Das künstliche Geheimnis
Freiberger Mormonentempel öffnet seine Pforten
Es gibt verschiedene Arten von Geheimnissen. Manche Geheimnisse sollen wichtige Informationen vor fremder Kenntnisnahme schützen, z. B. Firmengeheimnisse über den Produktionsprozess oder militärische Aktionen. Andere Geheimnisse haben gar keinen konkreten Gegenstand, der es wert wäre, geheim gehalten zu werden. Sie dienen vor allem dazu, ihr Objekt interessant erscheinen zu lassen. Zu dieser Kategorie gehört in gewisser Weise das Reglement, das die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ihren Tempeln widmet.
Geheimnisse im Tempel
Diese größte der mormonischen Gemeinschaften hat für eine Reihe spezieller Verordnungen, die sie für heilsnotwendig erachten, Tempel eingerichtet. Zu diesen Verordnungen gehören die Siegelung der Ehe (die damit auch im Jenseits bestand haben soll), die stellvertretende Taufe für die Toten (damit jene auch nach mormonischem Ritual errettet werden können) und das sogenannte Endowment, eine Sammlung von Unterweisungen in geheimen Zeichen und Handgriffen, die starke Anleihen an freimaurerischen Ritualen und Symbolvorstellungen nehmen. Besonders das Endowment wird von Mormonen streng geheim gehalten. Den Tempel dürfen selbst Angehörige der Heiligen der Letzten Tage nicht ohne weiteres besuchen. Um hineinzukommen, benötigt man den Tempelschein, eine Art Führungszeugnis der örtlichen Gemeinschaft, aus dem hervorgeht, dass man sich durch Lebenswandel und besondere Vorbereitung als würdig erwiesen hat, den Tempel zu betreten.
Amerika in Freiberg
1985 wurde mit großem öffentlichen Aufsehen in Freiberg der erste Mormonentempel des Ostblockes errichtet. Vor seiner Einweihung gab es 16 Tage lang für jedermann die Möglichkeit, ihn zu besichtigen. Ungeahnt viele strömten nach Freiberg, um z. T. nach stundenlangem Anstehen einen Blick in die mit „Westgeld“ gebauten Räume werfen zu können. Für viele war das damals nicht nur ein Blick auf Mormonen, sondern auch ein Blick über die Mauer nach Amerika.
Nun sind nach knapp 20 Jahren und einer starken Beanspruchung durch Gläubige aus den anderen früheren Ostblockländern Umbau– und Erweiterungsarbeiten notwenig geworden. Dazu wurde der Tempel „entweiht“. Vor seiner neuerlichen Weihe im August 2002 besteht wiederum für einige Tage die Möglichkeit zur Besichtigung, wozu von Seiten der Heiligen der Letzten Tage auch eifrig eingeladen wird. Eine solche missionarische Chance möchte man sich verständlicherweise nicht entgehen lassen. Zwar war die Werbewirkung 1985 begrenzt – trotz des großen Besucherandranges gab es kein nennenswertes Wachstum der Freiberger Gemeinde – dennoch ist die Gelegenheit günstig, die eigenen Glaubensüberzeugungen einem breiten und interessierten Publikum vorzustellen.
Was erwartet einen Besucher des Freiberger Tempels? Zunächst möglicherweise etwas Wartezeit vor den Türen (wie die Erfahrung von 1985 lehrt), bevor man in das weiß getünchte Gebäude eingelassen wird. Wer in dem Tempel einen großartigen Versammlungssaal erwartet, wird enttäuscht sein – es gibt ihn nicht. Der Tempel der Heiligen der Letzten Tage ist keine Versammlungsstätte, keine Kirche für Gottesdienste. Statt eines großen Saales enthält er viele kleine Kammern und Zimmer mit speziellen Funktionen für die Rituale.
Muss man das gesehen haben?
Die
Möglichkeit, einen Mormonentempel von innen zu besichtigen, ist gewiss
nicht häufig. Wer sich schon länger mit dieser Glaubensgemeinschaft
befasst hat, die mormonischen Gemeindehäuser besucht hat und daher
weiß, was ihn erwartet, wird davon vielleicht mit Gewinn Gebrauch
machen. Für alle übrigen hingegen scheint es so, dass die Attraktivität
des Gebäudes und seines Inventars nicht aus sich selbst heraus kommt,
sondern lediglich durch das künstliche Geheimnis drumherum gezüchtet
wird. Wäre der Tempel immer zu besichtigen, hätte vermutlich kaum
jemand Interesse daran. Eine Reise unternehmen, um ein paar
weißgestrichene Räume mit goldenen Leuchtern, amerikanischen Bildern
und ein Kino ohne Film zu sehen? Wozu? – falls man nicht gerade
„Mormonenforscher“ ist. Es besteht meines Erachtens keine
Notwendigkeit, nun mit Schulklassen und Konfirmandengruppen zum Tempel
zu pilgern, um dort lediglich vage Auskünfte über ansonsten geheime
Rituale zu erhalten (die man in Büchern besser nachlesen kann). Für
alle, die unbeding nach Freiberg wollen: der Dom hat einen Besuch mehr
verdient.
Harald Lamprecht, 6/2002