Führung im Heiligtum

Zu Besuch im Freiberger Tempel der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage („Mormonen“)

Wo kann man Gott begegnen? Für die umgangssprachlich als „Mormonen“ bezeichneten Mitglieder der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (HLT) sind dafür besonders geeignete Orte ihre Tempel. Einer steht seit 1985 auch in Freiberg in Sachsen. Zu seiner Erbauung war dieser der einzige im „Ostblock“. Inzwischen gibt es auch noch in Kiew einen Mormonentempel. Dennoch reicht der Einzugsbereich des Freiberger Tempels immer noch weit nach Osteuropa hinein. Der einzige weitere deutsche Tempel steht in Friedrichsdorf (Hessen).

Mormonentempel gelten als heilige Orte. Diese Absonderung von der profanen Welt des Alltags zeigt sich u.a. darin, dass der Zugang streng begrenzt ist. In den Tempel kann normalerweise nicht jeder einfach so hinein. Um Zugang zum Tempel zu bekommen, muss man nicht nur Mitglied der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ sein, sondern auch aktiv am Gemeindeleben teilnehmen, durch seinen Lebenswandel keinen Hinderungsgrund darstellen und u.a. durch Gespräche mit dem Ortsbischof und dem Pfahlpräsidenten auf den Tempelbesuch vorbereitet sein. Dann kann man einen Tempelbesuchsschein erhalten, dessen Gültigkeit am Eingang des Tempels überprüft wird. Ausnahmen von diesem Reglement gibt es nur vor der Weihe eines Tempels. Da der Freiberger Tempel in den zurückliegenden Monaten umgebaut und erweitert wurde, bestand für einige Zeit die seltene Möglichkeit, auch als Nichtmormone einen Blick in die Räume im Inneren zu werfen. Die AG Religiöse Gemeinschaften des Evangelischen Bundes Sachsen hat diese Gelegenheit genutzt und den Freiberger Tempel im August 2016 besucht.

Für Mormonen ist ein Tempelbesuch immer ein besonderes Ereignis. Einige Rituale können nach mormonischer Lehre nur in diesen Tempeln durchgeführt werden. Sie seien notwendig, um die sogenannte celestiale Herrlichkeit zu erreichen. Alle Tempelrituale können (auch) stellvertretend für Verstorbene durchgeführt werden. Ein Teil dieser Rituale ist geheim, d.h. es ist Mormonen verboten, außerhalb des Tempels darüber zu sprechen. Damit sind die Tempel Inbegriff der Besonderheiten des Mormonentums, worin es sich vom (ökumenischen) Christentum unterscheidet.

Mormonentempel sind keine Versammlungsräume für die ganze Gemeinde, wie es eine Kirche oder das mormonische Gemeindehaus darstellt. Sie enthalten keinen großen Saal oder eine Halle, sondern lauter vergleichsweise kleine Zimmer, in denen die speziellen Rituale auf einer individualisierten Ebene stattfinden.

Gottes Plan

Nach mormonischer Auffassung hat Gott (bzw. die Götter Elohim, Jehova und Michael) die Welt nicht geschaffen, sondern lediglich aus der schon ewig bestehenden Materie geformt. Wie die Materie sind auch die Seelen der Menschen als Geistwesen ewig. Der Aufenthalt auf der Erde dient ihnen als Ort der Bewährung. Diese Prüfung kennt verschiedene mögliche Ergebnisse. Wenn sie dort den göttlichen Geboten gemäß leben, eine gute Ehe führen und Kinder großziehen und alle Rituale und Verordnungen des Priestertums empfangen, dann können Sie nach dem Tod in die himmlische („celestiale“) Herrlichkeit aufsteigen. Bleibt dies unvollständig, steht ihnen nur noch die irdische („terrestiale“) Herrlichkeit oder gar die unterirdische („telestiale “) Herrlichkeit offen und sie können sich nicht selbst zu Göttern entwickeln. Daher kommt den Tempelritualen eine zentrale Rolle zu, um dem (mormonischen) Plan Gottes entsprechen zu können.

Totentaufe

Links vom Eingang befindet sich im Freiberger Tempel das imposante auf dem Rücken von 12 Stieren ruhende Taufbecken. In diesem Becken werden allerdings nur Verstorbene getauft, d.h. es wird an lebenden Mormonen eine Taufhandlung vorgenommen, die stellvertretend für deren verstorbene Familienangehörige wirken soll, die zu Lebzeiten nicht mormonisch getauft wurden. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage betrachtet sich selbst als „Wiederherstellung“ der Urkirche, deren Vollmachten zwischenzeitlich verlorengegangen sein sollen. Darum werden von mormonischer Seite auch keine Taufen anderer Kirchen anerkannt, weil jenen angeblich die priesterliche Vollmacht für solche Taufen fehle. Eine solche exklusive Haltung führt naturgemäß zu seelsorgerlichen Konflikten in Bezug auf geliebte Angehörige, die keine Mormonen waren und daher - aus mormonischer Sicht - von der himmlischen Herrlichkeit ausgeschlossen sind. Diesem Mangel nachträglich abzuhelfen dient das Ritual der Totentaufe, das nur im Tempel vollzogen werden kann. Praktisch läuft das so, dass oftmals Jugendliche sich an einem Tag gleich mehrfach für eine Reihe von verstorbenen Vorfahren taufen lassen. Um die Namen möglicher zu taufender Vorfahren in Erfahrung zu bringen, betreiben Mormonen eine umfangreiche genealogische Forschung. Zur Rechtfertigung der Praxis der Totentaufe beruft man sich auf 1. Kor 15,29, wo eine entsprechende Praxis beiläufig erwähnt wird.

Das Taufbecken für die lebenden Mormonen befindet sich nicht im Tempel, sondern im Gemeindehaus nebenan und ist ein ganz schlicht gefliestes Bassin an der Seitenwand des Taufraumes. Getauft wird bei den Mormonen ab einem Alter von 8 Jahren und oft durch den eigenen Vater, sofern dieser (wie üblich) Träger des aaronitischen Priestertums ist.

Tempelkleidung

Obwohl man den Tempel nur in festlicher Kleidung betritt, zieht man sich im Inneren sofort um. Die komplett weiße Tempelkleidung soll einerseits die angestrebte Reinheit symbolisieren, andererseits auch die Gleichheit aller vor Gott. Dazu helfen Umkleideräume und -schränke. Den Tempelbesuchern zu den Tagen der offenen Tür wird freilich nicht erzählt, was unter und über der Tempelkleidung getragen wird, weil das in den Bereich der Geheimhaltung der mormonischen Rituale fällt. Die mit aufgestickten freimaurerischen Symbolen versehene mormonische Unterwäsche („Garment“) erhalten die Teilnehmer im Zusammenhang einer rituellen Waschung und Salbung vor dem Ritual der „Begabung“ (Endowment). Sie sollen diese künftig ihr Leben lang, Tag und Nacht, tragen und zugleich niemandem zeigen. Sommerkleider mit Spaghettiträgern vertragen sich mit solchen Regeln nicht. Im Rahmen des Rituals wird dann noch ein grüner Lendenschurz verwendet, wie er ähnlich auch von Freimaurern bei der Ritualarbeit getragen wird.

Verordnungen

Als „Unterrichtsraum“ oder „Verordnungsraum“ wird ein als Kino eingerichteter Raum bezeichnet, in dem die Mitglieder mehr über die Gegenwart Gottes erfahren sollen und besondere Gelübde und Versprechungen abgeben. Dieses „Endowment“ ist ein ca. zweistündiges Ritual mit festgelegtem Wortlaut und symbolischen Handlungen. Es ist in gewisser Hinsicht ein Herzstück der geheimen mormonischen Tempelarbeit. Entsprechend wenig wird den Besuchern darüber berichtet. Wer es genauer wissen will, kann sich aus anderen Quellen informieren.1 Grob zusammengefasst geschieht Folgendes: In einer Kinovorführung wird ausgehend von der mormonischen Version der Schöpfungsgeschichte und des Sündenfalls der Plan Gottes enthüllt und den Kandidaten werden im Rahmen der Zeremonie geheime Zeichen, Griffe und Namen mitgeteilt, die nach dem Tod den Einlass am Himmelstor ermöglichen sollen. In feierlichen Gelübden versprechen sie Gehorsam, Hingabe und Geheimhaltung.

Auch wenn die Texte des Rituals mittlerweile mehrfach publiziert sind, sprechen Mormonen (übrigens ganz analog zu den Freimaurern) nicht mit Außenstehenden über die Inhalte der Rituale, weil es auf die eigene Erlebnisdimension ankomme und diese durch Vorab-Kenntnis beeinträchtigt würde.

Vorgeschmack auf den Himmel

Der Celestiale Raum des Tempels, in den die Teilnehmer nach empfangenen Verordnungen treten, dient keinen rituellen Zwecken, sondern ausschließlich der persönlichen Besinnung. Seine Einrichtung soll einen Vorgeschmack auf das Gefühl beim Betreten des Reiches Gottes geben. In diesem Raum soll die heilige Stille nicht durch Sprache gestört werden. In diesem Raum gibt es auch keine Bilder, sondern kristallene Leuchter dominieren das Erscheinungsbild. Die Bilder im Tempel und im Gemeindehaus in Freiberg zeigen nirgendwo eine Kreuzigungsszene, wie überhaupt das Kreuz bei den Mormonen nicht zu finden ist. Statt dessen wird stets der Auferstandene abgebildet. Nicht der Gekreuzigte, sondern der siegreiche Erlöser steht im Zentrum mormonischer Besinnung auf Christus.

Siegelung

Eine wichtige Aufgabe der Menschen gemäß der mormonischen Fassung des Plans Gottes sei es, sich um die Zeugung von Nachkommen zu bemühen, damit möglichst vielen Seelen die Gelegenheit zur Bewährung auf der Erde gegeben werde. Dazu braucht es stabile Familien und markant für die Mormonen ist die Vorstellung, dass die familiären Bindungen den Tod überdauern (sollen) und auch in den himmlischen Ebenen fortbestehen. Dazu dient das Ritual der Siegelung, das im speziell dafür vorgesehenen Siegelungsraum im Tempel vorgenommen wird. Dort knien sich die Ehepartner gegenüber und versprechen einander ewige Treue - nicht nur „bis dass der Tod uns scheidet“. Auch Kinder können in diesem Ritual an die Familie gesiegelt werden. Bei mittlerweile Verstorbenen übernehmen andere Personen deren Stelle.

Trotz Hochschätzung der Familie und Siegelungszeremonie – Scheidungen kommen auch bei Mormonen vor. In seltenen Einzelfällen kann eine Siegelung durch die „Erste Präsidentschaft“ aufgelöst werden. Verwitwete Männer können sich an eine zweite Frau siegeln lassen, während verwitweten Frauen eine erneute Siegelung an einen zweiten Partner verwehrt bleibt. Auch wenn die Polygamie bei der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage im irdischen Bereich seit 1890 abgeschafft wurde - im jenseitigen Bereich dauert sie auf diese Weise fort. Im Übrigen verweisen die Moralvorstellungen die Sexualität in den Bereich der Ehe zwischen Mann und Frau, was vor- und außereheliche Kontakte ebenso ausschließt wie eine kirchliche Weihe homosexueller Partnerschaften.

Mormonen, Freimaurer und das Christentum

Das Mormonentum entstand in den USA aus dem religiösen Erleben des protestantischen Farmersjungen Joseph Smith. Er hat keine tiefere religiöse Bildung genossen als die Streitgespräche über religiöse Fragen am häuslichen Familientisch, fühlte sich aber als Jugendlicher zur Gründung einer neuen Religion direkt von Gott beauftragt. Insofern hat das Mormonentum seine Wurzeln im protestantischen Christentum der 1830er Jahre in den USA. Von den hinzugetretenen Einflüssen ist neben der Persönlichkeit von Joseph Smith und seinen als Offenbarung angesehenen Äußerungen vor allem der Einfluss der Freimaurerei unübersehbar. Das Ritual des Endowment entstand zwei Monate nachdem Joseph Smith im März 1842 in Nauvoo Freimaurer geworden war. Kern der Freimaurerei ist die Arbeit an der Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit. Im Mormonentum findet man dieselbe Denkrichtung auf der religiösen Ebene wieder. Ziel ist es, durch Gebotserfüllung und Einhaltung von Pflichten die eigene Höherentwicklung bis zur Gottheit voranzutreiben. Der Unterschied zwischen dem Christentum und dem Mormonentum wird im Blick auf die Tempel besonders deutlich. Kirchen sind auch Heilige Orte der Gottesbegegnung, aber sie stehen jedem offen. Im Christentum sind keine Heilstatsachen geheim – im Gegenteil: Sie werden öffentlich gepredigt und verkündigt. Das Christentum richtet sich in erster Linie an die Lebenden, nicht an die Toten. Christliche Kirchen zeugen davon, dass Gott selbst Mensch wurde. Mormonentempel stehen dafür, wie Menschen zu Göttern werden sollen. Darin liegen – trotz mancher Ähnlichkeit in Sprache und Strukturen - gewichtige religiöse Unterschiede.

Auf der Ebene des zwischenmenschlichen Miteinanders zeigten sich unsere mormonischen Gastgeber als ausgesprochen freundlich und entgegenkommend. Dies zeigt, dass religiöse Differenzen und ein freundlicher, ja sogar freundschaftlicher Umgang durchaus zusammengehen können.

Harald Lamprecht

 

 

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2016 ab Seite 06