Kultus in Dunkelviolett

Zu Besuch bei der Christengemeinschaft in Dresden

Die Christengemeinschaft ist etwas Besonderes unter den diversen Religionsgemeinschaften der Gegenwart. Sie bildet eine Brücke zwischen Christentum und Esoterik. Dabei ist ihre christliche Komponente wiederum eine Mischung aus evangelischen und katholischen Elementen. Die esoterische Hälfte verbindet die Spekulationen der anglo-indischen Theosophischen Gesellschaft mit Elementen der abendländischen esoterischen Tradition, wie sie Dr. Rudolf Steiner (1861-1925) vorgenommen hatte. Kurz lässt sich die Christengemeinschaft als eine „Kirche für die Lehren der Anthroposophie“ beschreiben. Während die Anthroposophie sich selbst nicht als „religiös“, sondern als „Geisteswissenschaft“ versteht, geht es in der Christengemeinschaft dezidiert um Religion – genauer: um einen kultischen Ausdruck für das, was die Anthroposophie als Wahrheit über Mensch und Kosmos glaubt. Im Rahmen einer Exkursion der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) besuchte im September 2024 eine Gruppe die Christengemeinschaft in Dresden und konnte mit einigen Mitgliedern der Gemeinde sprechen.

 

Protestanten vorkonziliar

Der Gründungsimpuls zur Christengemeinschaft folgte aus einer Reihe von Vorträgen, die Rudolf Steiner, der Gründer der Anthroposophie, auf Anfragen einer Gruppe evangelischer Pfarrer in den Jahren 1921 und 1922 hielt (Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, GA 342-345). Angerührt von diesen Ideen entstand 1922 die Christengemeinschaft als „Gesellschaft für religiöse Erneuerung“. Während die Gründungspersonen ganz überwiegend evangelisch waren, hatte Rudolf Steiner eine katholisch geprägte Kindheit. Demzufolge liegt seinen Ausführungen und damit auch dem Ritual der „Menschenweihehandlung“ der Christengemeinschaft die katholische Messe zugrunde – in ihrer vorkonziliaren tridentinischen Form. Darin ist der Gedanke des Messopfers von zentraler Bedeutung. Auch die Anzahl von 7 Sakramenten ist in der Christengemeinschaft über Steiners Vermittlung vom katholischen Vorbild übernommen worden.

 

Offenbarung

Die Gründungspersonen um den evangelischen Theologen Friedrich Rittelmeyer (1872-1938) waren allerdings davon überzeugt, dass sie keineswegs einfach römisch-katholische Rituale adaptiert oder Rudolf Steiners persönliche Ideen übernommen hatten. Sie glaubten, dass in dessen Ausführungen unmittelbar ewige göttliche Wirklichkeiten zum Ausdruck kamen. Die Texte der Menschenweihehandlung und der anderen Sakramente gelten ihnen als direkt aus der geistigen Welt gesandt. Das bestimmt bis heute das Verständnis in der Christengemeinschaft: Der Text des Kultus ist unveränderlich. Er muss in der gegebenen Form vollzogen werden. Diskussionen über neue liturgische Formen für einen lebendigen zeitgemäßen Ausdruck erübrigen sich damit komplett. In 300 bis 500 Jahren könne vielleicht etwas anderes dran sein, so die Auskunft unserer Gesprächspartner. Für die Gegenwart gelten die von Steiner vermittelten Texte. Ohne Diskussion. Allerdings ergibt sich ein gewisses Problem aus der Internationalität. Die mitstenografierten Vorträge von Steiner waren auf Deutsch. Seit 1922 sind die Rituale der Christengemeinschaft aber in der Landessprache. Also braucht es Übersetzungen. Diese sind nie so exakt, die die deutsche Originalfassung, bedauern unsere Gesprächspartner. Nachlesen kann man diese Texte eigentlich nicht. Die Christengemeinschaft veröffentlicht sie nicht. Sie werden den Priestern in der Ausbildung mündlich vermittelt – diese können sie handschriftlich in private Aufzeichnungen übernehmen, die Außenstehenden nicht zugänglich sein sollen. Der Grund: Das persönliche Erleben des Rituals gilt als wesentlich. Eine theoretisch-intellektuelle Auseinandersetzung mit den Texten könnte dem im Wege stehen. Allerdings sind die Texte – gegen den Willen der Christengemeinschaft – in den Bänden der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe nun doch mit veröffentlicht.

 

Lehrfreiheit

Das Gegenüber zu dieser Erstarrung im Kultus ist die „Lehrfreiheit“ der Priester der Christengemeinschaft. Es gibt keine verbindliche Vorgabe, was die Amtsträger dieser Kirche zu verkündigen hätten und was nicht. Nur der Ritualtext ist verbindlich. Das klingt zunächst sehr locker: Keine Dogmen, keine Verpflichtung, nicht einmal die offizielle Erwartung, irgendetwas Bestimmtes zu glauben. Allerdings ist es deshalb schwierig, überhaupt etwas darüber auszusagen, was „in der Christengemeinschaft“ geglaubt wird. Genau genommen kann nur jeder Priester und jede Priesterin für sich persönlich sprechen. Allerdings ist das nur ein theoretisches Problem. In der Praxis zeigt sich, dass die Normierung einerseits durch die anthroposophischen Überzeugungen im Hintergrund und andererseits durch die strikte Festlegung der unveränderlichen kultischen Praxis sehr stark ist. So gehört zum Beispiel die Reinkarnationsvorstellung erklärtermaßen nicht zur Lehre der Christengemeinschaft. Man könnte also nicht nur Gemeindeglied, sondern (theoretisch) sogar Priester sein, ohne von der Realität einer allgemeinen Reinkarnation überzeugt zu sein, so betonen unsere Gesprächspartner. Allerdings ist das wohl eher nur die Theorie. Praktisch setzen die kultischen Texte diese Vorstellung an vielen Stellen voraus. 

Recht flexibel ist offenbar die Ausbildung. Priesterinnen und Priester der Christengemeinschaft lernen in einem der drei Priesterseminare in Stuttgart, Toronto oder seit 2002 auch in Hamburg, wo die Kurse auch berufsbegleitend angeboten werden. Wie den Auskünften unserer Gesprächspartner zu entnehmen ist, sind die Curricula der Studienorte unterschiedlich und schwer vergleichbar. Die Ausbildung sei sehr individuell und gehe um die Menschenbildung.

 

In Dresden

ie Kirche der Christengemeinschaft in Dresden wurde noch kurz vor dem Verbot der Organisation 1936 eingeweiht, dann aber beim Bombenangriff am 13. Februar 1945 zerstört. Während der DDR wurde das Gelände fremdgenutzt. Ende der 1990er-Jahre wurde das Grundstück von der Christengemeinschaft zurückgekauft, sodass dort eine neue Kirche gebaut werden konnte.

Das Altarbild ist in jeder Kirche der Christengemeinschaft anders. Oft sind es abstrakte Motive. In Dresden ist es (wie in Stuttgart und Amsterdam) direkt auf die Rückwand des Altarraums gemalt. Es zeigt die Szene von Golgatha mit dem wiederkommenden Christus. Zur üblichen Ausstattung einer Kirche der Christengemeinschaft gehörten drei Stufen zum Altar und sieben Leuchter, von denen der mittlere erhöht ist. Dunkelviolett ist als Komplementärfarbe zu Gold beliebt. Genaue Interpretationen hat Steiner dazu nicht mitgeteilt. All dies soll Zusammenhänge der geistigen Welten sinnlich erfahrbar werden lassen, zeigt sich Pfr. Jan Tritschel überzeugt.

Die Mitgliedschaft in der Christengemeinschaft ist nicht streng geregelt. Man kann dabei sein, ohne formal Mitglied zu sein. So sind etwa 250 Mitglieder registriert, es werden aber rund 500 Gemeindebriefe verteilt. Sonntags kommen etwa 50-70 Personen zur Menschenweihehandlung, wobei der Einzugsbereich sich bis Görlitz erstreckt. Die nächsten anderen Gemeinden sind in Chemnitz und Leipzig.

 

Anthroposophie?

Das Verhältnis zwischen Christengemeinschaft und Anthroposophie ist komplex. Steiner selbst wurde nie Mitglied. Das gilt auch für die meisten Anthroposophen bis heute. Beide Organisationen sind verwandt, und überlappen sich – aber nur zum Teil. Es muss auch kein Mitglied der Christengemeinschaft in der anthroposophischen Gesellschaft aktiv oder als Mitglied registriert sein. Natürlich gibt es einige, die in beiden Organisationen engagiert sind, aber das scheint eher nicht die Mehrheit zu sein. Sowohl bei dem Besuch der anthroposophischen Gesellschaft als auch bei dieser Begegnung mit der Christengemeinschaft wird jeweils deutlich, dass es sich eher um zwei Schwestern in einer Patchworkfamilie handelt, mit gleichem Vater (Rudolf Steiner) aber verschiedenen Müttern (theosophische esoterische Philosophie / katholische vorkonziliare Mystagogie). Während die Anthroposophie sich um das Verstehen bemüht, geht es in der Christengemeinschaft um das Erleben.

 

Ritualerleben und Sakramente

Die „Menschenweihehandlung“ ist der Begriff für den Gottesdienst in der Christengemeinschaft, wobei diese Bezeichnung eben gerade den Begriff „Gott“ auffällig vermeidet. Es sei der Versuch einer Übersetzung des Begriffs der katholischen „Messe“, wird uns mitgeteilt. In der Tat entspricht der Ablauf der täglich gefeierten Menschenweihehandlung wesentlich der alten tridentinischen Messe. Dabei ist nach dem Verständnis der Christengemeinschaft der Kultus eine irdische Repräsentanz geistig-himmlischer Vorgänge. Das Sakrament vollzieht sich geistig in der Himmelswelt und wird zugleich sinnlich vom Priester zelebriert. In diesem Zusammenwirken liege die Kraft des Sakraments.

Von den römisch-katholischen Wurzeln stammt auch die Zahl von sieben Sakramenten, wobei lediglich einige Bezeichnungen angepasst wurden. So wurde aus der „Firmung“ die „Konfirmation“ und die Beichte heißt auch „Schicksalsberatung“. Bei der Krankensalbung ist jedoch am alten Begriff „letzte Ölung“ festgehalten worden. Diese diene dazu, „sich aus dem Leibe zu lösen und in das leibfreie geistige Dasein hinüberzugehen“ 1

 

Christlich?

Wie christlich ist die Christengemeinschaft? Diese Frage ist umstritten. In ihrer Selbstdarstellung bemüht sich die Christengemeinschaft sehr, ihre Nähe zu den anderen Kirchen und zum Christentum insgesamt darzustellen und die Unterschiede zu verwischen. Von sich aus wären sie gern auch Mitglied der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen. Die Basisformel des Ökumenischen Rates der Kirchen wird akzeptiert.

Jedoch sehen die anderen Kirchen diese Nähe nicht. Letztlich wird in der Christengemeinschaft die gesamte christliche Überlieferung durch die anthroposophische Brille gesehen und gedeutet – mit weitreichenden Folgen. Das beginnt bei der Gottesvorstellung, die weitgehend entpersonalisiert ist und mit der christlichen Trinitätsvorstellung nicht überein zu bringen ist. Der kosmische Christus und der irdische Jesus werden unterschieden, der sich nur zeitweise inkarniert habe. Die Taufe ist rein als Kindertaufe konzipiert und wird als Inkarnationshilfe verstanden. Sie wird mit Wasser, Salz und Asche vollzogen. Von evangelischer und katholische Kirche ist sie nicht als christliche Taufe anerkannt. Eine Erwachsenentaufe gibt es in der Christengemeinschaft nur in Ausnahmefällen, denn sie hätte in dem dortigen Verständnis wenig Sinn, wenn der Mensch bereits fertig inkarniert ist.

Ein anderes Diskussionsthema ist, inwiefern die Bibel als göttliche Offenbarung abgeschlossen ist (so die klassische christliche Position) oder noch durch neue Offenbarungen ergänzt werden kann oder gar muss (wie sie Rudolf Steiner in Gestalt der Kultustexte angeblich aus den geistigen Welten übermittelt hat).

Für das Gespräch mit der Christengemeinschaft hängt viel davon ab, in wieweit es den Mitgliedern der Christengemeinschaft möglich ist, die theosophisch-anthroposophische Brille mal abzusetzen und die biblischen Texte unmittelbar und ohne dieses Deutungskonstrukt sprechen zu lassen. Dann könnten mehr Gemeinsamkeiten wachsen. Aber eben auch nur dann.

Harald Lamprecht

1

https://christengemeinschaft-international.org/wer-wir-sind/hintergruende/sakramente

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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