Keine Vergebung in Dornach

Zu Besuch bei der Anthroposophischen Gesellschaft im Goetheanum
Es ist ein wuchtiger Koloss aus Beton, der auf einem Hügel in Dornach in der Schweiz unweit der deutschen Grenze thront. Anthroposophischer Baustil in Reinkultur lässt sich dort studieren. Auch etliche Wohnhäuser in der Umgebung verraten durch ihre abgeschrägten Fensteröffnungen und eigentümlichen Dachkonstruktionen ihre Zugehörigkeit zur Anthroposophischen Glaubens- und Lebenswelt. Im Rahmen einer internationalen Tagung für Weltanschauungsbeauftragte gab es die Möglichkeit, bei einer Exkursion ins Goetheanum in Dornach mit Vertretern der Anthroposophischen Gesellschaft ins Gespräch zu kommen.

Den Anfang dieser Begegnung bildete eine Führung durch dieses Zentralheiligtum der Anthroposophie. Obwohl weder Opferplatz noch Anbetungsstätte repräsentiert dieses Gebäude doch gleichsam versteinerte Steiner-Verehrung.

Beton

Der Gründer der Anthroposophie, Dr. Rudolf Steiner (1861-1924), hatte an dieser Stelle bereits 1918 einen Theaterbau entworfen, der von seinen Anhängern ganz aus Holz gefertigt worden war. Nachdem dieses 1. Goetheanum 1922 abgebrannt war, wurde der Neubau komplett in Beton realisiert - ein damals relativ ungewöhnlicher Baustoff.

Für Anthroposophen wird dieses Bauwerk gewiss erhebend wirken: als künstlerischer Ausdruck geglaubter kosmischer Prinzipien, die Zeiten überdauernd in Beton gegossen. In gleicher Weise kann das Gebäude für Nicht-Anthroposophen als bedrückend empfunden werden mit seinem wuchtigen Dach und den bedeutungsschweren Ornamenten.

Im Gespräch konnten wir erfahren, dass die spitzen und stumpfen Winkel in der Architektur, die bei den anthroposophischen Bauwerken bevorzugt werden, künstlerischer Ausdruck organischer Kräfte sein sollen, wie auch in der Natur kaum rechte Winkel zu finden seien.

Bühnenkunst

Vom Foyer führen Stufen in einem abstrakten Treppenhaus nach oben in den großen Saal. Neben seiner Funktion als Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Hochschule für Geisteswissenschaft ist das Goetheanum vor allem eine Theaterbühne. Derzeit wird für Maria Stuart geprobt. Aber auch Konzerte und v. a. Eurythmie-Aufführungen stehen dort auf dem Programm.

Der Theatersaal ist ebenfalls voller figürlich-symbolistischer Elemente. Jeweils 7 angedeutete Säulen rechts und links sollen Entsprechungen zur in der Theosophie so beliebten 7-Zahl vermitteln, wie unsere Führerin erklärte. Zwischen den Säulen werfen farbige Scheiben mit eingeschliffenen Motiven ihr eigentümliches Licht in den Saal. Die Decke ist mit kräftigen, aber diffusen Farbverläufen ausgemalt. Am hinteren Ende des Saales gibt es sogar eine große Orgel, die aber nur selten gespielt wird.

Steiner-Museum

In einem anderen Raum werden diverse Artefakte von Steriner und aus dem ersten Goetheanum ausgestellt, die den Brand überstanden hatten. Unter diesen ist auch die große Holz-Plastik des „Menschheitsrepräsentanten“, einer Figur, die vor ahrimanischen und luziferischen dämonischen Verwicklungen steht und trotzig die Willensgeste zeigt. An dieser soll Steiner noch bis kurz vor seinem Tod intensiv gearbeitet haben.

Vereinsarbeit

50 000 Mitglieder hat die Anthroposophische Gesellschaft insgesamt, wie uns mitgeteilt wurde. Der Sympathisantenkreis ist aber deutlich größer, sonst ließen sich die 300 Mitarbeiter in der Zentrale in Dornach kaum finanzieren. Heftige innnere Kontroversen gab es in den letzten Jahren innerhalb der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft um Satzungsfragen, die bis vor dem Schweizer Bundesgericht ausgetragen wurden. Der Versuch, sich eine neue Verfassung zu geben, die weniger an das schweizer Vereinsrecht gebunden und mehr an den alten Statuten von 1923 orientiert war, musste aufgegeben werden.

Steiner gestern und heute

Spannend war die Antwort auf die Frage, was aus dem Abstand von fast 100 Jahren an Rudolf Steiners Werk aus heutiger anthroposophischer Sicht unbedingt zu bewahren, und was möglicherweise auch als zeitbedingt zu revidieren sei. Als Wertvollstes an Steiner wurde genannt:

  1. der anthroposophische Schulungsweg
  2. die Fortführung der Idee Goethes von der ganz anderen Form der Wissenschaft, die nicht wie die übliche Wissenschaft auf Aristoteles zurückgeht, und
  3. die Systematisierung der Lehre von Reinkarnation und Karma.

Beachtenswert ist diese Betonung der zentralen Rolle des Karmadenkens in der Anthroposophie auch deshalb, weil dies in der öffentlichen Darstellung anthroposophischer Aktivitäten oft unterrepräsentiert ist. Anthroposophische Medizin wird mit Sanftheit und Nastürlichkeit beworben, anthroposophische Bildung an Waldorfschulen und -kindergärten mit Kreativität und Individualität. Wenn dann Krankheiten oder Lernprobleme aus karmischen Verstrickungen erklärt werden, ist das Erstaunen oft groß.

Wissenschaft oder Offenbarung?

Dass der anthroposophische Begrif einer „erweiterten Wissenschaft“ eben keine Wissenschaft im üblichen Sinn darstellt, wurde kurz diskutiert. Das Paradoxon einer Ein-Mann-Wissenschaft beschreibt das anthroposophische Problem: Dem Anspruch nach müssten auf dem anthroposophischen Schulungsweg viele Menschen zu dieser Schau geistiger Dinge kommen können, die Steiner für sich behauptet hat. Diese müssten dann in der Lage sein, Steiners Beobachtungen nachprüfen, bestätigen oder korrigieren zu können, wie dies das Wesen jeder Wissenschaft bestimmt. Faktisch aber gibt es keinen zweiten Steiner, d.h. keinen Anthroposophen, der ehrlich von sich sagen kann, dass er das, was Steiner geschaut haben will, selbst ebenso detailliert sehen kann. Was ist das dann für eine Wissenschaft, in der niemand die Ergebnisse des ersten „Forschers“ überprüfen und bestätigen kann? Der Anthroposophie bleibt hier nur der Rückzug in bescheidenere Ansprüche. Das Studieren und Interpretieren von dem, was Steiner in Schriften und Vorträgen mitgeteilt hat (und nunmehr auch digital erschlossen ist), muss an die Stelle der eigenen Schau treten bzw. ihr Form und Richtung weisen. Im Ergebnis hat Steiner darum mehr mit einem Neuoffenbarer gemein als mit einem (Geistes-)Wissenschaftler.

Keine Versteinerung

Als mittlere Sensation wurde von verschiedenen anwesenden Experten die Antwort eingeschätzt, dass auch einiges an Steiners Äußerungen als zeitbedingt zu relativieren sei. So habe Steiner z.B. in der Philosophie die Ästhetik von Schelling und Hegel falsch wiedergegeben, auch sei die Kant-Rezeption von Steiner aus heutiger Sicht ebenso unzutreffend wie vieles über antikes Wissen, das dem damaligen Stand der Zeit entsprach. Steiner war nicht permanent auf Hellsichtigkeit, das gilt ebenso, wenn er auf seine Uhr schaute, wie wenn er vom alten Rom sprach.

Unser Gesprächspartner bekannte offen, dass dies seine persönliche Meinung sei. Daneben gebe es (leider) auch etliche Anthroposophen, die nicht zulassen wollen, dass Steiner fehlbar sei, weil sie zu sehr nach Gewissheit von außen suchen würden.

Karma ohne Vergebung

Wesentlicher für das Verhältnis zwischen Christentum und Anthroposophie ist aber die Antwort auf eine andere Frage: Ist im Rahmen des Karma-Denkens der Anthroposophie überhaupt Vergebung möglich?

Die Antwort war ein erstaunlich deutliches „Nein“. Ausgleich ja, aber keine Vergebung, bei der frühere Vergehen, Schuld und Sünde weggewischt werden und ohne Ausgleichsleistung ein neues Leben beginnen kann. An dieser Stelle zeigt sich der wohl wichtigste Unterscheid zwischen christlichem Glauben und anthroposophischer Weltauffassung. Christus habe keine vollständige Vergebung der Sünden gebracht, sondern lediglich die Menschenwesen beim Ausgleich und beim Tragen ihrer Schuld unterstützt - so die Meinung unserer Gesprächspartner. Das nimmt der christlichen Botschaft ihre Mitte. Wo bleibt da die befreiende „gute Nachrich“, das „Evangelium“? Vielleicht ist dies der Grund, weshalb anthroposophische Bauten und Einrichtungen auf mich eben nicht erhebend, sondern bedrückend wirken.

Harald Lamprecht

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/149

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2005 ab Seite 13