Die Heilige Schrift verstehen
Wie können wir die Bibel heute richtig verstehen? Welche Methoden helfen bei der angemessenen Schriftauslegung und wie ist das Verhältnis zwischen dem Wort Gottes in der Bibel und dem Reden Gottes heute? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der 7. Begegnungstagung zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche und der Neuapostolischen Kirche (NAK), die vom 22. bis 23. April 2016 im Bethlehemstift Hohenstein-Ernstthal stattfand.
Gotteswort im Menschenwort
In der Bibel begegnet uns das Wort Gottes in Texten, die von Menschen geschrieben wurden - in konkreten Situationen und auf bestimmte Fragen hin. Sie sind gesammelte Erfahrungen mit Gott. Dass Gott sich darauf eingelassen hat, diese unvollkommene und gelegentlich auch missverständliche Form der Übermittlung zu wählen, ist Teil seiner Menschwerdung. Er will in dem Schwachen stark sein (vgl. 2. Kor 12,9). So, wie er selbst in dem äußerlich machtlosen Jesuskind als Mensch zu den Menschen kam, so kommt sein Wort im menschlichen Wort der biblischen Autoren zu uns. „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ (2 Kor 4,7) – begrenzt von unserer Sprache und unserem Verstand, die das Göttliche nie vollständig fassen können. Zugleich ist die Bibel „Heilige Schrift“ und mehr als ein Roman oder frommes Erbauungsbuch aus dem ersten Jahrhundert. Im Bibeltext begegnet uns auch Gottes Heiligkeit, und die Texte fügen sich nicht immer bruchlos in eigene Erwartungshaltungen ein. Diese „Ecken und Kanten“ sind nicht vorschnell abzuschleifen, denn darin entsprechen sie dem menschlichen Leben, das auch seine „Ecken und Kanten“ enthält. Durch das Wirken des Heiligen Geistes geschieht es immer wieder, dass die Bibel im eigenen Leben lebendig wird, dass sie mehr wird als ein Geschichtsbuch oder eine theologische Abhandlung und zu einer Begegnung mit Gott führt. Letztlich ist dieser Zugang aber nur im Glauben zu finden.
Widersprüche?
Es ist zunächst als Fakt anzuerkennen, dass manche Bibeltexte auf der Ebene der Sachaussagen widersprüchliche Angaben machen. So werden z.B. die Umstände bei der Bekehrung des Paulus in Apg. 9 und 22,8 sowie 26,12ff. im Detail unterschiedlich geschildert. Nun ist es auch heute bereits 10 Minuten nach einem Verkehrsunfall oft schwer, übereinstimmende Zeugenaussagen vom Verlauf des Geschehens zu bekommen. Insofern sind solche Varianten zunächst ein Beleg für die hohe Treue der Textüberlieferung - denn was hätte näher gelegen, als solche offensichtlichen Widersprüche im Verlauf der Überlieferung zu glätten und zu harmonisieren? Dass dies nicht erfolgte, beweist den hohen Respekt im Umgang mit den Texten. Entscheidend ist es aber, die Aussageabsicht der biblischen Texte zu beachten. Die Bibeltexte wollen weder naturwissenschaftlicher Laborbericht noch Polizeiprotokoll sein, sondern Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Gott und Mensch darstellen und vermitteln. So folgt die unterschiedliche Datierung der Kreuzigung bei Markus und bei Johannes jeweils aus einem anderen theologischen Konzept. Für die Wahrheit der Heiligen Schrift ist eine absolute Irrtumslosigkeit in den äußeren Dingen, wie sie von bibelfundamentalistischen Gruppen gefordert wird, nicht erforderlich, denn ihre Intentionen liegen auf der geistlichen Ebene. So wie Beziehungen vielfältig sind, so sind auch die Bibeltexte nicht einlinig. Gott mutet den Christen zu, sein Wort in mehreren, teils widersprechenden Evangelien zu finden. Dies kann auch als Vorbild für die Ökumene verstanden werden, die Einheit der Kirche nicht in Uniformität, sondern in versöhnter Verschiedenheit zu suchen, die auf Jesus Christus als gemeinsame Mitte bezogen ist.
Bibelwort und Apostelwort
„Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ (2. Kor 3,6) Diese Aussage ist in der Tradition der Neuapostolischen Kirche mitunter dahingehend interpretiert worden, dass das aktuelle Apostelwort über den biblischen Aussagen stünde. So soll aber heute in der NAK keiner mehr predigen und diese Stelle aus dem Zusammenhang reißen, erklärte Apostel Jens Korbien, der in der NAK für Sachsen-Anhalt und den östlichen Teil von Sachsen verantwortlich ist. Der Katechismus der NAK bemüht sich auch um eine Klärung dieses Verhältnisses. Ausführlich beschreibt er zunächst die grundlegende Bedeutung der Bibel für Glauben und Leben in der NAK. Dieser Abschnitt ist nicht ohne Grund den Aussagen über das Apostelwirken vorgeordnet. Der nachfolgende Abschnitt im Katechismus über „Offenbarungen des Heiligen Geistes“ sorgt für Diskussionsstoff zwischen den Konfessionen - so auch auf dieser Tagung.
Neue Offenbarungen?
Die Diskussion zeigte, dass die NAK in ihrer Tradition unbefangener mit dem Begriff der Offenbarung umgeht und ihn dahingehend versteht, dass Gott auch heute wirkt, zu Menschen spricht und sie zum Glauben führt. Für evangelische Ohren werden damit aber Assoziationen an Neuoffenbarungsbewegungen wie z.B. Mormonen, Jakob Lorber etc. geweckt, die dem biblischen Wort spätere medial empfangene und angeblich ebenso göttlich autorisierte Lehrtexte hinzufügen wollen.
Damit hat das gegenwärtige Verständnis des Begriffes in der NAK nichts zu tun, wie aus den Ausführungen von Apostel Gerald Bimberg hervorging. Hier geht es darum, dass das Apostolat (ähnlich wie in der röm.-kath. Kirche) ein Lehramt für sich in Anspruch nimmt. Dieses ermöglicht, Erkenntnisse des zeitgemäßen Willens Gottes, die sich aus der Interpretation der Bibel ergeben, als verbindliche Lehre für diese Kirche zu formulieren. Als Beispiele werden die erneute Apostelsendung im 19. Jh. sowie die Praxis der Entschlafenengottesdienste in der NAK genannt. Im Übrigen vollzieht sich die Inanspruchnahme der Lehrvollmacht eher unspektakulär in der Weise, dass in den Gremien der NAK (z.B. Bezirksapostelversammlungen) vorbereitete und abgestimmte Arbeitsgruppenergebnisse letztlich durch den Stammapostel veröffentlicht und in Kraft gesetzt werden, ähnlich wie landeskirchliche Gesetze vom Präsidenten des Landeskirchenamtes unterzeichnet werden.
Die Rede von „neuen Offenbarungen“ in der NAK bedeutet nicht, dass der Stammapostel etwas verlautbaren könne, was nicht in der Heiligen Schrift angelegt sei, betonte Apostel Wosnitzka, sondern es geht darum, ggf. in Details die Schwerpunkte anders zu setzen als bisher, weil unter der Führung des Heiligen Geistes auch dazugelernt werden kann. In den Gesprächen wurde dies u.a. mit den Diskussionen über einen veränderten Umgang mit homosexuellen Partnerschaften in der Evangelischen Kirche verglichen.
Methoden der Schriftauslegung
In Apg. 8,31 fragt der Kämmerer: Wie kann ich das Gelesene verstehen, wenn mich niemand anleitet? Um eine solche Anleitung bemühen sich verschiedene Methoden der Bibelinterpretation, die von Pfn. Uta Gerhardt anschaulich vorgestellt wurden. Für die gegenwärtige Theologie sind die verschiedenen Instrumentarien der sog. „historisch-kritischen“ Methode (Textkritik, Literarkritik, Formgeschichte, Redaktionsgeschichte etc.) grundlegend geworden, die möglichst exakt die Entstehungssituation der Texte rekonstruieren und diese Erkenntnisse für die Auslegung fruchtbar machen wollen. Demgegenüber postuliert die als Gegenbewegung entstandene fundamentalistische Bibelauslegung eine Irrtumslosigkeit der Bibel auf der Basis einer strengen Verbalinspirationslehre, die dazu zwingt, alle Widersprüche zu harmonisieren. Letztlich ist dieses Verständnis ebenso ein Kind des Rationalismus - mehr als die Methode selbst es wahrhaben will. Mit dem Namen des Neutestamentlers Rudolf Bultmann ist nicht nur die Entmythologisierung verbunden, sondern auch die sog. existenziale Interpretation, die vergleichbare existenziale Grunderfahrungen der Menschen von damals und heute sichtbar machen möchte. Die sozialgeschichtliche Auslegung bemüht sich um eine genaue Kenntnis und Berücksichtigung der sozialen Situation der Texte. Dann zeigt sich, dass z.B. das 4. Gebot nicht zur Disziplinierung von Kindern gedacht ist, sondern Erwachsene an die Verantwortung für ihre gebrechlich gewordenen Eltern erinnert. Die feministische Auslegung will als Spezialform der sozialgeschichtlichen Auslegung auch den Frauen Sitz und Stimme verschaffen, deren Beitrag in einer patriarchalischen Gesellschaft nicht hinreichend gewürdigt wird, in der Bibel aber an etlichen Stellen aufscheint. Die tiefenpsychologische Auslegung, wie sie z.B. prominent von Eugen Drewermann vertreten wurde, will hinter der bewusst vom Autor formulierten Aussage eine Tiefenstruktur sichtbar machen, in der sich unbewusste Vorgänge der Seele (Angst, Vertrauen, Einsamkeit, Geborgenheit, Abhängigkeit, Freiheit etc.) widerspiegeln. Als praktisch und gemeinschaftsorientiert erweist sich die Methode des „Bibel teilen“, bei der eine Gruppe gleichberechtigt ein strukturiertes Gespräch über einen Bibeltext führt.
Bibliolog
Krönender Abschluss der Zusammenkunft war das gemeinsame Nachspüren der biblischen Erzählung aus Johannes 8 unter fachkundiger Anleitung von Pfn. Uta Gerhardt. Die Methode des Bibliologes erlaubt es, den Akteuren und Randfiguren einer Geschichte die eigene Stimme zu leihen. Indem der Versuch gemacht wird, sich in diese Rollen hineinzuversetzen und mögliche Gefühle und Gedanken der beteiligten Personen auszusprechen, können bisher nicht entdeckte Dimensionen eines Bibeltextes lebendig werden.
Fortsetzung folgt
Die Begegnung zwischen den Konfessionen wurde von den Beteiligten als sehr gewinnbringend erlebt, weil unterschiedliche Sichtweisen ausgesprochen werden konnten, aber auch die breite Basis gemeinsamer christlicher Überzeugungen wieder sichtbar wurde. Deshalb ist es naheliegend, dass eine Fortsetzung im Jahr 2017 beschlossen wurde, bei der das Thema der Trinität gemeinsam bedacht werden soll.