Jude oder Christ?

Messianische Juden in der Diskussion

Das Verhältnis zwischen Christen und Juden in Deutschland ist komplex. Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Eine davon ist die deutsche Geschichte. Wir können nicht darüber hinweg sehen, dass die Verbrechen des deutschen Volkes an den Juden und die planmäßige Ermordung von mehr als 6 Millionen Juden eine Schuld darstellt, die auch die Nachgeborenen zu besonderer Verantwortung im Umgang mit Juden verpflichtet. Es gilt zu sehen, dass auch von jüdischer Seite mit besonderer Aufmerksamkeit auf deutsches Handeln gesehen wird und die Sensibilität dafür nicht verloren gehen darf.


Unterschiedliche Zugehörigkeiten

Kompliziert wird das Verhältnis aber auch dadurch, dass das Judentum nicht einfach eine Religion darstellt, zu der man sich bekennt. Das Judentum wird stärker als viele andere Religionen durch die Verknüpfung von drei verschiedenen Faktoren und Arten der Zugehörigkeit bestimmt, die keineswegs deckungsgleich sind und je nach Perspektive anders ausfallen:
1.Judentum als Religion: In diesem Sinn bedeutet Jude sein, sich mit der jüdischen Religion zu identifizieren. Dies heißt, an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu glauben und sich um die Einhaltung seiner Gebote zu bemühen, wie sie in Thora und Talmud überliefert werden. Jude sein ist hier die Frage nach einem religiösen Bekenntnis. In etlichen Fällen haben dieses Bekenntnis auch Menschen angenommen, die vorher zu anderen Religionen gehört hatten, und sind somit zum Judentum übergetreten.
2.Judentum ist aber auch ein Volk: Zu ihm gehört, wer eine jüdische Mutter hat. Die Volkszugehörigkeit geht nicht verloren, wenn man den Glauben nicht lebt oder ihn sogar verleugnet. Die nationalsozialistischen Rassentheorien waren vor allem auf diesen Aspekt bezogen, so dass der Verfolgung auch viele Menschen christlichen Glaubens zum Opfer fielen, die jüdische Vorfahren hatten. Auch während der DDR-Zeit kamen in den wenigen verbliebenen jüdischen Gemeinden etliche zusammen, die sich in erster Linie durch die ihre Herkunft und das gemeinsam erlittene Schicksal miteinander verbunden fühlten. Eine gemeinschaftliche Pflege religiöser Rituale und Traditionen suchten keineswegs alle von ihnen, einige fühlten sich sogar als Atheisten, was aber ihrem Selbstverständnis als Jude in diesem ethnischen Sinn keinen Abbruch tat.
3.Den dritten Aspekt bildet seit 1948 das Bestehen des Staates Israel. Man kann jetzt auch wieder jüdischer Staatsbürger sein, wobei dies trotz großer Überschneidungen nicht identisch damit sein muss, dass man auch jüdischen Glaubens ist und durch die eigene Abstammung zum jüdischen Volk gehört. Zum Staat Israel gehören auch Bürger anderer Religion und anderer Herkunft.

Alle drei Aspekte lassen sich nicht wirklich völlig voneinander lösen, auch wenn sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Charaktere auch nicht einfach gleichgesetzt werden dürfen. Die in Deutschland lebenden Juden haben auf die Politik des Staates Israel und dessen Umgang mit den Palästinensern keinen besonderen Einfluss und können schlecht dafür in Haftung genommen werden, selbst wenn sie sich mit Israel verbunden fühlen.

Messianische Juden

Noch etwas komplizierter wird die Gemengelage im Blick auf eine Gruppe, die sich „messianische Juden“ nennt und sich in dem Grenzbereich zwischen Christentum und Judentum bewegt. Je nach Perspektive und betrachtetem Aspekt gehört sie mal auf die eine, und mal auf die andere Seite. Bestandteil der jüdischen religiösen Vorstellungen ist die Erwartung eines Messias. Messianische Juden teilen diese allgemeine jüdische Erwartung. Im Unterschied zu den anderen Angehörigen der jüdischen Religion gehen Sie aber davon aus, dass der jüdische Rabbiner Jesus von Nazareth der von Gott verheißene Gesalbte („Messias“) ist.

Aus christlicher Perspektive sind sie damit ihrer Religion nach nicht länger Juden, sondern Christen. Wer an Jesus Christus als Sohn Gottes und Erlöser glaubt und sich daraufhin taufen lässt, ist ein Christ, egal, aus welchem Volk die Person stammen mag.

Aus der Perspektive der messianischen Juden hört ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk mit ihrer religiösen Entscheidung für diesen Messias aber nicht auf. Messiaserwartungen und messianische Gruppen hat es in der Geschichte des Judentums immer wieder gegeben. Dabei blieb in der Regel selbstverständlich anerkannt, dass auch diejenigen, welche z.B. in Simon Bar Kochba oder in Schabbtai Zvi den von Gott gesandten Messias zu erkennen glaubten, weiterhin zur Gemeinschaft (und damit auch zur Religion) des Judentums gehören, auch wenn man deren messianisch Begeisterung für Irrtum hielt.

Messianische Juden verbinden Judentum und Christentum so eng, dass ihr Jesusglaube lediglich als eine spezifische (neben anderen bestehenden) jüdischen Lehrvarianten erscheint. Folglich legen sie in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Außendarstellung größten Wert darauf, ungeachtet ihres Christusbekenntnisses weiterhin als Juden anerkannt und angesprochen zu werden. Dementsprechend feiern sie auch weiter traditionelle jüdische Feste und haben in vielen Elementen jüdische Bezüge bewahrt, wobei natürlich andererseits auch einige christliche Einflüsse insbesondere aus dem charismatischen Bereich aufgenommen wurden. In der Praxis bestehen intensive Vernetzungen in die Szene evangelikaler und pfingstlich geprägter Missionswerke, deren Arbeitsweisen weithin übernommen werden. Für außenstehende Beobachter sind jüdisch-messianische Gruppen auch auf den zweiten Blick nicht ohne weiteres von israelbegeisterten evangelikalen Gruppen zu unterscheiden.

Diese Situation bringt nun beide Seiten - sowohl die christliche, wie auch die jüdische, in gewisse Schwierigkeiten, denn die messianischen Juden sprengen gewohnte Sichtweisen und Kategorien. Für die Christen sind sie mitunter zu jüdisch, für die Juden viel zu christlich. In jedem Fall fühlen sie sich nicht an die traditionellen Verhaltensregeln der einen wie der anderen Gruppe gebunden – wie das mit Grenzgängern nun mal zu gehen pflegt.

Konflikte

Beim 33. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden 2011 ist der schon länger latent schwelende Konflikt deutlicher sichtbar geworden. Eine Berliner jüdisch-messianische Gemeinschaft hatte einen Stand auf dem „Markt der Möglichkeiten“ beantragt, der von der zuständigen Projektleitung unter Verweis auf einen entsprechenden Beschluss des Präsidiums abgelehnt wurde. Damit wollte sich die Gemeinschaft nicht ohne weiteres abfinden. Es erhoben sich auch etliche Stimmen aus verschiedenen Teilen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, die der abgelehnten Gruppe beisprangen und den Beschluss des Präsidiums kritisierten. Dieses blieb jedoch auch nach erneuten Beratungen bei seiner Position.

Christlich-jüdische Verständigung auf dem Kirchentag

Warum hatte der Kirchentag diesen Stand abgelehnt? Die Entscheidung bleibt möglicherweise unverständlich, wenn man sich nicht mit der Geschichte des Kirchentages und der christlich-jüdischen Verständigung befasst. Insbesondere im Osten Deutschlands ist dieser Teil deutscher Geschichte mangels persönlicher Beteiligungsmöglichkeit weithin unbekannt geblieben. Zwischen dem Kirchentag und der Annäherung zwischen Kirche und Judentum besteht nämlich eine sehr enge Verbindung. Der Kirchentag war mit seinen Aktivitäten, Foren und Podien maßgeblich an der Versöhnungsarbeit zwischen Christen und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt. Er war sogar der Motor dieser Entwicklung. Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ist direkt aus der Kirchentagsarbeit hervorgegangen. Dass trotz der schweren Schuld, die auch viele deutsche Christen in der Zeit des Nationalsozialismus auf sich geladen haben, eine solche Zusammenarbeit möglich wurde, grenzt an ein Wunder. Dies ist nicht zuletzt dem sehr behutsamen und einfühlsamen Umgang der damaligen Verantwortlichen geschuldet. Im Rahmen der Kirchentagsarbeit keimte und wuchs diese zarte Pflanze heran und wurde zu einem geachteten Beispiel für christliche Versöhnungsarbeit.

Diese Kontakte bringen es mit sich, dass mit dem Kirchentag eine besonders aufmerksame Kultur des aufeinander Hörens und der gegenseitigen Rücksichtnahme im christlich-jüdischen Verhältnis entstanden ist. Auf dieser Grundlage ist so etwas wie ein neuer Respekt füreinander gewachsen, der die alte Schuld nicht negiert, aber durch aktives Versöhnungshandeln eine neue Grundlage für Gemeinschaft aufbaut.

Gegen „Holocaust mit anderen Mitteln“

Vor diesem Hintergrund wird es nachvollziehbar, dass die Verantwortlichen des Kirchentages diese Frucht der Kirchentagsarbeit schützen wollen. Dementsprechend aufmerksam und kritisch fallen die Reaktionen gegenüber Gruppen aus, die den Verdacht erwecken, von christlicher Seite aus erneut Juden zu bevormunden und unter Druck zu setzen. Aus dieser Perspektive erscheinen die messianischen Gemeinschaften in einem anderen Bild. Sie werden im Blick auf ihr Bekenntnis und ihr Auftreten als evangelikal geprägte christliche Gruppen klassifiziert, welche die aktive und gezielte Mission unter Juden zu ihrem ausdrücklichen Programm gemacht haben. Da gehen viele Alarmglocken an. Bekehrungsorientierte Ansätze evangelikaler Missionsarbeit haben in der Vergangenheit immer wieder Fälle produziert, in denen Achtung und Respekt vor dem Glauben des Anderen unterentwickelt blieben, und statt dessen Druck aufgebaut wurde, der als Bevormundung erlebt wird. Hinzu tritt, dass aufgrund der geschichtlichen Belastung die Deutschen wohl am wenigsten berufen sind, eine neue Missionskampagne gegenüber Juden loszutreten. Auf dem Kirchentag 1999 in Stuttgart erkärte der Württembergische Landesrabbiner Joel Berger: „Die Judenmission ist für mich Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln.“ Diese Aussage versteht Berger auch gegenüber den Aktivitäten messianischer Juden, die er mit zum Christentum zählt. In wieweit die Juden überhaupt Adressat christlicher Missionsbemühungen sein sollten, ist in der gegenwärtigen Theologie umstritten.

Absage an Judenmission

Gemäß grundlegender biblischer Aussagen hat Gott das Volk Israel erwählt und mit ihm einen Bund geschlossen. Dieser Bund ist auch nach neutestamentlichen Aussagen (Röm. 9-11) nicht hinfällig. Daher ist das Verhältnis Israels zu Gott ein anderes als das der anderen Völker.

Die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland hat 1980 der christlichen Judenmission eine generelle Absage erteilt. Sie argumentierte: „Wir glauben, daß Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind; darum sind wir überzeugt, daß die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen kann.“ Im Unterschied zu den Heidenvölkern hat Israel bereits eine Beziehung zu Gott.

Jahrhundertelang war in der christlichen Theologie eine „Substitutionstheorie“ vorherrschend. Demnach sei das Christentum als neues Bundesvolk an die Stelle Israels getreten. Juden könnten wie andere Heiden auch nur über ihre Bekehrung zu Jesus einen Zugang zu Gott finden. Auf die Ablehnung einer Konversion zum Christentum wurde oft mit Feindschaft und Gewalt reagiert. Von daher legt die Theologie der Substitution den Grundstock zu einer oft blutigen Judenfeindschaft.

Heute wird dies zunehmend anders gesehen. Unter Bezug auf die Aussagen von Paulus im Römerbrief ist die Sensibilität dafür gewachsen, dass die Erwählung Israels fortbesteht. Zudem ist zu bedenken, dass die ersten Christen alle Juden waren, die Frage nach der Anerkennung von Jesus mithin eine innerjüdische Debatte war. Für die rheinische Kirchenleitung folgt daraus: „Der „Missionsbefehl“ bzw. „Taufbefehl“ (Mt 28,19) rechtfertigt keine Mission von Nichtjuden an Juden, sondern er fordert die Apostel auf, sich (als Juden, die sie sind) den nichtjüdischen Völkern ‚missionierend’ zuzuwenden, um sie in die Nachfolge zu rufen, sie zu taufen und die Gebote Jesu zu lehren. Unter „allen Völkern“ sind die nichtjüdischen Völker zu verstehen.“ Christen sind hineingenommen in den Bund Gottes mit Israel, aber sie haben den Juden nichts voraus. Die grundsätzliche Absage an die christliche Judenmission erfolgt aus theologischen Gründen und nicht allein wegen der Schuld des Holocaust - so die klare Position der rheinischen Kirchenleitung.[1]

Verteidiger

Wechselt man nun die Perspektive und sieht die Situation aus der Sicht der messianisch-jüdischen Gemeinde, stellen sich die Verhältnisse völlig anders dar. Die entscheidende Weichenstellung ist hier, dass es sich bei den messianischen Juden mehrheitlich tatsächlich um Personen handelt, die eine ethnisch-jüdische Herkunft haben. Deshalb halten sie mit Nachdruck fest, dass sie Juden sind und bleiben wollen. Mit einem Schlag entfällt damit das Konfliktfeld, dass Christen sich vereinnahmend über Juden hermachen. Statt dessen wird daraus eine innerjüdische Debatte um den wahren Messias. Es kann sogar so weit gehen, dass die liberale christliche Kritik an den missionarischen Aktivitäten messianischer Juden seinerseits als unzulässige Einmischung und christliche Vereinnahmung von Juden beklagt wird. Wenn nun Juden von sich aus dazu finden, was Gott mit Jesus von Nazareth begonnen hat, so gibt es kein christliches Argument, was dagegen anzubringen wäre. Sie haben sogar die Ausführungen der rheinischen Kirchenleitung hinter sich, welche sich lediglich gegen die heidenchristliche Judenmission verwahrt. Innerjüdische Auseinandersetzungen um die Anerkennung von Jesus als Messias werden jedoch vor dem biblischen Hintergrund akzeptiert und betont, dass Paulus als Jude sich bemühte, andere Juden zum Glauben an den Messias Jesus zu gewinnen.

So können sich auch Christen darüber freuen, wenn Juden zu Jesus finden, auch wenn sie es nicht als ihre Aufgabe ansehen, selbst eine planmäßige Judenmission zu installieren.

Verschmelzung

In der Theorie mag es klar sein: Heidenchristen haben keinen primären Missionsauftrag gegenüber Juden, Juden hingegen dürfen untereinander durchaus für eine bestimmte Messiasauffassung werben. In der Praxis ist beides wiederum schwer auseinander zu halten.

Wenn in evangelikal geprägten christlichen Kreisen die Freude über die Arbeit jüdisch-messianischer Gemeinden so groß ist, dass sie mit Infrastruktur und Spenden massiv unterstützt werden, wie ist das von christlicher Mission zu unterscheiden? So finanziert der christliche Evangeliumsdienst e.V. direkt die Gehälter von vier messianisch-jüdischen Gemeinden in Deutschland. Schon 1998 wies der SPIEGEL in einem kritischen Artikel auf die Verflechtung messianischer Gemeinden mit freikirchlicher Infrastruktur hin.

Weil sie wissen, dass an der Frage sehr viel hängt, geben sich die jüdisch-messianischen Gemeinden große Mühe, sich selbst in ihren öffentlichen Äußerungen konsequent innerhalb des Judentums zu verorten, obwohl ihr Bekenntnis ein christliches ist, ihre Publikationen z.T. in christlichen Verlagen erscheinen, sie auf christlichen Konferenzen als Redner auftreten, sie mit christlichen Missionswerken zusammenarbeiten und von christlichen Spendern finanziert werden.

Es wird sich nicht restlos klären lassen, welcher Religion diese Bewegung letztlich zuzuordnen ist, weil sie ein solcher Grenzgänger ist. Die Existenz messianischer Juden erinnert aber daran, in welch enger weise Judentum und Christentum miteinander verbunden sind.

 

 




[1] Absage an Begriff und Sache christlicher Judenmission. Beschluss der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 12./13. 12. 2008, http://www.ekir.de/www/downloads/ekir2008absage_judenmission.pdf

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://confessio.de/index.php/artikel/285

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2012 ab Seite 06