Modellprojekt weltoffener Islam?

Erfahrungen aus Marokko

Es ist weithin bekannt und wird in den europäischen Medien oft ausgebreitet, dass in Saudi-Arabien die Wahabiten ein extrem konservatives Verständnis des Islam lehren, welches u.a. islamischen Fundamentalisten ihre geistige Nahrung gibt. Weit weniger bekannt ist hingegen, dass in Marokko der Islam größtenteils ein ziemlich anderes Gesicht trägt. Weltoffen und ernsthaft bemüht, den Anschluss an die europäische Zivilisation nicht zu verlieren, kann man in Marokko eine Form des Islam erleben, die nicht in gängige Klischees passt. In mancher Hinsicht wird man dem marokkanischen Islam sogar einen Modellcharakter zugestehen können, der zeigen kann, wie die Integration des Islam in eine moderne Gesellschaft möglich sein kann. Im Rahmen einer Studien- und Begegnungsreise des Hauses der Kirche in Dresden ergab sich die Möglichkeit, dieses Land und seine Bewohner intensiver kennenzulernen.

Wüste - Hochgebirge - Meer

Zwischen Europa und Afrika


Marokko ist in verschiedener Hinsicht ein Schwellenland. In entwicklungspolitischer Hinsicht steht es an der Schwelle zur modernen Industriegesellschaft. Casablanca und Marrakesch sind große und moderne Städte, wie sie ähnlich auch in Spanien und Griechenland zu finden sind. In den ländlicheren Bereichen, insbesondere in der Sahara, sind hingegen noch sehr traditionell geprägte und überwiegend ärmliche Strukturen vorherrschend. In den Dörfern haben viele Häuser kein Trinkwasser. Frauen holen es vom Brunnen. Ein Programm zur Elektrifizierung bringt allmählich Strom in die Häuser.

In geografischer Hinsicht bildet Marokko die Schwelle zwischen Europa und Afrika. Die Grenzlinie bildet dabei nicht das Mittelmeer, sondern das Atlas-Gebirge. Das ist nicht nur klimatisch entscheidend und in der Vegetation augenfällig, sondern auch in Infrastruktur, durchschnittlichem Bildungsniveau, Wohnverhältnissen und Wohlstand der Bevölkerung spürbar.

Bildung

Offiziell besteht in Marokko Schulpflicht. Allerdings lässt sich diese nur schwer durchsetzen. Immer wieder kann man Kinder sehen, die statt zur Schule zu gehen ihren Eltern bei der Arbeit helfen müssen oder die an den Straßen den Touristen auflauern, um ihnen kleine Dinge zu verkaufen. Die Analphabetenrate weist eine hohe Geschlechterdifferenz auf (Männer 38%, Frauen 64%), wobei zudem ein starkes Nord-Süd-Gefälle zu beachten ist. In den ländlichen Regionen südlich des Atlas-Gebirges sind ca. 80% der Frauen Analphabeten. Die Regierung unternimmt große Anstrengungen, die Bildung der Bevölkerung zu verbessern. Staatliche Schulen und Universitäten sind für die Bürger kostenlos.

Aufgelockerte Verschleierung

Schaut man sich in Marokkos Straßen um, so fällt auf, wie ungezwungen die Marokkanerinnen mit dem islamischen Kopftuch umgehen können. Hand in Hand kann man immer wieder junge Frauen sehen, von denen eine ein Kopftuch trägt, die andere nicht. Berberfrauen tragen ihre traditionellen Kleider, zu denen meist, aber nicht immer eine Kopfbedeckung gehört. In den größeren Städten im Norden kann man auch ganz verschleierte Frauen sehen, die ein zusätzliches andersfarbiges Tuch vor dem Gesicht tragen. Insgesamt ist diese Form der Verschleierung aber eher die Ausnahme als die Regel. Schülerinnen der Hotelfachschule in Erfoud dürfen kein Kopftuch tragen, weil dies in den Hotels nicht akzeptiert würde. Probleme scheint ihnen das nicht zu bereiten. An den Universitäten ist das Bild ebenso bunt gemischt: manche mit, manche ohne. Dies zeigt, dass es vor allem die jeweiligen Familientraditionen und die persönliche Entscheidung der Trägerin ist, ob sie ein Kopftuch trägt oder nicht. Aus Gesprächen mit den jungen Frauen wurde deutlich, dass es vor allem als individuelle persönliche Entscheidung gesehen wird: wer sich berufen fühlt, ein Kopftuch zu tragen, tut es, die anderen nicht. Mitunter konnte man den Eindruck gewinnen, dass das Kopftuch von manchen wie ein modisches Zubehör getragen wird. Starker gesellschaftlicher Druck dazu war jedenfalls in den Städten nicht zu spüren.

Familienrecht

Das aufsehenerregendste Projekt in der Anpassung des Islam an die Moderne ist die Neuregelung des Familienrechtes in Marokko. Durch geduldiges Agieren von Frauenverbänden und eine kluge Politik des jungen Königs Mohammed VI. ist es gelungen, den zeitweise sehr starken Widerstand islamischer Fundamentalisten gegen die Neuregelungen zu überwinden. Das Familienrecht bestimmt die Stellung der Frauen in der Gesellschaft und zeigt in islamisch geprägten Ländern vergleichsweise stark die durch traditionelle arabische Stammesstrukturen geprägte Unterordnung. Um so erstaunlicher ist es, dass Marokko als ein Land in dem der Islam offizielle Staatsreligion ist und ca. 98% der Bevölkerung Muslime sind, nun ein Familienrecht verabschiedet hat, das Frauen eine relativ weitgehende Freiheit und Selbständigkeit zugesteht. Nachdem im Jahr 2000 in Rabat ca. 100 000 Frauen für mehr Gleichberechtigung demonstriert hatten, waren von fundamentalistischen Kreisen 300 000 Frauen zu einer Gegendemonstration in Casablanca zusammengebracht worden. Insofern war der Ausgang des vom König geförderten Projektes durchaus offen. Durch Geduld und Besetzung der Kommissionen mit anerkannten Islamgelehrten und engagierten Frauenrechtlerinnen konnte nach zweijähriger Arbeit dem Parlament ein Gesetzentwurf präsentiert werden, der die Rechtsstellung der Frauen nachhaltig verbessert und dennoch ohne nennenswerten Widerstand auch von islamistischen Kreisen akzeptiert wurde. Entscheidend war wohl auch, dass der König das Gesetz ausdrücklich in seiner Eigenschaft als oberster religiöser Lehrer und Hüter des Islam präsentierte und die einzelnen Bestimmungen aus dem Koran begründet wurden. Spannend wird nun zu beobachten, wie in den nächsten Jahren die Neuregelungen angenommen werden und zu einer tatsächlichen Stärkung der Frauenrechte auch in den ländlicheren Regionen führen. In den Großstädten wie Casablanca und Marrakesch wird dies erwartungsgemäß weniger problematisch sein. Dort sieht man schon seit längerem selbstverständlich Frauen selbst Auto fahren oder auch Polizistinnen an Straßen den Verkehr regeln.

Problem: Religionsfreiheit

Einer der Höhepunkte der Reise auf der Ebene der Begegnungen war ein Empfang in der Universität von Marrakesch und eine Gesprächsrunde mit Professoren verschiedener Fachrichtungen über die Stellung des Islam im Land. Ausführlich betonten unsere sehr freundlichen Gastgeber die religiöse Toleranz in Marokko. Juden, Christen und Muslime könnten friedlich nebeneinander ihre Religion bekennen. Bei genaueren Rückfragen nach der Fassung der Religionsfreiheit wurde allerdings schnell deutlich, dass diese eben nicht wie in Europa als individuelles Grundrecht verstanden wird, das die Möglichkeit des Religionswechsels aufgrund persönlicher Überzeugung einschließt. Statt dessen beschrieben die Professoren Religionsfreiheit als eine Art Gastfreundschaft, welche die freundliche Duldung anderer religiöser Überzeugungen von Gästen einschließt. Für das Individuum gilt, dass wer einmal den Islam mit Überzeugung angenommen hat, ihn nicht mehr verlassen kann. Offen blieb in der sehr lebhaft und mit arabischem Wortreichtum geführten Diskussion freilich, was mit denen ist, die als Muslime geboren sind und nicht als eigenen aktiven Schritt den Islam angenommen haben. Auch die Konsequenzen für den theoretisch ausgeschlossenen, in der Praxis aber durchaus existenten Fall, dass doch ein Muslim zu einer anderen Religion konvertiert, blieben unerwähnt. Statt dessen interessierten sich die Professoren für das Bild des Islam in den westlichen Medien, die Quellen unserer Kenntnis des Islam und andere Dinge. Der Frage nach dem Umgang mit Menschen und Überzeugungen, die im Namen des Islam Gewalt ausüben, wurde lange ausgewichen. Insgesamt hatte das Gespräch einen stark apologetischen Charakter, was angesichts des offiziellen Rahmens aber wenig verwunderlich ist.

Gebetszeiten und Moscheebesuch

Die gelebte Glaubenspraxis sprach ihre eigene Sprache. Das gepflegteste Haus auch in den kleinen Bergdörfern ist in der Regel die Moschee. Deren Bau wird ebenso wie die Anstellung der Vorbeter vom Staat finanziert. Mit dem charakteristischen viereckigen Turm unterscheidet sich der Baustil des Minarettes in Marokko von dem türkisch-osmanischen Stil mit den mehreren Rundtürmen. Regelmäßig zu den Gebetszeiten ruft der Muezzin durch Lautsprecher am Minarett zum Gebet. An der Geschäftigkeit in den Gassen der Händler und der Belebtheit der Straßen ändert dies aber nichts Erkennbares. Wie voll die Moscheen zum Gebet sind, ließ sich leider nicht beobachten, da in Marokko allen Nichtmuslimen verboten ist, eine Moschee zu betreten. Möglicherweise soll damit die für das Gebet erforderliche Ruhe des Ortes vor respektlosen und ständig fotografierenden Touristen geschützt werden, die in Massen durch die engen Gassen der Altstädte streifen. Einzige Ausnahme ist die neu gebaute und bewusst auch als Touristenattraktion vermarktete gigantische Moschee Hassan II. in Casablanca - immerhin die drittgrößte der Welt. Gelegentlich sieht man in einem Park oder auf dem Dach eine Reihe Arbeiter sich hinter einem Vorbeter versammeln. Die offensichtliche Mehrzahl der Einwohner lässt sich aber von den traditionellen Gebetszeiten nicht aus den Alltagsgeschäften reißen. Das bedeutet nicht, das diese keine religiösen Menschen wären. Etliche von ihnen werden ihr Gebet am Abend zu Hause nachholen - der Islam kennt da recht große Flexibilität. Eine wesentlich engagiertere Form der Religionsausübung bleibt aber - wie auch in Deutschland - einer Minderheit der Bevölkerung ein inneres Anliegen.

Die Rolle der Monarchie

Spannend ist auch die Rolle der Monarchie. Als engagierte Befürworter demokratischer Herrschaftsstrukturen brauchte es für unsere Gruppe einen Lernprozess, um einzusehen, dass ein starker König momentan gut für dieses Land sein kann. Die divergierenden Kräfte der verschiedenen Stämme und Ethnien, die verschiedenen Interessenlagen der jeweiligen Regionen und ihr unterschiedlicher Bildungsstand sind noch so stark, dass sie eine reine Demokratie schnell zerbrechen lassen könnten. Die Polizeigewalt im Land ist allgegenwärtig. Als westlicher Tourist muss man darunter nicht leiden, weil der Reisebus alle Straßensperren problemlos passieren konnte. Im Gegenteil: man kann sich über die geringe Kriminalitätsrate freuen und auch allein in den engen Gassen der Souks sicher fühlen. Den Bürgern spürt man aber den großen Respekt vor der Autorität ab. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der gegenwärtige König nicht als selbstherrlicher Despot auftritt, sondern versucht, mit viel Umsicht sein Land auf einen vorsichtigen Kurs der Modernisierung zu bringen. Dass dieser Weg mit großen Problemen verbunden ist, lässt sich an vielen Stellen erkennen. Weil sie aber spüren, dass ihr Land auf einem guten Weg ist, stehen die Bürger und insbesondere die Intellektuellen mehrheitlich hinter dem König und seiner Politik.

Fazit

Das Spannendste in der Beschäftigung mit Marokko ist die Erkenntnis, dass hier ein Land mit politischer Absicht und offensichtlichem Erfolg versucht, Offenheit für westlich-kulturelle Maßstäbe mit einer expliziten Berufung auf den Islam zu verbinden. Der Kontrast wird insbesondere im Vergleich mit dem Nachbarland Algerien deutlich. Dort ging die Öffnung für westliche Werte und Kultur vor allem von säkularisierten und dezidiert religionskritischen Bevölkerungsschichten aus. Verbesserungen der Lebensumstände erschienen jenen nur durch Abwehr des Islam und seiner religiösen Bestimmungen möglich. Durch die Verschiebung der politischen Gewichte nach dem Abzug der Franzosen kamen jedoch Islamisch-fundamentalistische Kreise an die Macht, deren Interesse an Wiederherstellung des Islam folglich zu anti-westlichen Positionen führte und deren Gesetzgebung z.B. viele bereits bestehende Frauenrechte wieder aufhob. Vor diesem Hintergrund scheint der marokkanische Weg eines liberaleren Verständnisses des Islam im Namen des Islam auf lange Sicht der für die Menschen in der Region bessere Weg zu sein. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Beispiel Schule machen kann.

Harald Lamprecht

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/90

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 3/2006 ab Seite 11