Harry contra Voldemort

Streit um Harry Potter neu entfacht (2001)

Nun ist es soweit: der Harry-Potter-Film ist in den Kinos. Die ersten Vorstellungen sollen bereits um fünf Uhr früh begonnen haben, damit die Potter-begeisterten Schulkinder noch vor Unterrichtsbeginn das Kino stürmen konnten.

Wie bereits beim Erscheinen des vierten Bandes führt auch diesmal der starke Medienrummel um diese Filmpremiere zum Anwachsen der Kritik. Diese kommt vor allem aus betont christlichen Kreisen. Sie richtet sich nicht in erster Linie gegen den Film als solchen oder besondere Details seiner Darstellung, die sehr dicht an der Vorlage orientiert sind. Den meisten Kritikern sind sicherlich die Einzelheiten des Filmes gar nicht bekannt. Die Kritik ist grundsätzlicher und betrifft die Bücher in gleicher Weise. Die grundlegenden Fragen dabei lauten: Ist Harry Potter für Christen geeignet? Oder leiten die Bücher und der Film zum Okkultismus an? Verführen sie dazu, sich mit dem Reich des Bösen einzulassen? Verharmlosen sie die Grenze zwischen Gut und Böse? Führen sie zu „okkulter Belastung“?

Erschwerend kommt hinzu, dass das Zielpublikum relativ jung ist. Während man Erwachsenen noch genügend Urteilsvermögen zutrauen kann, fürchten die Kritiker bei den Kindern um eine unterschwellige Beeinflussung hin zum Bösen.Für diejenigen, welche die genannten Fragen stellen, sind dies wichtige Probleme, denn mit ihnen verbindet sich die Frage nach dem Heil der Seele.

Form und Inhalt

Bemüht man sich um eine Beurteilung der Harry–Potter–Erzählungen aus christlicher Sicht, so kommt man um eine Unterscheidung von Form und Inhalt nicht herum.

Gegen den Inhalt im engeren Sinn ist auch aus christlicher Sicht nichts einzuwenden. Die Harry–Potter–Bücher beschreiben in einer spannenden und dennoch mitunter amüsanten Art ein Grundproblem des menschlichen Daseins: den Kampf zwischen Gut und Böse. Harry Potter steht auf der Seite des Guten, das von der sich wieder ausbreitende Macht des Bösen in Gestalt des finsteren und selbstsüchtigen Magiers Lord Voldemort bedroht wird. Die Autorin schildert das Böse in seiner ganzen Bedrohlichkeit. Das Gespenstische dieser wahrhaft dämonischen Bedrohung steigert sich von Band zu Band. Mitunter wird dies an manchen Stellen für zarte Kinderseelen vielleicht etwas zu drastisch, könnte man einwenden. Dass sie es verharmlosen würde, kann man ihr aber wirklich nicht vorwerfen. Die Fronten werden weder verwechselt noch aufgeweicht.

Differenzierte Urteilsbildung

Es wird aber auch keine simple Gleichsetzung von Hässlichem und Bösem betrieben, im Gegenteil: gerade in der Gestalt des Hagrid und seiner eigentlich abstoßenden, aber von ihm geliebten „Haustiere“ (Drachen, Flubberwürmer, Knallrümpfige Kröter etc.) wird versucht, zu einer differenzierten Wahrnehmung zu führen. Das Böse zeigt sich nicht im Außeren, sondern im Inneren, nicht in biologischen Faktoren wie äußerer Gestalt oder Abstammung, sondern in Gesinnungen und im Verhalten. Dies wird insbesondere in Auseinandersetzung mit den rassistischen Auffassungen des jugendlichen Gegenspielers Malfoy deutlich gemacht. Auf diese Weise regen die Harry–Potter–Bände in einer guten Weise zur Auseinandersetzung mit ethischen Grundwerten an und lassen diese durch die geschickte Erzählweise und die Einbettung in die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen anschaulich werden.

Christliche Erlösungslehre

Als geradezu zutiefst christlich kann im ersten Band die Funktion der Mutter von Harry Potter verstanden werden.
Potter ist als Waisenkind aufgewachsen. Im Verlauf der Erzählung wird allmählich enthüllt, dass seine Eltern in einer Auseinandersetzung mit Voldemort getötet wurden. Dabei hatte es Voldemort eigentlich auf Harry abgesehen. Seine Mutter aber stellte sich dem Bösen in den Weg, woraufhin sie selbst umgebracht wurde. Als Voldemort anschließend auch Harry mit dem tödlichen Fluch vernichten wollte, gelang dies nicht. Der Fluch prallte von Harry ab, hinterließ nur die Zickzack-Narbe auf seiner Stirn, und fiel auf Voldemort zurück, der davon fast vernichtet wurde.
Beachtenswert ist nun die Interpretation dieses Geschehens. Am Schluss des ersten Bandes erläutert Harrys väterlicher Freund, der Schulleiter Dumbledore: „Deine Mutter ist gestorben, um dich zu retten. Wenn es etwas gibt, was Voldemort nicht versteht, dann ist es Liebe. Er wusste nicht, dass eine Liebe, die so mächtig ist wie die deiner Mutter zu dir, ihren Stempel hinterlässt.“ (S. 324) Es war die Liebe der Mutter, die so stark war, dass sie ihr eigenes Leben stellvertretend für ihr Kind als Opfer hingab und so die Macht des Bösen besiegte. Gegen eine solche Liebe ist auch Voldemort, der mächtigste der Magier und Inbegriff des Bösen, machtlos.

Eine solche mitreißende Umschreibung der Grundlagen der christlichen Heilslehre ist selten zu finden. Die Parallelität zu Jesus, der aus Liebe zu den Menschen sich selbst in den Tod gegeben hat, um sie von der Macht des Bösen zu erlösen, ist frappierend – wenn man es wagt, in dieser Handlung christliche Inhalte zu entdecken. Es ist keine einfache Aufgabe, die Notwendigkeit des Todes Jesu für die Erlösung der Menschheit religionspädagogisch zu vermitteln. J. K. Rowling hat es in beeindruckender Weise verstanden, diesen Zusammenhang anschaulich werden zu lassen – freilich ohne direkten Bezug auf Jesus. Es wird auch nicht der Anspruch erhoben, dass diese Liebestat in Konkurrenz zu Jesus treten und für alle Menschen gelten würde. Eine solche Kritik wäre unangebracht. Potter ist kein neuer Messias. Aber er ist geschützt von der Macht, die die Liebe auch über den Tod hinaus behält. So kann sein Schicksal als ein Beispiel dafür, wie die Liebe Gottes auch uns trägt und schützt, verstanden werden.

Formfragen

Zum Problem wird für die meisten Kritiker nicht der bisher geschilderte Inhalt, sondern die Form, genauer gesagt seine Einkleidung in die phantastische Geschichte einer magischen Schule. Harry ist nicht einfach ein normaler Junge, er ist ein Zauberer. Es existiert parallel zur normalen Welt der sogenannten „Muggel“, die nichts von Zauberei wissen und durch deren unvermutetes Auftreten nicht unnötig irritiert werden sollen, eine andere Welt: die Zauberwelt. Diese ist einerseits ein Reich der Phantasie, in dem nicht nur allerlei rätselhafte und ungewöhnliche Pflanzen und Lebewesen vorkommen, sondern auch die Schranken und Begrenzungen der normalen Welt oft auf magische Weise aufgehoben werden können. Autos (und natürlich Besen) fliegen durch die Luft, gebrochene Knochen heilen in Sekundenschnelle und die Menschen in den Bildern bewegen sich – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Andererseits gibt es auch in dieser Zauberwelt die gleichen mitmenschlichen Probleme, die gleichen guten und schlechten Charaktere, die kleinen Freuden und Traurigkeiten eines Schulalltags wie überall. Insofern ist die Zauberwelt auch wieder erschreckend normal. Die Hexen und Magier, die an der Zauberschule in Hogwarts unterrichten, unterscheiden sich in ihren Charakteren nicht von normalen Lehrern. Für die meisten Leser dürften Erinnerungen an die eigene Schulzeit wach werden – sicherlich auch ein Grund für den Erfolg der Bücher.

Die Autorin transportiert mit der Phantasiewelt von Hogwarts keine eigene Weltanschauung. Sie will nicht sagen: seht – so ist die Welt wirklich, ihr habt es nur noch nicht erkannt. Es gibt nicht wenige solcher in diesem Sinn unterschwellig „missionarischen“ Bücher und Filme (z. B. die Romane von Marion Zimmer Bradley). J. K. Rowlings Bücher gehören nicht dazu. Bei ihr ist die Phantasiewelt lediglich eine Folie, auf die die Probleme und Eigenartigkeiten der Menschen eingetragen werden – durch die andere Umgebung leicht verfremdet, aber dennoch wiedererkennbar. Es ist wie in einer Fabel, wo menschliche Verhaltensweisen literarisch in die Tierwelt übertragen werden und in diesem neuen Rahmen amüsanter und bisweilen auch prägnanter beschrieben werden können. So beschreibt Rowlings das Leben, die normalen menschlichen Sorgen und Angste, Wünsche und Hoffnungen, Erfolge und Mißgeschicke ihrer „Helden“ Harry, Ron und Hermine in dem veränderten Rahmen einer magischen Zauberwelt, die zusätzliche Möglichkeiten für witzige aber auch dramatische Elemente schafft. Die Grundprobleme des Menschseins bleiben aber hier wie dort die gleichen.

Als Problem wird empfunden, dass durch die Einkleidung der Handlung in gerade diese Fabelwelt Zauberei und Magie verharmlost werden. Hexen würden zu positiven oder zumindest ganz normalen Wesen und Magie würde als ein brauchbares Mittel zur Bewältigung von Problemen und Schwierigkeiten propagiert. Dies sei eine Gefährdung für die Kinder, da diese so an okkulte und damit teuflische Praktiken herangeführt würden.

Schwarze und weiße Magie

Die Bibel wendet sich in scharfer und eindeutiger Weise gegen Zauberei. Es ist darum in der christlichen Tradition verbreitet, jede Form von Magie mit dämonischer Wirkung gleichzusetzen. Insofern erscheint es vielen engagierten Christen unmöglich, zwischen einer guten, positiven, „weißen“ Magie und dunkler, dämonischer „schwarzer“ Magie zu unterscheiden. In der Tat ist solch eine Unterscheidung auch aus sachlichen Gründen schwierig.
Zum einen ist auch unter gegenwärtig praktizierenden „Magiern“ umstritten, wie die Abgrenzung der weißen von der schwarzen Magie definiert werden kann. Traditionell ist die Herkunft der angerufenen Kräfte entscheidend: sind es Engel oder Dämonen, die der Magier beschwört? Gegenwärtig wird häufiger eine Unterscheidung nach Absicht und Zielrichtung der Handlung vertreten. Weiße Magie wäre demnach ein Einsatz von magischen Mitteln zum Nutzen eines anderen, schwarze Magie hingegen zu seinem Schaden.

Zum anderen wird die Möglichkeit einer solchen Unterscheidung auch von etlichen Anhängern der Magie bestritten. Gerade das letztgenannte Kriterium der Unterscheidung von Nutzen und Schaden ist, von wenigen deutlichen Fällen abgesehen, häufig überhaupt nicht eindeutig anzuwenden, denn was dem einen nützt kann zu eines anderen Schaden geschehen. Der Wirklichkeit des Bösen und seiner auch uns in unseren vermeintlich guten Handlungen immer wieder einholenden Macht wird man mit solchen Unterscheidungen schwerlich gerecht.

Das Problem bleibt bestehen: Harry Potter führt seinen Kampf gegen das Böse mit magischen Mitteln, er bemüht sich offenbar erfolgreich, ein fähiger Magier zu werden, um Voldemort besiegen zu können. Wird dadurch nicht die Magie salonfähig gemacht? Ja und nein. Im Rahmen der Erzählwelt der Bücher ja, aber dieser Bereich gehört zur Form, zur Folie, nicht zum eigentlichen Inhalt.

Aus meiner Sicht entsteht das eigentliche Problem dort, wo die Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität nicht mehr vollzogen wird, wo versucht wird, die magischen Handlungsweisen, die im Buch ihren Platz haben, in der Realität anzuwenden. Um es zu wiederholen: bei J. K. Rowlings ist diese Unterscheidung deutlich herausgestellt. Es besteht aber die Gefahr, dass andere aus ihren Interessenlagen heraus die Potter-Begeisterung nutzen und diese Unterscheidung bewusst übergehen. Die kommerzielle Vermarktung, die eine Überflutung der Kinderzimmer mit Zauberzubehör á la Potter versucht, ist dabei noch das geringere Übel, bleibt doch auch dieses in der Regel Bestandteil der Phantasiewelt. Schwieriger wird es hingegen, wenn aus einem esoterischen Weltbild heraus die positive Nutzbarkeit von magischen Handlungen für die eigene Lebensgestaltung vertreten und dafür Harry Potter als Vorbild hingestellt wird. Dies geschieht leider nicht selten. Man wird solche Vereinnahmungen nicht verhindern können. Wichtig wird darum die Frage, wie man angemessen damit umgehen soll.

Umgang

Wenn man der Meinung ist, dass von Harry Potter eine Gefährdung ausgeht (für alle anderen ist diese Frage irrelevant) stellt sich die Frage nach den besten Möglichkeiten zur Vermeidung und Eingrenzung dieser Gefährdung.

Als häufigste Reaktion kann man Rückzug und Verbot beobachten. Die Kinder dürfen die Bücher nicht lesen, den Film nicht sehen, entsprechende Utensilien nicht besitzen. Auf diese Weise wird versucht, das Übel, das man zwischen diesen Buchdeckeln vermutet, aus dem eigenen Leben herauszuhalten. Dies ist aber die schlechteste der möglichen Reaktionen, denn sie erfüllt ihren Zweck nicht und hat meist ungewollte Nebenwirkungen.

Ein Verbot kann die Kinder nicht von Harry Potter fernhalten – in der Schule, bei den Freunden – an vielen Orten ist er Thema der Gespräche und des Austausches. Wer dort nicht mitreden kann, ist bald gesellschaftlich isoliert oder verschafft sich auf anderem Wege Zugang zu dem – nun besonders begehrenswert erscheinenden – Wissen um den jungen Zauberlehrling. Wenn man nur über andere die Geschichten von Harry Potter erfährt, bekommt man immer auch deren Interpretation mit geliefert. Ob dies immer gut ist, bleibt fragwürdig. Wenn der Kontakt heimlich geschieht, besteht keine Möglichkeit mit den Eltern über die aufwühlenden Erfahrungen bei der Lektüre zu reden. Dies ist ein schweres Problem.

Meine Empfehlung lautet darum: Wenn Sie bemerken, dass Ihr Kind sich für Harry Potter interessiert: lesen Sie selbst die Bücher! Lesen Sie sie selbst oder, wofür einiges spricht, Kapitelweise mit Ihren Kindern zusammen. Dann ergeben sich immer wieder Pausen zum Gespräch, die zur Einordnung des Gelesenen und zur Verarbeitung der Emotionen wichtig sind.

Das erzieherische Ziel sollte sein, die Kinder zum Leben in einer schwierigen Umwelt zu befähigen. Dies erreicht man nicht, wenn man die Schwierigkeiten von ihnen fern hält, sondern nur, wenn man ihnen Hilfen zum Umgang damit vermittelt. Es ist besser, sie kennen Potter von zu Hause, wissen, was gut und was schlecht daran ist, als wenn sie unkritisch von der Potter–Begeisterung ihrer Freunde mitgerissen werden.
Kinder können im allgemeinen gut zwischen Phantasie und Realität unterscheiden. Übertriebene Furch ist sicher fehl am Platz. Man erwartet ja auch nicht dass das Kind, das sich zu Fasching als Indianer verkleidet, fortan sein Leben dem Großen Manitu widmet. Dennoch ist das Gespräch mit den Eltern wichtig.

Die Aufgabe beinhaltet, einerseits nicht in blinde Okkultfurcht zu verfallen und andererseits auch nicht mit einseitig rationalistische Kritik alles Übersinnliche auszuschließen. Die Trennung von Fiktion und (möglicher) Realität verläuft innerhalb der Phantasiewelt – das macht die Auseinandersetzung so schwierig. Aber bei einer Fabel ist es ähnlich: Tiere gibt es sehr wohl, nur reden können sie normalerweise nicht. An die Existenz einer geistlichen Wirklichkeit jenseits der materiellen Welt glauben auch Christen – aber sie ist nicht von Dementoren und Irrwichten bevölkert. Kinder brauchen das Gespräch mit Erwachsenen über ihre Erfahrungen, die ihnen zur Einordnung helfen. Diese Erfahrungen machen sie so oder so, das lässt sich nicht verhindern. Aber wir sollten ihnen gute Gesprächspartner sein können.

Harald Lamprecht, 12/2001

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