Das erste Jahrsiebt im Waldorfland

Christentum und Anthroposophie in der Waldorfpädagogik

Wohin mit den lieben Kleinen? Jedes Jahr aufs neue sind viele Eltern auf der Suche nach dem geeignetsten Platz für ihre Kinder. Ein Waldorfkindergarten wartet mit einer Fülle an Besonderheiten auf und ist auch für manche christliche Eltern durchaus attraktiv. Gibt es da ein weltanschauliches Problem? Immerhin wurde die Waldorfpädagogik 1919 von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, entwickelt, als dieser den Auftrag bekam, für die Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart eine Schule einzurichten. Einige Jahre danach entstand auch eine eigene Waldorfkindergartenpädagogik. Grundlage für die Waldorfpädagogik im Schul- und Kindergertenbereich ist das anthroposophische Verständnis vom Menschen und seiner Entwicklung.

Was einen Waldorfkindergarten ausmacht

Einen Waldorfkindergarten wird man immer schon am Äußerlichen erkennen: die Möbel sind aus Holz, es gibt viele Naturmaterialien zum Spielen, das Geschirr ist solide Töpferware, in den Regalen liegen verschiedenste Spieltücher bereit und eine Kochecke ist so selbstverständlich wie deren tägliche Benutzung.

Bücher werden Sie vergeblich suchen, und auch grelle Farben, Filzstifte, Plastik oder gar CDs finden sich nicht. Charakteristisch für einen Waldorfkindergarten ist die starke Orientierung an den Jahreszeiten. Auch der Tag und die Woche unterliegen einem immer wiederkehrenden, festen Rhythmus. Aktive Freispielphasen und zur Ruhe bringende Geschichtenzeiten, Singen oder „Basteln“ wechseln einander stetig ab. Der sogenannte Jahreszeitentisch, der die Elemente der jeweiligen Jahres- oder Festzeit aufnimmt und bildlich darstellt, ist eine weitere Eigenart. Und in der Regel ist es so, dass die Kinder an jedem(!) Tag in den Garten gehen, um auch dort frei spielen zu können und die Natur zu erleben. Prägend für die Waldorfpädagogik ist die Feier der verschiedenen Feste. Drei seien darum hier kurz vorgestellt.

Michaelis

Am 29. September wird an den Erzengel Michael erinnert, der laut Johannesoffenbarung 12,7 den Drachen besiegt hat. Die Kinder bekommen nun aber nicht diesen Text zu hören, sondern z. B. die Geschichte von der Königstochter in der Flammenburg. „Sie leiden, bangen und freuen sich mit dem Jüngling, der am Ende mutig den zwölfhäuptigen Drachen erschlagen kann und wachsen innerlich selbst daran… Für die Kinder werden so Mut-Seelenkräfte erlebbar…“1 Bei der Gestaltung der Festes komme es darauf an, den Kindern einen Zugang zu den „Wesensmerkmalen Michaels“, nämlich Mut und Entschlossenheit2 zu ermöglichen. Aus diesem Grund werden in der Regel Mutprobenspiele gespielt, oft sind dabei die Kinder Ritter und bekommen z.B. auch ein Strohschwert für ihre „Kämpfe“.

Die Elemente der Michaels- bzw. Georgslegende3 werden auf dem Jahreszeitentisch dargestellt: „Die Lanze steht für das Ausgerichtetsein auf ein Ziel. Sie schafft aber auch Abstand. Auf unser Bewusstsein übertragen, bedeutet dies, dass wir zuerst z. B. eine Aufgabe ins Auge fassen, dann aber, bevor wir mit der Aufgabe beginnen, gedanklich distanziert die Aufgabe angehen. Das Schwert steht für das Trennen. Nachdem wir die Aufgabe in unser Denken aufgenommen haben, können wir einzelne Bereiche voneinander trennen, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Nun müssen wir alles, was wir bedacht und getrennt haben, abwägen. Dafür steht die Waage. Dabei soll auch das Herz sprechen, um eine moralisch, richtige Entscheidung finden zu können.“

Adventsgärtlein

In der Adventzeit können die „Waldorfkinder“ das Adventsgärtlein betreten. Ein abgedunkelter Raum wird nur von einer großen Kerze in der Mitte erhellt. Ringsherum liegt eine große Spirale aus Tannenzweigen. Während die Erwachsenen ein Adventslied singen, kommen die festlich gekleideten Kinder Hand in Hand in den Raum und nehmen mit folgendem Spruch ihre Plätze rund um die Spirale ein. „Die Spende des Lichts wir dankbar empfangen, doch wollen wir nichts für uns nur erlangen. Weiter wir´s geben, einer dem andern, voll wachsendem Leben, soll weiter es wandern. Bis alle Herzen der Brüder entzündet, bis allen Menschen Freude verkündet.“

Nach dieser traditionellen Einleitung geht eine Erzieherin die Spirale nach innen bis zu der großen Kerze, zündet ihre in einen Apfel gesteckte Kerze an und setzt sie in die Spirale. Die Kinder folgen einzeln, gehen langsam bis zur Mitte und entzünden ihr Apfellicht. „Es ist ein besonderes Erlebnis, wenn der Raum sich mit jeder Kerze, die die Kinder entlang der Spirale aufstellen, langsam erhellt. Flöte, Harfe und Gesang begleiten die Kinder, die im Abschluss ihr Licht in Empfang nehmen und den ersten Adventsfunken vorsichtig in der Laterne nach Hause tragen.“

Allen Elementen der Feier kommt eine eigene Bedeutung zu. Der Apfel, der das nach oben strebende Kerzenlicht (=Erkenntnis) trägt, wird mit der Sterblichkeit in Verbindung gebracht. „Mit der Sterblichkeit und dem Erdenweg findet aber auch der Mensch zu seinem individuellen Ich. Wenn wir den Apfel als Symbol der irdischen Erkenntniskräfte zum Träger des Lichts machen, welches aus der irdischen Sphäre hinauszudrängen versucht, haben wir das Bild des Aufsteigens von der Naturerkenntnis zur Geist-Erkenntnis.“6 Über den Spiralenweg nach innen, mit der „Erleuchtung“ in der Mitte, geht das Kind den „adventlichen Weg nach innen. Es ist ein Weg der Individualisierung. … Das Abstellen des eigenen Lichts zu den anderen Lichtern ist das andere Bild, das Bild der Sozialisierung. … Erfahrene Erzieher/innen können sehr viel vom Wesen eines Kindes beim Hinein- und Herausgehen des Kindes erkennen.“
Eine Erklärung dieser und weiterer Elemente findet nicht statt, die Feier allein und das Erleben stehen im Mittelpunkt.

Geburtstag

Der Geburtstag eines Kindes kann so gefeiert werden, dass es nicht nur einen Kuchen, Kerzen und Lieder gibt, sondern z.B. auch das „Geburtstagsmärchen“ des Geburtstagskindes. Das kann in etwa so erzählt werden:

Es war einmal, vor vier Jahren etwa, da saß die Lisa auf der Himmelswiese und mit ihr waren da noch … (Namen der jüngeren Kinder aus der Gruppe und vielleicht auch Geschwister). Und das Kindelein Lisa schaute durch ein Loch hinab auf die Erde. Dort erblickte sie Mutter und Vater (und ggf. Namen der älteren Geschwister) und in ihr wuchs der Wunsch zu ihnen zu gehen. Da ging der Himmelsengel hinab zu den Eltern und fragte, ob das Kindelein zu ihnen kommen dürfe. Die Eltern wollten dies gern und so begleitete der Engel das Kindelein zur Himmelpforte, wo es seine Himmelskleider ablegte. Nun schlief das Kindelein bis zum Herbst (Jahreszeit des Geburtstages) bei seiner Mutter. Dann wurde das Kindelein geboren und bekam den Namen Lisa. … (hier schließen sich Erlebnisse und Entwicklungen des Kindes an, bis zum aktuell gefeierten Geburtstag).

Die anthroposophischen Grundlagen

Diese Art der Feiergestaltung und der Umgang mit den Kindern ist in vielen Punkten ein Ergebnis der darin sichtbar werdenden anthroposophischen Einstellungen. So transportiert das „Geburtstagsmärchen“ direkt die anhroposophische Vorstellung, dass in der Tat ein Kind sich im Rahmen der Reinkarnationsvorstellung entsprechend seiner karmischen Lebensaufgabe seine Eltern selbst aussucht. Dabei wird das anthroposophische Verständnis einer immerwährenden Weiterentwicklung des Menschen deutlich. Ziel dieser ist eine Vervollkommnung im Sinne einer Hineinentwicklung in die geistige Welt. Dabei sollen die niederen Wesensglieder (s.u.) vergeistigt werden. Die Früchte dieses Prozesses könnten mit in die nächste Reinkarnation genommen werden. Die Kontinuität zwischen den Inkarnationen werde durch das Karma gewahrt: Das Schicksal eines Erdenlebens sei das Produkt einer früheren Inkarnation.

Elementar ist ferner die Überzeugung, dass der Mensch zum einen in Seele, Geist und Leib dreigegliedert ist und zum anderen vier einander umgreifende Leiber hat. Bei der sogenannten ersten Geburt werde nur der physische Leib geboren, die übrigen sind angelegt. In den ersten sieben Jahren bilde sich das Wollen und zusammen mit der abschließenden Entwicklung der Organe auch die Sinne. Im zweiten Jahrsiebt kommt das Fühlen / Empathie (Ätherleib), dann im dritten das Denken (Astralleib) hinzu. Erst mit dem vierten Lebensjahrsiebt werde das Ich inkarniert. Dieser Inkarnationsprozess muss harmonisch erfolgen, damit das Leben gelingen kann und ein weiterer Weg in die höheren Erkenntnisstufen möglich ist.

Die Waldorfpädagogik in Steiners Sinne als eine „Inkarnationshilfe“ zu verstehen. Unter den richtigen Voraussetzungen könnten die „Bildekräfte“ die noch nicht fertigen Organe des Kleinkindes richtig ausbilden, was die Voraussetzung für die weitere gesunde, geistige Entwicklung sei. Daraus ergibt sich die pädagogische Forderung nach Sinnespflege. Diese drückt sich unter anderem darin aus, dass die Sinne in „unverfälschter“ Weise angesprochen werden sollen, z.B. durch Naturmaterialien, die mit Phantasie genutzt werden können und durch erzählte Geschichten anstelle von Büchern. Auch sollen Prozesse erlebbar gemacht werden, z.B. vom Weizenkorn zum Brotbacken.

Außerdem sei darauf zu achten, die Kinder in der, ihrer Entwicklung angemessenen Weise anzusprechen. Das bedeutet, dass Waldorfpädagogen es unterlassen sollen, den Kindern auf einer intellektuellen Ebene zu begegnen. Da das Denken erst mit Beginn der Pubertät „geboren“ wird, sei es schädlich die kleinen Kinder darüber anzusprechen. Stattdessen hat das tätige und auch nachahmenswerte Vorbild der Erziehenden in Verbindung mit dem direkten sinnlichen Erleben der Umwelt und all ihrer Zusammenhänge zentralen Stellenwert. Dies wird von Rhythmus und Ordnung begleitet, die eine sichere Umgebung schaffen sollen.

In diesem Zusammenhang steht das bildliche Feiern der Feste ohne Erklärungen oder Deutungen. Die skizzierten Hintergründe der Feste bleiben für die Kinder (und Eltern) im Verborgenen. Das Erlebte wird nach der anthroposophischen Vorstellung erinnert und zu einem späteren Zeitpunkt, d.h. wenn die Grundlagen dafür geschaffen sind, kognitiv verstanden und für eine geistige Weiterentwicklung nutzbar gemacht.

Christliche Perspektive

Waldorfpädagogik ist von der Weltanschauung der Anthroposophie zutiefst geprägt und durchdrungen. Dennoch brauchen Christen keine Angst vor dieser Pädagogik zu haben. Mit einer angemessenen Herangehensweise lassen sich getrost ihre Vorteile genießen, wenn man z. B. die naturnahen Erlebnisse oder die mit viel Einsatz gestaltete Feier der unterschiedlichen Feste als Vorteil sieht. Die Sorge vor einer Indoktrination mit nichtchristlichen Inhalten ist in den allermeisten Fällen unbegründet, denn es lässt sich mit einfachen Mitteln gegensteuern. Das gilt 1) weil die Kinder durchaus in ihrer Individualität wahrgenommen und geschätzt werden und auch die Achtung von religiösen Gefühlen groß geschrieben wird, und 2) weil die einzelnen anthroposophischen Elemente den Kindern gerade nicht erklärt werden.

Deshalb ist es aber möglich und notwendig, dass christliche Eltern die Eindrücke der Kinder zu Hause entsprechend begleiten und dabei die jeweils christliche Perspektive zur Sprache bringen und miteinander leben.

Dass Michael den Drachen nur mit Hilfe der eigenen Seelenkräfte besiegt hätte, entspricht keineswegs der biblischen Aussage. Die Erlösung (vom „Drachen“) hängt nicht von eigenem Mut oder Seelenstärke ab, sondern geschieht allein aus Gottes Gnade im Vertrauen auf Jesu Tod und Auferstehung. Michael ist in der Johannesoffenbarung gerade kein hoch entwickelter Mensch mit besonderer Leistungskraft, sondern führt als Engel Gottes eigenen Kampf gegen das Böse. Die einfache Feststellung „Ich bin froh, dass Jesus uns gerettet hat…“ reicht vielleicht schon für eine erste Klärung.

Weiterhin ist der christliche Lebensweg auf Erden keiner der fortschreitenden Erkenntnis und Vergeistigung, sondern der Buße und Umkehr zu Gott hin. Der Hinweis darauf, nicht alles zu wissen, wohl aber dass das eigene Geschick in Gottes Weisheit bewahrt ist, kann den Kindern diese Einsicht näher bringen.

Christen bekennen Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde. Als Geschöpf Gottes steht der Mensch Gott von Anfang an als Person gegenüber. Er ist nicht im Werden und noch vollständig geboren werden müssen, sondern von Gott angesprochen und in die Beziehung gerufen. Und so ist auch ein Kind schon Mensch, vor Gott und den Menschen, nicht etwa nur „Sinnesorgan“. Nach weit verbreiteter christlicher Überzeugung beginnt das menschliche Leben mit der Zeugung und ist einmalig. Die Auferstehung ist kein rein geistiger Vorgang sondern betrifft auch den Leib (vgl. 1. Kor 15).

Auch in anderen Bereichen als den hier kurz dargestellten, werden die anthroposophischen Überzeugungen zu Tage treten. Christliche Eltern sollten sich z.B. darüber informieren, welches Dankgebet zu den Mahlzeiten gesprochen wird und welche Sprüche und Lieder den Tageslauf insgesamt begleiten. Außerdem sollte nachgefragt werden, inwiefern eine Einbeziehung der Elternschaft in die pädagogischen Belange im Kindergarten möglich und gewollt ist. In jedem Fall ist es aber wichtig, den Kindern vom eigenen Glauben zu erzählen, wo immer es geht, und sich dazu fragen zu lassen.

Charlotte Bornemann

war im Jahr 2013 Praktikantin an der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens.

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/312

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 4/2013 ab Seite 10