stand ist auf www.memorandum-freiheit.de ersichtlich.
Kirche 2011 – ein notwendiger Aufbruch
MEMORANDUM VON THEOLOGIEPROFESSOREN
UND -PROFESSORINNEN ZUR KRISE DER KATHOLISCHEN KIRCHE (4. Februar 2011)
Gut ein Jahr ist vergangen, seit am Berliner Canisius-Kolleg Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Priester und Ordensleute öffentlich gemacht wurden. Es folgte ein Jahr, das die katholische Kirche in Deutschland in eine beispiellose Krise gestürzt hat. Das Bild, das sich heute zeigt, ist zwiespältig: Vieles ist begonnen worden, um den Opfern gerecht zu werden, Unrecht aufzuarbeiten und den Ursachen von Missbrauch, Verschweigen und Doppelmoral in den eigenen Reihen auf die Spur zu kommen. Bei vielen verantwortlichen Christinnen und Christen mit und ohne Amt ist nach anfänglichem Entsetzen die Einsicht gewachsen, dass tief greifende Reformen notwendig sind. Der Aufruf zu einem offenen Dialog über Macht- und Kommunikationsstrukturen, über die Gestalt des kirchlichen Amtes und die Beteiligung der Gläubigen an der Verantwortung, über Moral und Sexualität hat Erwartungen, aber auch Befürchtungen geweckt: Wird die vielleicht letzte Chance zu einem Aufbruch aus Lähmung und Resignation durch Aussitzen oder Kleinreden der Krise verspielt? Die Unruhe eines offenen Dialogs ohne Tabus ist nicht allen geheuer, schon gar nicht wenn ein Papstbesuch bevorsteht. Aber die Alternative: Grabesruhe, weil die letzten Hoffnungen zunichte gemacht wurden, kann es erst recht nicht sein.
Die tiefe Krise unserer Kirche fordert, auch jene Probleme anzusprechen, die auf den ersten Blick nicht unmittelbar etwas mit dem Missbrauchsskandal und seiner jahrzehntelangen Vertuschung zu tun haben. Als Theologieprofessorinnen und -professoren dürfen wir nicht länger schweigen. Wir sehen uns in der Verantwortung, zu einem echten Neuanfang beizutragen: 2011 muss ein Jahr des Aufbruchs für die Kirche werden. Im vergangenen Jahr sind so viele Christen wie nie zuvor aus der katholischen Kirche ausgezogen; sie haben der Kirchenleitung ihre Gefolgschaft gekündigt oder haben ihr Glaubensleben privatisiert, um es vor der Institution zu schützen. Die Kirche muss diese Zeichen verstehen und selbst aus verknöcherten Strukturen ausziehen, um neue Lebenskraft und Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen.
Die Erneuerung kirchlicher Strukturen wird nicht in ängstlicher Abschottung von der Gesellschaft gelingen, sondern nur mit dem Mut zur Selbstkritik und zur Annahme kritischer Impulse – auch von außen. Das gehört zu den Lektionen des letzten Jahres: Die Missbrauchskrise wäre nicht so entschieden bearbeitet worden ohne die kritische Begleitung durch die Öffentlichkeit. Nur durch offene Kommunikation kann die Kirche Vertrauen zurückgewinnen. Nur wenn Selbst- und Fremdbild der Kirche nicht auseinanderklaffen, wird sie glaubwürdig sein. Wir wenden uns an alle, die es noch nicht aufgegeben haben, auf einen Neuanfang in der Kirche zu hoffen und sich dafür einzusetzen. Signale zu Aufbruch und Dialog, die einige Bischöfe während der letzten Monate in Reden, Predigten und Interviews gesetzt haben, greifen wir auf.
Die Kirche ist kein Selbstzweck. Sie hat den Auftrag, den befreienden und liebenden Gott Jesu Christi allen Menschen zu verkünden. Das kann sie nur, wenn sie selbst ein Ort und eine glaubwürdige Zeugin der Freiheitsbotschaft des Evangeliums ist. Ihr Reden und Handeln, ihre Regeln und Strukturen – ihr ganzer Umgang mit den Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche – stehen unter dem Anspruch, die Freiheit der Menschen als Geschöpfe Gottes anzuerkennen und zu fördern. Unbedingter Respekt vor jeder menschlichen Person, Achtung vor der Freiheit des Gewissens, Einsatz für Recht und Gerechtigkeit, Solidarität mit den Armen und Bedrängten: Das sind theologisch grundlegende Maßstäbe, die sich aus der Verpflichtung der Kirche auf das Evangelium ergeben. Darin wird die Liebe zu Gott und zum Nächsten konkret.
Die Orientierung an der biblischen Freiheitsbotschaft schließt ein differenziertes Verhältnis zur modernen Gesellschaft ein: In mancher Hinsicht ist sie der Kirche voraus, wenn es um die Anerkennung von Freiheit, Mündigkeit und Verantwortung der Einzelnen geht; davon kann die Kirche lernen, wie schon das Zweite Vatikanische Konzil betont hat. In anderer Hinsicht ist Kritik aus dem Geist des Evangeliums an dieser Gesellschaft unabdingbar, etwa wo Menschen nur nach ihrer Leistung beurteilt werden, wo wechselseitige Solidarität unter die Räder kommt oder die Würde des Menschen missachtet wird.
In jedem Fall aber gilt: Die Freiheitsbotschaft des Evangeliums bildet den Maßstab für eine glaubwürdige Kirche, für ihr Handeln und ihre Sozialgestalt. Die konkreten Herausforderungen, denen sich die Kirche stellen muss, sind keineswegs neu. Zukunftsweisende Reformen lassen sich trotzdem kaum erkennen. Der offene Dialog darüber muss in folgenden Handlungsfeldern geführt werden.
1. Strukturen der Beteiligung: In allen Feldern des kirchlichen Lebens ist die Beteiligung der Gläubigen ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Freiheitsbotschaft des Evangeliums. Gemäß dem alten Rechtsprinzip „Was alle angeht, soll von allen entschieden werden“ braucht es mehr synodale Strukturen auf allen Ebenen der Kirche. Die Gläubigen sind an der Bestellung wichtiger Amtsträger (Bischof, Pfarrer) zu beteiligen. Was vor Ort entschieden werden kann, soll dort entschieden werden. Entscheidungen müssen transparent sein.
2. Gemeinde: Christliche Gemeinden sollen Orte sein, an denen Menschen geistliche und materielle Güter miteinander teilen. Aber gegenwärtig erodiert das gemeindliche Leben. Unter dem Druck des Priestermangels werden immer größere Verwaltungseinheiten – „XXL-Pfarren“ – konstruiert, in denen Nähe und Zugehörigkeit kaum mehr erfahren werden können. Historische Identitäten und gewachsene soziale Netze werden aufgegeben. Priester werden „verheizt“ und brennen aus. Gläubige bleiben fern, wenn ihnen nicht zugetraut wird, Mitverantwortung zu übernehmen und sich in demokratischeren Strukturen an der Leitung ihrer Gemeinde zu beteiligen. Das kirchliche Amt muss dem Leben der Gemeinden dienen – nicht umgekehrt. Die Kirche braucht auch verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt.
3. Rechtskultur: Die Anerkennung von Würde und Freiheit jedes Menschen zeigt sich gerade dann, wenn Konflikte fair und mit gegenseitigem Respekt ausgetragen werden. Kirchliches Recht verdient diesen Namen nur, wenn die Gläubigen ihre Rechte tatsächlich geltend machen können. Rechtsschutz und Rechtskultur in der Kirche müssen dringend verbessert werden; ein erster Schritt dazu ist der Aufbau einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit.
4. Gewissensfreiheit: Der Respekt vor dem individuellen Gewissen bedeutet, Vertrauen in die Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit der Menschen zu setzen. Diese Fähigkeit zu unterstützen, ist auch Aufgabe der Kirche; sie darf aber nicht in Bevormundung umschlagen. Damit ernst zu machen, betrifft besonders den Bereich persönlicher Lebensentscheidungen und individueller Lebensformen. Die kirchliche Hochschätzung der Ehe und der ehelosen Lebensform steht außer Frage. Aber sie gebietet nicht, Menschen auszuschließen, die Liebe, Treue und gegenseitige Sorge in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft oder als wiederverheiratete Geschiedene verantwortlich leben.
5. Versöhnung: Solidarität mit den „Sündern“ setzt voraus, die Sünde in den eigenen Reihen ernst zu nehmen. Selbstgerechter moralischer Rigorismus steht der Kirche nicht gut an. Die Kirche kann nicht Versöhnung mit Gott predigen, ohne selbst in ihrem eigenen Handeln die Voraussetzung zur Versöhnung mit denen zu schaffen, an denen sie schuldig geworden ist: durch Gewalt, durch die Vorenthaltung von Recht, durch die Verkehrung der biblischen Freiheitsbotschaft in eine rigorose Moral ohne Barmherzigkeit.
6. Gottesdienst: Die Liturgie lebt von der aktiven Teilnahme aller Gläubigen. Erfahrungen und Ausdrucksformen der Gegenwart müssen in ihr einen Platz haben. Der Gottesdienst darf nicht in Traditionalismus erstarren. Kulturelle Vielfalt bereichert das gottesdienstliche Leben und verträgt sich nicht mit Tendenzen zur zentralistischen Vereinheitlichung. Nur wenn die Feier des Glaubens konkrete Lebenssituationen aufnimmt, wird die kirchliche Botschaft die Menschen erreichen.
Der begonnene kirchliche Dialogprozess kann zu Befreiung und Aufbruch führen, wenn alle Beteiligten bereit sind, die drängenden Fragen anzugehen. Es gilt, im freien und fairen Austausch von Argumenten nach Lösungen zu suchen, die die Kirche aus ihrer lähmenden Selbstbeschäftigung herausführen. Dem Sturm des letzten Jahres darf keine Ruhe folgen! In der gegenwärtigen Lage könnte das nur Grabesruhe sein. Angst war noch nie ein guter Ratgeber in Zeiten der Krise. Christinnen und Christen sind vom Evangelium dazu aufgefordert, mit Mut in die Zukunft zu blicken und – auf Jesu Wort hin – wie Petrus übers Wasser zu gehen: „Warum habt ihr solche Angst? Ist euer Glaube so klein?“
Es folgen die Unterschriften von (derzeit) 247 theologischen Hochschullehrerinnen und -lehrern, die an röm.-kath. Fakultäten überwiegend im deutschen Sprachraum tätig sind.
Quelle: http://www.memorandum-freiheit.de
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