Auf dem Diamantweg
Der Buddhismus ist vielfältig - auch in Dresden. Traditionell unterscheidet man drei Hauptrichtungen:
- den Theravada-Buddhismus („Weg der Alten“) als klassischen Mönchsbuddhismus, wie ihn der Gründer des Buddhismus Gautama Siddharta gelehrt hatte,
- den Mahayana-Buddhismus („großes Fahrzeug“), wie er ab 400 Jahre nach Buddhas Tod entstand und bei dem eine Buddha-Verehrung aufkommt und Bodhisattvas als Unterstützer auf dem Weg zur Erlösung auftreten, sowie
- den Vajrayana-Buddhismus („diamantenes Fahrzeug“), wie er ab 1000 n.Chr. in Tibet entstand und den Buddhismus mit vielen Elementen der dortigen traditionellen schamanistischen Bön-Religion verband.
Es ist ein eigenartiges Phänomen, dass in Asien der Mahayana-Buddhismus vorherrschend ist, während in Europa die meisten buddhistischen Zentren zu den verschiedenen Zweigen des tibetischen Buddhismus gehören. Warum ausgerechnet diese von der klassischen „Vernunftreligion“ des traditionellen Buddhismus am weitesten entfernte Form voller tibetischer Lokalreligion die Westeuropäer so stark anspricht, wäre noch ein spannendes Forschungsthema.
Neben der Gelugpa-Schule, die durch den Dalai Lama weltweite Bekanntheit erworben hat, ist es insbesondere die Kagyü-Schule und von dieser wiederum der Zweig des Karma-Kagyü, der durch das Wirken des dänischen Lama Ole Nydahl in Europa sehr starke Verbreitung gefunden hat. Die unbescheidene und marketingtechnisch wirksame Selbstbezeichnung dieser Richtung als „Diamantweg-Buddhismus“ kann etwas die Tatsache verschleiern, dass es lediglich eine spezielle Schulrichtung innerhalb des ebenfalls insgesamt als „diamantenes Fahrzeug“ bezeichneten tibetischen Vajrayana-Buddhismus darstellt.
Obwohl sich die von Ole Nydahl begründeten Zentren in einer Traditionslinie des tibetischen Buddhismus sehen, unterscheiden sie sich doch durch ihre vergleichsweise aufgeräumte Nüchternheit deutlich von anderen tibetisch geprägten buddhistischen Zentren. Das zeigt sich auch in dem Dresdner Zentrum, das von der AG Religiöse Gemeinschaften des Evangelischen Bundes Sachsen im Juni 2016 besucht wurde.
Karmapa und Sharmapa
Dort, wo in anderen buddhistischen Zentren zum Teil riesige goldene Buddhafiguren das Blickfeld bestimmen, hängen hier im Meditationsraum drei Fotos von den Menschen an der Wand, die für die Traditionslinie große Bedeutung haben. Daneben wirken die auch vorhandenen goldenen Figuren darunter relativ klein.
In der Mitte und etwas größer als die anderen hängt das Bild des 14. Sharmapa, Shamar Rinpoche (1952-2014), der nach dem Karmapa der zweithöchste Würdenträger in der Kagyü-Linie ist.
Rechts neben ihm hängt das Bild von Lama Ole Nydahl (*1941). Auf seiner Hochzeitsreise war der Däne 1968 nach Nepal gekommen und dem 16. Karmapa Rangjung Rigpe Dorje begegnet. Dies veränderte sein Leben nachhaltig. Er ließ sich zum tibetischen Lehrer ausbilden (u.a. auch von Shamar Rinpoche) und gründete ab 1973 bis heute über 600 Zentren der Karma-Kagyü-Linie in Europa.
Nachdem 1981 der 16. Karmapa starb, musste in traditioneller Weise ein Junge als Reinkarnation gesucht werden. Dabei kam es zu einer folgenschweren und bis heute andauernden Spaltung. Während zahlreiche Würdenträger - unter ihnen der Dalai Lama - den 1985 in Osttibet geborenen Urgyen Trinley Dorje als 17. Karmapa inthronisierten, präsentierten Shamar Rinpoche und Ole Nyahl einen Gegenkandidaten. Sie bezeichnen den 1983 in Lhasa geborenen Thaye Dorje als 17. Karmapa. Im Hintergrund stand der u.a. der politische Konflikt zwischen Tibet und China mit der Sorge, dass die chinesischen Machthaber sich Urgen Trinley Dorjes bedienen könnten, um den Dalai Lama abzulösen. Das Bild des als 17. Karmapa propagierten Thaye Dorje hängt im Meditationsraum links neben seinem „Entdecker“ und Förderer Shamar Rinpoche.
Unter den Bildern stehen fünf Figuren. Auffällig ist, dass die mittlere und größere, auf einem Sockel erhöhte goldene Figur wiederum keinen Buddha darstellt, sondern ebenfalls den 16. Karmapa. Deutlicher lässt sich sein Einfluss auf Ole Nydahl und die von ihm geprägte Linie kaum darstellen. Rechts neben ihm ist einer seiner Vorgänger, der 8. Karmapa ebenfalls in Gold figürlich dargestellt.
Drei Buddhaformen gibt es dennoch auf diesem Hausaltar: Buddha Shakyamuni - eine Darstellung des historischen Gautama Siddharta in der Meditation befindet sich auf der linken Seite, vorn in der Mitte sind die vier Aktivitätsbereiche Buddhas in der Figur eines Buddhakriegers verkörpert und rechts davon steht die sog. weiße Tara, die in weiblicher Form Reinheit und Mitgefühl verkörpern soll. Was fehlt, sind die in buddistischen Zentren anderer Linien zu findenden Speisen für die Figuren. Auch an dieser Stelle zeigt sich die größere Pragmatik und Nüchternheit dieser Diamantweg-Zentren.
Geist und Erfahrung
Im Gespräch erläutern die Gastgeber einige Elemente ihrer buddhistischen Weltsicht. Bei Buddha gebe es keine Gesetze, sondern nur Ratschläge. Das eigentliche Ziel ist, von Leid zu befreien. Ausgangspunkt des Leides ist die Unwissenheit, die zu störendem Verhalten führt (Zorn, Begierde, Eifersucht, Anhaftungen etc.) Die Unwissenheit betrifft auch den eigenen Geist, der dem Ego eine Illusion eines eigenen Ichs suggeriert.
Das Erwachen zur Buddhaschaft wird verglichen mit einem Kinobesuch: Wir sind von der Handlung des Films gefesselt, identifizieren uns mit dem Hauptdarsteller, hoffen und bangen mit ihm. Aber dann kommt die Erkenntnis: Ich sitze im Kino. Es ist nur ein Film. Der Hauptdarsteller bin nicht wirklich ich, er ist nur auf der Leinwand. Er ist eine Fiktion - so wie das Ich eine Fiktion des Geistes ist.
Im Buddhismus zähle nur die Erfahrung. Der Körper ist der Empfänger dieser Erfahrung. Aber der Körper produziert nicht den Geist, sondern andersherum: der Geist produziert den Körper und die Welt. Der Geist ist kein Ding, sondern alles geschieht im Geist. Wenn der Körper im Tod wegfällt, geht der Geist dennoch weiter und solange er glaubt, dass da noch ein „Ich“ ist, drängt er in die nächste Inkarnation. Die Gewohnheit dazu ist sehr stark, so dass der Ausbruch aus dem Kreislauf der Reinkarnationen nicht leicht ist. Der Karmapa – so heißt es – habe dies hinter sich gelassen. Er ist im Nirvana, genauer gesagt: sein Geist ist so frei, dass er nicht inkarnieren müsste. Er tut es dennoch freiwillig, um andere zu unterstützen. Dies gehört zum Bodhisattva-Ideal des Mahayana-Buddhismus (der im Vajrayana enthalten ist). Der tibetische Ehrentitel „Rinpoche“ bedeutet „Kostbarer“, weil ein solcher Tulku (wiedergeborener Meister) durch die Menschlichkeit geht, um anderen zu helfen. Aus der Erkenntnis, dass wir nicht von anderen Wesen getrennt sind, erwächst das Mitgefühl.
Der Lehrer als Meister
Auf der Stufe des Theravada erfolgt die individuelle Befreiung von der Illusion des Ichs. Im Mahayana treten Mitgefühl und Weisheit hinzu, die auch andere in den Blick nehmen. Der Diamantweg fügt diesen beiden Stufen, wo man gehen und laufen lernt, nun (symbolisch gesprochen) das Fliegen hinzu. Dafür braucht es aber zwingend einen Lehrer. Der schnelle Weg zur Erleuchtung sei nur zu finden, wenn jemand mit der Erfahrung von Ganzheit und Erkenntnis zur Seite steht.
Diese Aussagen erklären die bereits in der Ikonografie sichtbare hohe Stellung des spirituellen Lehrers im tibetischen Buddhismus. In den Meditationsübungen ist die Identifikation mit dem Karmapa wichtig, wobei der erste, der dritte, der neunte und der 17. Karmapa eine besondere Rolle spielen. Der Karmapa sei derjenige, „der es tut“ (Karma = Tat) und daher zugleich ein Prinzip und nicht nur eine Person.
Kann ein Karmapa irren? Nein, kann er nicht, meinten unsere Gesprächspartner. Wir könnten es zwar so erleben, dass wir etwas als falsch empfinden. Aber auf seiner Ebene erkennen wir, wie die Dinge sind. Der Karmapa habe diese Erkenntnis.
Zu den verschiedenen Schulrichtungen und Meinungen innerhalb des (auch tibetischen) Buddhismus wird erklärt, der Buddhismus sei wie eine große Apotheke. Dort gibt es viele verschiedene Mittel. Alle sind heilsam. Nicht alle sind für jeden geeignet und es wäre falsch, alle einnehmen zu wollen. Dieses Bild zeigt eine große Gelassenheit im Umgang mit konkurrierenden Schulrichtungen.
Ethik?
Die Begründung zu ethischem Verhalten erscheint wechselhaft. Einerseits ist das Mitgefühl ein zentraler Wert des Buddhismus und auch die Prämisse, Leid zu vermeiden, kann durchaus als starke Grundlage für ethische Entscheidungen dienen. Andererseits steht ein philosophisch/religiöses Konzept dahinter, welches das irdische Leben letztlich als unwirklich betrachtet. Eigentlich gehe es darum, die Bedeutungslosigkeit alles irdischen Geschehens zu erkennen. „Erleuchtung ist wie Malen im Wasser“ – es macht keinen Sinn die Welt verändern zu wollen, denn in der Vergänglichkeit hat nichts davon Bestand, meinen unsere Gesprächspartner und erläutern ihre Prioritäten: Mitgefühl impliziert den Wunsch, dass andere nicht Leiden mögen. Das bedeutet, nicht selbst mit in die Grube zu springen, sondern eine Leiter zu holen. Einem Notleidenden könnte ich Geld geben - das hilft hier und jetzt. Aber es ändert die Welt nicht. Besser wäre es, ihm eine Ausbildung zu verschaffen, das hilft ihm sein ganzes Leben. Noch besser wäre es, ihm die [buddhistische] Lehre zu geben, denn das helfe ihm bis zur Erleuchtung.
Äußerungen von Lama Ole Nydahl, die er bei einem früheren Besuch in Dresden vorgenommen hatte, werden verteidigt. Damals hatte er den Anwesenden zu ihrem guten Karma gratuliert, das dafür gesorgt habe, dass sie hier in Deutschland wiedergeboren worden seien und nicht in Afrika. Den Zynismus dieser Aussage und die darin enthaltene Täter-Opfer-Umkehrung angesichts der Folgen des Kolonialismus scheinen unsere Gesprächspartner nicht zu erkennen, sondern erklären, diese Aussage sei karmisch korrekt und richtig. Zu den Bedingungen zum Erreichen der Buddhaschaft gehöre ganz traditionell eben auch, in einem Land geboren zu werden, wo dies möglich ist. Im Übrigen sei Ole Nydahl oftmals absichtlich provozierend, um diejenigen zu vertreiben, die nicht zu seiner Form der buddhistischen Lehrinterpretation passen. So erzähle er auch gern schlüpfrige Witze, um die Mönche zu verschrecken, denn in den Diamantwegzentren wird ein reiner Laienbuddhismus gepflegt.
Christentum und Buddhismus
„Ein feste Burg ist unser Gott“ steht mit großen Lettern unter dem Giebel des klassizistischen Gebäudes in der Dresdner Neustadt, in dem das Diamantwegzentrum seinen Sitz hat. Auch unsere Gesprächspartner sind ursprünglich christlich sozialisiert und katholisch aufgewachsen.
Zur Unterscheidung der Religionen verweisen sie auf die unterschiedlichen Transzendenzbezüge: Im Islam ist Gott sehr transzendent, im Christentum ist die mit Jesus die Gottheit mit dem Menschsein verbunden. Im Buddhismus hingegen gebe es keine Transzendenz: Alles ist schon immer göttlich - wir verstehen es nur nicht. Nirvana ist kein anderer Ort, sondern ein anderer Zustand des Geistes. Im Nirvana ist man nicht an irgend einem anderen Ort, sondern nur hier, aber ohne Begrenzungen - weil der Geist dann frei ist. Buddhist werden heißt: Selbsterklärung durch Zufluchtnahme: der eigene erleuchtete Geist wird zum Mittelpunkt gemacht - Gott sind wir selbst, als diejenigen, die (im Geist) diese Welt erzeugen.
Ausstrahlung
Der Diamantweg-Buddhismus bezieht ein Stück seiner Attraktivität aus der Grundregel einer radikalen Selbstverantwortung. Mit maximaler Eigenüberzeugung wird maximaler Entscheidungsfreiraum propagiert: Wir sagen dir, wie die Dinge sind. Du musst selbst die Entscheidungen und Schlussfolgerungen daraus ziehen und die Folgen deiner Entscheidungen tragen. Für das eigene Schicksal jetzt und in künftigen Inkarnationen ist allein das Individuum selbst verantwortlich. „Es gibt keinen, der mir meine Schuld vergibt.“ brachte es einer unserer Gesprächspartner auf den Punkt.
Was aus christlicher Perspektive ein gravierendes Defizit darstellt, klingt hier wie eine Befreiung. Schließlich „befreit“ dieser Buddhismus eben auch von der Annahme eines Gottes, dem ich für mein Leben Rechenschaft geben soll. Das kommt dem modernen Individualismus westlicher Gesellschaften enorm entgegen. Wir wollen gern autonom sein, unabhängig, selbstbestimmt. Wir reden nicht gern von Schuld und Sünde, denn das macht ein schlechtes Gewissen. Im Buddhismus gibt es diese Begriffe nicht. Es gibt nur Ursachen und Folgen.
Vergebung?
Was in der Theorie attraktiv klingen mag, ist aber in der Praxis auch für Buddhisten schwer durchzuhalten. Das Leben hält eben auch für sie genügend Situationen bereit, in denen das eignene Unvermögen nur allzu klar vor Augen steht. Die Erkenntnis eigener Schuld kann die Seele schwer belasten. Aus der Sehnsucht, es möge doch eine spirituelle Hilfe und Unterstützung auf dem Weg zur Erlösung geben, entstand das Konzept der Bodhisattvas. Wo dies aber dazu führt, dass Menschen wie ein Karmapa zu unfehlbaren Wesen und damit gleichsam zu spirituellen Halbgöttern erklärt werden, sind erhebliche Bedenken angebracht.
Wenn Christen auf die Erlösung durch den auferstandenen Christus vertrauen, geben Sie ein Stück ihrer Autonomie ab. Sie verlassen sich nicht mehr auf die eigene Vollkommenheit und nicht auf die Summe der eigenen guten Taten. Das ist nicht so populär. Aber es ist eine enorme Entlastung. Die christliche Verkündigung der Gnade Gottes beschreibt eine grundlegend andere Wirklichkeit als der Glaube an das Karma. Christus ist gewissermaßen der wahre Bodhisattva, der es schaffen kann, den menschlichen Geist zu befreien aus seiner Selbstbezogenheit und ihn für die Begegnung mit dem Absoluten bereit zu machen. Weil er es ist, dürfen wir Menschen bleiben. Das Geschenk der Vergebung wirkt auch nicht erst im nächsten Leben, sondern kann auch schon im Hier und Jetzt das Leben immer wieder neu werden lassen.