Individualismus statt Revival der Religion
Die neue Aufmerksamkeit der Medien für öffentliche Bekenntnisse des Glaubens zeugt nicht von einem Revival der Religion insgesamt. Statt dessen stehen säkulare Interessen dahinter: Das Bedürfnis der Individuen nach Selbstdarstellung und das Interesse der Medien am Extremen. Darauf hat Michaela Schröder in der Berliner taz hingewiesen.
Traditionelle Gemeinschaftsrituale werden keineswegs mehr gesendet oder gesehen, sei es die Gottesdienstübertragung oder das Wort zum Sonntag. Interessant sei lediglich das Besondere, der herausgehobene Einzelne, der vor dem Hintergrund der Religion zum „Event“ wird. Das gelte für Selbstmordattentate wie für das Foto vor dem Sarg des toten Papstes. „Die öffentliche Darstellung der eigenen Glaubenszugehörigkeit gerät zunehmend in Widerspruch zu den ursprünglichen religiösen Normen. So avanciert der Dalai Lama zu einer Art ‚Superstar‘, obgleich dieses Hervorheben von Individualität den Grundpfeilern des Buddhismus widerspricht. Viele muslimische Selbstmordattentäter werden als Märtyrer gefeiert und erlangen namentliche Bekanntheit, obwohl ihr Sterben dem Namen nach als Abwehrkampf gegen eine Kultur geführt wird, die solchen Individualismus propagiert.“ Märtyrer-Videos verkaufen sich im Gaza-Streifen besser als Spielfilme. Der Selbstmordattentäter tritt damit in eine Reihe mit Hollywood-Stars und besetzt die Rolle aus amerikanischen Action-Filmen: der einzelne Held im Kampf für eine bessere Welt. „So dringen die Leitbilder einer von Individualismus und Unterhaltungsindustrie geprägten Gesellschaft auch in jene religiösen Zirkel ein, die dieser Kultur am entferntesten zu stehen scheinen.“
HL / taz 2. 10. 2006