Wissenschaft als Welterklärung?
Die Giordano-Bruno-Stiftung ist ein erklärter Gegner jeder religiösen Deutung der Welt. Eins ihrer engagierten Mitglieder, der Biologe Prof. Dr. Thomas Junker, war in der Werkstatt Weltanschauungsfragen des 34. Evangelischen Kirchentages in Hamburg eingeladen, sein Verständnis von Wissenschaft als Mittel zur Welterklärung zur Diskussion zu stellen.
Weltdeutung als Handlungsanweisung
Als Ausgangspunkt wählte er die Aussage von Habermaas, die Religion sei ein Weltbild, das unser Leben strukturieren wolle. Das gleiche sei nach Junker ebenso Anliegen der Wissenschaft. Wissenschaftliche Erklärungen der Welt und ihrer Detailfunktionen bekommen ebenso unmittelbar handlungsleitenden Charakter, etwa bei Gesundheitstipps zum Älterwerden.
Theologen wie z. B. Karl Rahner trennen die Welt in zwei Bereiche: zum einen die kausale Welt der erforschbaren Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, zum anderen einen Bereich, der als Urgrund davon abgetrennt werden müsse. Darauf könne sich die Wissenschaft laut Junker nicht einlassen. Warum sollte die Biologie keine Aussage zum Sinn des Lebens machen können?
Der Sinn des Lebens sei zunächst keine normative Frage, sondern eine Beschreibung: Worin sehen die meisten Menschen ihren Sinn des Lebens? Aus solchen Darstellungen kann man wiederum Handlungsanweisungen ableiten. Der Sinn einer Tätigkeit ist ihr Zweck, ihr Ziel, auf dessen Erreichung sie gerichtet ist. Der Sinn einer Aussage liegt in der Weitergabe einer bestimmten Information. Der Sinn des Lebens sei ganz elementar die Weitergabe der eigenen Gene. Jeder Baum hat Blüten, jeder Organismus bemüht sich um Fortpflanzung aus dem simplen Grund, weil er sonst nicht mehr da wäre. Darum ist der menschliche Sexualtrieb auch so stark. Man könnte dies mit Richard Dawkins auf die Spitze treiben und sagen: Wir sind Genverbreitungsmaschinen.
Dass es den Menschen üblicherweise nicht gefällt, von Molekülen für deren Zwecke benutzt zu werden, ändere nichts an der Wahrheit dieser Aussagen. Schließlich habe vielen Zeitgenossen das kopernikanische Weltbild zunächst auch nicht eingeleuchtet, dennoch stimmt es.
Biologischer Sinn des Lebens
Die häufigsten Aussagen zum Sinn des Lebens seien laut Junker sehr gut biologisch erklärbar:
1) Kinderwunsch und Familie werden am meisten als Sinn des Lebens genannt – und entsprechen damit exakt der biologischen Grundaussage von der Fortpflanzung als Kernmotiv. Allerdings ist dies beim Menschen nicht auf Quantität, sondern auf Qualität optimiert: Wir haben relativ wenige Kinder, die dafür gut versorgt und ausgebildet werden.
2) Überleben: Das reine Überleben wird von den meisten Menschen nicht als befriedigender Sinn des Lebens empfunden. Deutlich wird dies etwa im Blick auf Komapatienten. Dies sei auch biologisch sinnvoll, denn das eigene Überleben genügt nicht zur Fortpflanzung, dafür braucht es einen Überschuss an Ressourcen.
3) Wohlergehen (Lust - Genuss - Hedonismus) finden als Lebensziele darin ihre biologische Bestätigung, dass ein Organismus sich nur dann Fortpflanzen kann, wenn er gesund und lebenskräftig ist.
4) Soziales Engagement ist in seiner Sinnhaftigkeit daraus begründbar, dass Menschen eben soziale Tiere sind, die nur in Gruppen überleben können. Um die eigene Loyalität mit der Gruppe zu demonstrieren, uniformieren sich Kirchentagsbesucher mit den passenden Schals. Eine vorbildliche Lebensführung stärkt den Gruppenzusammenhalt.
Kulturfähigkeit ist biologisch entstanden und eine Eigenart des Menschen. Dabei ist zu unterscheiden
a) genetisches Wissen aus 3,5. Milliarden Jahren Evolution,
b) individuelles Wissen aus der eigenen Lebenserfahrung und
c) kulturelles Wissen von den Vorfahren und anderen Menschen.
Junker widersprach der Meinung, ob der Mensch sich als Geschöpf Gottes oder als arrivierter Affe begreife, werde einen deutlichen Unterschied auf sein Verhalten ausmachen. Schließlich lebten seine religiösen Freunde zu 95% nicht anders als er.
Den göttlichen Befehl „seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) könne man sehr gut in die Sprache der Biologie übersetzen: Wer da spricht, das seien eigentlich unsere Gene in uns. Wir wissen nicht, woher dieser Drang kommt, also nennen wir den Urheber dieses Dranges „Gott“ - in Wahrheit seien es unsere Gene, meinte Prof. Junker.
Die Behauptung, die Wissenschaft könne nichts zum Sinn des Lebens sagen, sei folglich erkennbar falsch. Auf die Frage, welchem Weltbild wir dann folgen sollen, dem „religiösen“ oder dem „wissenschaftlichen“, ist für Junker die Antwort klar. Dem wissenschaftlichen könnten wir gar nicht entkommen, ob man nun noch konkurrierende religiöse Deutungen hinzufügt oder auch nicht. Im Blick auf die Diskussion um Wahrheit sei allerdings eine Koexistenz beider Meinungen schwierig. Im Blick auf unterschiedliche Lebenskonzepte andererseits ist es eine soziale Notwendigkeit, mit unterschiedlichen Vorstellungen zu koexistieren, ohne sich darüber die Köpfe einzuschlagen.
Dr. Michael Coors, Studienleiter an der Evangelischen Akademie Loccum, formulierte seine Gegenposition auf drei Ebenen: theologisch, wissenschaftstheoretisch und moralisch.
1) Theologie
Die Gegenposition auf den Anspruch, mit Wissenschaft letztlich alles erklären zu wollen, lautet nicht, dass die Theologie es besser könne als die Wissenschaft. Vielmehr behauptet JEDER Versuch einer absoluten Welterklärung einen Standpunkt, den der Mensch prinzipiell nicht haben kann. Es wäre ein Standpunkt Gottes, der von außen auf die Welt schaut. Den können wir als Mensch nicht haben. Daher steht jeder Anspruch umfassender Welterklärung unter Ideologieverdacht.
Nun hat die Theologie des Mittelalters selbst eine enge Verbindung von Theologie und Metaphysik gepflegt und sich als die wahre Welterklärung dargestellt. Diese Kritik trifft folglich auch solche traditionellen theologischen Positionen.
Luther betonte in seiner Auslegung des ersten Gebotes, dass es darum geht, das Gottsein Gottes anzuerkennen und das Menschsein davon zu unterscheiden. Dies ist weniger ein metaphysischer Satz, als vielmehr eine Demutsregel: Du bist als Mensch begrenzt - in deiner Wahrnehmung und in deinem Verstehen. Immer wenn ein Mensch etwas über die Welt sagt, dann als jemand, der in dieser Welt lebt und eben nicht Gott ist. Es gibt keinen objektiven Standpunkt außerhalb der Welt. Auch die Theologie weiß nicht alles, auch die Kirche weiß nicht alles. Wir nehmen immer nur bestimmte Perspektiven wahr. Wer meint genau, erklären zu können, „was die Welt im innersten zusammenhält“ beansprucht einen göttlichen Ausgangspunkt.
2) Wissenschaftstheorie
Wer die respektablen Ergebnisse einer naturwissenschaftlichen Theorie wie z.B. der Evolutionstheorie in eine Theorie zur Welterklärung übersetzen will, leistet der Evolutionstheorie einen Bärendienst. Die Wissenschaften konnten deshalb ihren Siegeszug antreten, weil sie sich als eine reine Methode verstanden haben – mehr nicht. Wenn Wissenschaftler nicht nur die Welt, sondern auch Gott erklären wollen, dann ignorieren sie sträflich die methodischen Grundlagen naturwissenschaftlichen Arbeitens.
Eine falsche vereinfachte Sichtweise meint, Naturwissenschaft beschreibe einfach, was da ist, und deswegen gilt das. Wenn es so wäre, könnten wir einen wissenschaftlichen Satz erst dann akzeptieren, wenn wir in allen Fällen überprüft haben, ob das so stimmt. Wir können aber so gut wie nie alle Anwendungsfälle untersuchen.
Die Plausibilität von wissenschaftlichen Aussagen liegt in Wahrheit darin, dass sie allgemein menschlichen Denkkategorien folgen, indem sie ihre Sätze in Form von Theorien formulieren, die logischen Regeln zur inneren Konsistenz entsprechen. Weiterhin gehört dazu, dass die Theorien auf die Erfahrung bezogen werden müssen und an Daten aus der Umwelt überprüft werden müssen. Eine Theorie ist folglich nur dann wissenschaftlich, wenn sie falsifizierbar ist. Wie sollte aber Junkers Theorie vom biologischen Sinn des Lebens falsifiziert werden?
Es gehört zum Wesen von Wissenschaft, ihre Aussagen auf die Bereiche zu beschränken, zu denen Aussagen aufgrund des methodischen Instrumentariums auch möglich sind. Darum ist – aus methodischen Gründen – die Frage nach Gott ebenso wie z.B. die Frage nach der Freiheit des Menschen ausgeklammert. Das bedeutet nun gerade nicht, dass es beides nicht geben würde. Die Frage der Freiheit passt aber nicht in das Kausalprinzip. Prof. Junkers Betrachtung des Gehirns als biomechanische Maschine ist im Rahmen naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen konsistent. Die vollständige Realität ist damit aber nicht abzubilden. Wenn wir uns auf reine Biologie reduzieren – warum sind wir dann Menschen und nicht eine dritte Schimpansenart?
c) Moral
Nur der Mensch beherrscht seine Umwelt in solch einem Maß, dass er sie sogar vernichten könnte. Durch die Vernunft ist der Mensch seinen Grundlagen aber nicht ausgeliefert. Kulturelle Errungenschaften bleiben ambivalent. Was gute und was schlechte kulturelle Errungenschaften sind, lässt sich nicht biologistisch entscheiden. Was natürlich ist, ist nicht automatisch gut. So ist es eine (wissenschaftlich exakte) sachliche Aussage, dass auf dem Tisch eine Flasche Wasser steht. Der Satz „Es ist gut, dass dort eine Flasche Wasser steht.“ ist hingegen ein moralisches Werturteil, das weder eindeutig ableitbar noch allgemein zustimmungsfähig sein muss. (Vielleicht wäre Bier ja angenehmer?)
Ein genetischer Gattungsegoismus definiert bestenfalls das als gut, was dem Überleben der eigenen Gattung dient. Es gibt sogar so etwas wie einen evolutionären Altruismus: eine indirekte Förderung der eigenen Entwicklung durch die Unterstützung anderer. Allerdings kann sich echte Ethik nur entwickeln, wenn zum evolutionären Altruismus auch ein kultureller hinzukommt. Der Mensch hat Anspruch auf Achtung, unabhängig davon, ob er etwas zur Ausbreitung seiner Gene beitragen kann oder nicht. Im biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter wird die Frageperspektive herumgedreht. Sie lautet nicht mehr „Wer ist mir der Nächste?”, sondern: „Wer bedarf meiner Hilfe, damit ich ihm zum Nächsten werden kann?“ Die Handlung des Samariters gegenüber der eigentlich religiös feindlichen Gruppe ist nicht evolutionär zu begründen und ist gegen die natürliche Neigung des Menschen. Solches ist aber das Fundament unseres Zusammenlebens, meinte Dr. Coors.
Die Debatte hat gezeigt, dass das Gespräch zwischen Glaube und Naturwissenschaft keineswegs davon geprägt ist, dass sich zwei Prinzipien unversöhnlich gegenüberstehen. Vielmehr ist ein starkes Ineinander zu beobachten: Die Argumente des wissenschaftlichen Theologen waren sehr stark Argumente der Wissenschaft. Er verteidigte die Wissenschaft gegen ihre Überforderung durch überzogene Deutungsansprüche. Umgekehrt zeigte sich die biologistisch-reduktionistische Auffassung des atheistischen Wissenschaftlers mehr von eigenen theologischen Grundentscheidungen geprägt, als er selbst wohl wahr haben wollte.